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ASIEN/805: China - Das Experiment von Wukan (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2012

China: Das Experiment von Wukan

Von Hendrik Lackner



Das Bild von China, das hierzulande medial gezeichnet wird, ist selten positiv. Doch auch wenn vieles in dem Riesenreich durchaus kritikwürdig ist, es gibt gesellschaftliche Subbereiche, in denen sich Dinge nach vorne entwickeln.


Rechtsstaat, bürgerliche Freiheitsrechte und Gewaltenteilung - das sind nicht die typischen Attribute, die wir dem chinesischen Regierungssystem auf den ersten Blick attestieren würden. Eher erinnern wir uns an das harte Vorgehen der chinesischen Machthaber gegen Bürgerrechtler, Menschenrechtsanwälte und Intellektuelle im Zuge der aufkeimenden Jasmin-Proteste im Frühjahr 2011 oder das plötzliche Verschwinden des international renommierten Künstlers Ai Weiwei im April desselben Jahres. Unvergessen bleibt auch der leere Stuhl, als am 10. Dezember 2010 in Oslo der Friedensnobelpreis an den chinesischen Schriftsteller, Systemkritiker und maßgeblichen Mitverfasser der Charta 08, Liu Xiaobo, verliehen wurde. Liu verbüßt gegenwärtig eine elfjährige Haftstrafe wegen Untergrabung der Staatsgewalt. Auch die Geschehnisse der letzten Wochen um den entmachteten Parteichef von Chongqing, Bo Xilai, sowie den blinden Menschenrechtsaktivisten Chen Guangsheng scheinen weitere Belege für Vetternwirtschaft, Korruption sowie eine unbarmherzige Staatsmacht zu sein.

Die mediale Strahlkraft dieser Bilder ist so gewaltig, dass unserem Blick auf die Wirklichkeit die erforderliche Sehschärfe abhanden zu kommen droht. Denn wir laufen Gefahr, dass wir neben den großen Linien die häufig ebenso interessanten Feinstrukturen nicht mehr hinreichend wahrnehmen. Tatsächlich ist die politische Entwicklung im Reich der Mitte keineswegs so eindeutig negativ, wie die überwiegende öffentliche Medienberichterstattung dies vermuten ließe. Es gibt vielmehr gesellschaftliche Subbereiche, in denen sich die Dinge nach vorne entwickeln, nämlich hin zu mehr politischer Partizipation, zu mehr bürgerlicher Freiheitsbetätigung und zu mehr Rechtsstaatlichkeit. Ein symbolhaftes Ereignis könnte hoffnungsvoll stimmen.


Die mutigen Bürger von Wukan

Wukan ist ein kleines Fischerdorf mit weniger als 20.000 Einwohnern. Es liegt in der Provinz Guangdong im Südosten der Volksrepublik und ist etwa 200 km von Hongkong entfernt. Am 21. September 2011 kam es in Wukan zu einem ersten sogenannten "Massenzwischenfall", wie sie in China mittlerweile ca. 80.000 Mal im Jahr auftreten: Etwa 4.000 Dorfbewohner demonstrierten dagegen, dass korrupte lokale Parteifunktionäre - darunter der seit 40 Jahren amtierende örtliche Parteichef - dem Kollektiv gehörendes Land ohne dessen Zustimmung, d.h. unter Verstoß gegen geltendes Recht, an Immobilienfirmen veräußert und sich dabei persönlich bereichert hatten. Auf den abgepressten Flächen sollten Luxuswohnungen und Villen für vermögende Stadtbewohner gebaut werden.

