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ASIEN/696: Kaschmir - Obama und das Tal der Tränen (Tlaxcala)


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Kaschmir: Obama und das Tal der Tränen

Von Conn Hallinan, 30. November 2010
Übersetzt von Einar Schlereth


Es gibt eine Menge gefährlicher Plätze auf der Welt: Afghanistan, Irak, Libanon, Bolivien, Iran, Palästina, Jemen und Somalia, um nur einige zu nennen. Aber es gibt nur einen Platz, der einen großen Teil des Globus destabilisieren könnte, was mit dem Tod von Dutzenden Millionen Menschen enden könnte. Und doch ist dies aus Gründen der Staatsräson der einzige Platz, über den die Obama-Administration nicht sprechen will: Kaschmir.

Dabei hat diese Region schon zu drei Kriegen zwischen den Atommächten Indien und Pakistan geführt. Und gegenwärtig befindet sie sich mitten in einem ernsten politischen Aufruhr. Und es ist von zentraler Bedeutung für die Reduzierung der Spannungen in Zentral- und Südasien.

Keine dieser Fakten sollte Obama überraschen. Als er 2008 im Wahlkampf stand, hat er explizit nach einer Lösung für Kaschmir gerufen. "Es wird nicht leicht sein, aber es ist wichtig," sagte er Joe Klein vom Time Magazin.


Kaschmirs Bedeutung

Bedenkt man, dass Pakistan und Indien 1999 um Haaresbreite bei dem Kargil-Zwischenfall an einer nuklearen Konfrontation vorbeikamen, dann wird seine Bedeutung deutlich. Laut einer neuen Studie im Scientific American würde ein derartiger Zusammenstoß ungezählte Millionen töten und verstümmeln, die ganze Region mit radioaktivem Abfall verseuchen und auf Teilen der Erde einen "nuklearen Winter" verursachen.

Kaschmir treibt auch sowohl Hindu- als auch moslemische Extremisten in der Region an, die ihrerseits Pakistan und Afghanistan destabilisieren. Der Konflikt hat bereits zwischen 50 000 und 80 000 Menschen getötet, mehrere tausend "verschwinden lassen" und Tausende ins Gefängnis und unter die Folter gebracht; und hat Millionen Kaschmiris einer drückenden Besatzung unterworfen mit Gesetzen, die direkt aus der britischen Kolonialzeit stammen.

Warum also schwieg Pråsident Obama über diesen Punkt, zumal die Konturen einer Lösung seit 2007 vorhanden sind? In einem Kommentar zu Obamas kürzlicher Asienreise sagt der Journalist Robert Kaplan, dass der Besuch in geopolitischer Hinsicht sich "um eine Herausforderung drehte: der Aufstieg Chinas zu Land und zur See". Tatsächlich hat Washington Beijing eine Provokation nach der anderen entgegengeschleudert. Die Vereinigten Staaten haben Japan in seinem jüngstem Streit mit chinesischen Fischerbooten im ostchinesischen Meer kräftig den Rücken gestärkt. Washington hat sich auch in die Spannungen zwischen China und mehreren südostasiatischen Ländern wegen der Spratley- und Paracelinseln eingemischt. Die Vereinigten Staaten und Südkorea haben kürzlich Seemanöver nahe der chinesischen Küste abgehalten, sodann verkündete Washington neue Waffenverkäufe an Taiwan an und neulich auf dem G20 Treffen in Seoul versuchte Obama, die globale Währungskrise Beijing anzulasten.

Obwohl Washington leugnet, irgendwelche Plänse zur "Umzingelung" Chinas mit US-Alliierten zu haben, scheint es genau das zu sein, was es tut, wenn es Indonesien umwirbt, seine Allianz mit Japan verstärkt und neue Militärbasen in Australien errichtet. Aber der Edelstein in seiner anti-chinesischen Krone ist Indien, und Washingten wird alles Mögliche tun, um New Delhi an Bord zu bringen.

Die Obama-Administration hat bereits das 1., 2. und 3. Abkommen der Bush-Administration abgesegnet, das Indien erlaubt, den Atomwaffen-Sperrvertrag zu verletzen. Nicht nur unterläuft dieses Abkommen einen der wichigsten Atomverträge der Welt, sondern Pakistan warnte auch in einem Brief an die Internationale Atom-Energiebehörde und die Nuclear Suppliers Group (Lieferantengruppe) mit 45 Mitgliedern, dass dieses Abkommen "die Chancen eines Atomwaffenwettrennes auf dem Sub-Kontinent zu verstärken droht".

In Indien gab Obama bekannt, dass seine Verwaltung die meisten technologischen Beschränkungen für "Mehrfach-Nutzung" aufheben würde, und Indien erlauben würde, solche Materialien zu kaufen, die zur Verbesserung seiner Armee dienen können. Die USA willigten auch in den Verkauf von Militär-Transport- Flugzeugen für 5.8 Mrd. $ ein. Aber bei all dem mag wohl die Entscheidung, Kaschmir zu umgehen, die gefährlichste und destabilisierendste sein.


Hintergrund des Konfliktes

Die Spannungen um Kaschmir gehen auf 1947 zurück, als Indien und Pakistan entstanden. Damals wurde Kaschmir, überwiegend moslemisch, von einem Hindu-Prinzen regiert, der sich für den Indienanschluss entschied, obwohl nach der britischen Teilungsformel für die beiden Länder, Kaschmir Teil Pakistans werden sollte. Pakistans Antwort, Soldaten nach Kaschmir einzuschleusen, brach einen Krieg vom Zaun, der stärker oder schwächer seit 63 anhält.

Heute ist Kaschmir in die Nördlichen Gebiete und Azad Kaschmir unter Pakistan und das von Indien kontrollierte Kashmir und das überwiegende Hindu-Jammu aufgeteilt. Eine Kontrolllinie trennt die beiden Gebiete.

1989 gab es in Kaschmir eine Revolte, und Pakistan begann, Paramilitärs über die Linie zu schleusen, um indische Streitkräfte anzugreifen. Der Krieg hielt bis 2007 an, als Pakistan und Indien geheime Verhandlungen über Drittkanäle einleiteten. Diese Gespräche endeten, als Pervez Musharraf, der Militärdiktator, der sich in einen Präsidenten verwandelt hatte, die Macht in Pakistan verlor, und militante Jihadis 2009 Mumbai angriffen, wobei 165 Leute umkamen. India behauptete, dass Pakistans Geheimdienst, die ISI, dahinterstecke.


Eine Lösung suchen

So schwierig die Situation in Kaschmir auch zu sein scheint, so meint Steve Coll, dass sie lösbar sei, und das Versäumnis, sie anzugehen, verhängnisvoll wäre. "Der Konflikt ist immer wieder über die Grenzen von Kaschmir hinausgegangen." Coll ist ein ehemaliger Reporter und Redakteur der Washington Post, Autor zahlreicher Bücher über den Nahen Osten und Zentralasien sowie Präsident der New American Foundation [Informationen siehe hier: http://www.antifascistencyclopedia.com/allposts/controlled-left-who-funds-the-new-american-foundation D. Ü.] Es war vormals US-Politik, Kaschmir und Afghanistan als getrennte Probleme zu betrachten, aber, so Coll, "diese Politik stimmt nicht mehr mit den Fakten überein". Muzamil Jaleed von der Zeitung Indian Express stimmt zu, dass die beiden Länder "so eng miteinander verflochten sind, dass Indien und Pakistan jetzt ethnische Spannungen in Afghanistan schüren".

Die gegenwärtige Unruhe in Kaschmir, die schon mehr als 100 Leben gefordert hat, ist etwas ganz anderes als der vergangene Krieg. Es ist eine im wesentlichen gewaltlose Bewegung, die sich fast ausschließlich aus einheimischen Kaschmiris zusammensetzt statt aus Kämpfern aus Pakistan. Einen großen Anteil bilden junge Leute, deren technische Erfahrungen Kaschmirs Widerstand ins Internet gebracht haben. Vor einem Jahrzehnt konnte die indische Armee Kaschmir abriegeln. Heute schaut die ganze Welt zu.

Coll behauptet, dass der Rahmen für eine Beilegung ziemlich einfach sei. Als erstes müsse Indien seine 500 000 Soldaten und Paramilitärs im Zaum halten. Gleichzeitig müsste der drakonische Special Powers Act (Gesetz für spezielle Befugnisse) - ursprünglich geschaffen , um die Opposition gegen die britische Herrschaft in Irland zu zerschlagen und gegenwärtig von den Israelis in den besetzten Territorien benutzt - ad acta gelegt werden. Das Gesetz verleiht den weitverbreiteten Menschenrechtsverletzungen der indischen Behörden praktisch Immunität und erlaubt die Einkerkerung ohne Anklage. Zweitens müsste die Kontrolllinie eine internationale Grenze werden, aber eine durchlässige, um den freien Verkehr für Kaschmiris zu erlauben. Drittens müsste den Bewohnern von Kaschmir und Jammu ein gewisses Maß an lokaler Autonomie gegeben werden.

Und auf lange Sicht sollte das Volk von Kaschmir in der Lage sein, ein Referendum über seine Zukunft abzuhalten. Usprünglich schlug die UNO dies vor, aber zuerst Pakistan und dann Indien haben es abgewürgt, aus Furcht, dass die Bewohner für das eine oder andere Land stimmen würden. Tatsächlich würden die meisten für die Unabhängigkeit stimmen.

Ein autonomes oder selbst unabhängiges Kaschmir ist nicht nur im Interesse der etwa 10 Millionen Menschen, die eines der schönsten - und tragischen - Gebiete der Welt bewohnen, sondern es würde auch dazu beitragen, den Terrorismus in Pakistan und Indien zu entschärfen. Für die Vereinigten Staatn, auf diese Option zu verzichten zugunsten einer bloß vorübergehenden Allianz gegen ein aufsteigendes China, wäre zutiefst kurzsichtig.

Washingtons Schweigen ist keine realistische Option mehr. "Wir verlangen nicht von den USA, Stellung gegen Indien und für Kaschmir zu beziehen," argumentiert Mirwaiz Umar Farooq, der geistige Führer der Kaschmir-Separatisten. "Wir sagen nur, dass es eine allgemeine Erkenntnis gibt, dass Indien und Pakistan zu einem Dialog gebracht werden müssen." Andere Stimmen warnen, dass die indische Repression der gegenwärtigen gewaltlosen Bewegung zu einer bewaffneten Erhebung führen könnte. "Der status quo ist für die Kaschmir nicht tragbar," sagte Sheikh Showkat Hussan, ein kaschmirischer Juraprofessor den Financial Times.

Heute ist Kaschmir ein Tal der Tränen, ein Ort, der einen Atomkrieg provozieren kann, der alle auf der Welt berühren würde. Das muss nicht sein.


Quelle:
Kashmir: Obama and the Vale of Tears
By Conn Hallinan, November 30, 2010
http://www.fpif.org/articles/kashmir_obama_and_the_vale_of_tears
Erscheinungsdatum des Originalartikels: 01/12/2010
Artikel in Tlaxcala veröffentlicht:
http://www.tlaxcala-int.org/article.asp?reference=2889


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Quelle:
Tlaxcala, das internationale Übersetzernetzwerk für sprachliche Vielfalt
Internet: www.tlaxcala-int.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Dezember 2010