Derartige Bodenkonflikte, die sich neben der illegalen Landnahme auch auf die - häufig entschädigungslose - Enteignung von Immobilien und deren Zwangsabriss erstrecken, stellen eines der gravierendsten sozialen Probleme im heutigen China dar. Ursache dafür ist vor allem der stetig anhaltende Urbanisierungsdruck, der mit einer gewaltigen Nachfrage nach Bauland einhergeht. Auf die Immobilienwirtschaft entfallen mittlerweile 13% des chinesischen Sozialprodukts. Dazu kommt, dass der Verkauf von Landnutzungsrechten mit 46% Budgetanteil die zentrale Einnahmequelle chinesischer Lokalverwaltungen darstellt. Hohe Schmiergeldzahlungen machen derartige Bodengeschäfte für viele der örtlichen Parteikader außerordentlich verlockend, zumal effektiver Rechtsschutz vor chinesischen Gerichten aus zwei Gründen in der Regel nicht zu erlangen ist: Erstens genießen chinesische Richter keine richterliche Unabhängigkeit in dem Sinne, wie sie für uns selbstverständlich ist; vielmehr wird in der Justiz weiterhin ein Herrschaftsinstrument zur Sicherung und Durchsetzung des Machtmonopols der Partei gesehen. Zum anderen sind die örtlichen Gerichte von den Lokalverwaltungen abhängig, haben diese doch über die Finanzausstattung der Gerichte zu entscheiden. Es sind im Zweifel also dieselben Parteikader, die an dubiosen Immobiliengeschäften mitwirken und gleichzeitig durch gezielte Einflussnahme ein Eingreifen der örtlichen Gerichte zu verhindern wissen. Statt die Gerichte anzurufen, ziehen es chinesische Bürger aus rechtskulturellen und auch traditionellen Gründen häufig vor, sich mit Petitionen an übergeordnete oder zentrale Regierungsstellen zu wenden, wenn sie sich in ihren Rechten verletzt fühlen. Auch hier hat es jedoch in der Vergangenheit rechtsstaatliche Exzesse gegeben: Zahlreiche Lokalregierungen haben Petenten, die sich auf den Weg in die Provinzhauptstädte oder nach Peking gemacht haben, auf dem Weg abgefangen und sie in Polizeihaft genommen oder in Arbeits- oder Umerziehungslager eingewiesen. Als letztes Ventil, um Druck abzulassen und Unmut zu artikulieren, bleibt deshalb häufig nur die Straße. Selbst kleinere Demonstrationen arten schnell in allgemeine Massenproteste aus, welche die zuständigen Verantwortlichen in doppelter Hinsicht vor enorme Schwierigkeiten stellen: Zum einen können Massenproteste, die eskalieren, unbeherrschbar werden, weshalb die Interventionsschwelle für polizeiliche Großeinsätze eher niedrig ist. Zum anderen hat die Bewahrung sozialer Stabilität und Harmonie für die zentralen Machthaber in Peking oberste Priorität. Für lokale Kader, die beim Management sozialer Konflikte keine Erfolge vorweisen können, ist ein weiterer Aufstieg auf der Karriereleiter in Staat und Partei schnell beendet. Wegen dieser besonderen Motivlage werden Demonstrationen häufig schon im Keim zu ersticken versucht.

Auch in Wukan begannen die Proteste nach tradiertem Muster. Die Polizei ging zunächst hart gegen die Demonstranten vor, die seit September 2011 über mehrere Wochen hinweg öffentlich gegen die umstrittenen Grundstücksgeschäfte protestiert hatten. Nachdem Parteikader und Polizei aus dem Ort vertrieben worden waren, wurde Wukan über einen längeren Zeitraum vollständig von Demonstranten kontrolliert. In ihren täglichen Massenkundgebungen betonten die "Aufständischen" immer wieder ihre grundsätzliche Loyalität zur Kommunistischen Partei, forderten aber die Einhaltung der bestehenden Gesetze und das Ende von Willkür und Vetternherrschaft. Mitte Dezember 2011 verhaftete die Polizei sodann mehrere "Rädelsführer", darunter Xue Jinbo, der unter ominösen Umständen während der Haft - angeblich an Herzversagen - verstarb. Sein Leichnam soll mit zahlreichen Blutergüssen versehen gewesen sein, so dass die Angehörigen davon ausgehen, er sei von Polizisten zu Tode geprügelt worden.

Trotz anfänglicher Zensurmaßnahmen erregte die Dorfbesetzung von Wukan große Aufmerksamkeit auf chinesischen Internetseiten. Insbesondere auf zahlreichen Blogs wurde der Vorfall ausführlich diskutiert. Allein auf Sina Weibo - dem chinesischen Pendant zum amerikanischen Twitter - finden sich über eine Million einschlägige Einträge. Unzählige Solidaritätsbekundungen lassen erahnen, dass Wukan über bisherige Massenzwischenfälle qualitativ weit hinausgeht. Wukan hat das Potenzial, als Symbol und Kristallisationspunkt für ein couragiertes und friedliches Aufbegehren gegen massenhaftes Unrecht bei Grundstücks- und Immobiliengeschäften Geschichte zu schreiben. Von Wukan könnte der unüberhörbare Ruf nach mehr demokratischer Teilhabe, nach mehr Rechtsstaatlichkeit und weniger Willkürherrschaft ausgehen.

Auch höhere Parteiführer haben sich von dem erstarkten Selbstbewusstsein der Demonstranten von Wukan offensichtlich beeindrucken lassen, haben sie doch versprochen, deren Forderungen weitgehend zu erfüllen. Neben Straffreiheit und Ablösung der ehemaligen Dorfkader wurde in intensiven Verhandlungen unter Leitung von Zhu Mingguo, dem stellvertretenden Parteichef der Provinz Guangdong, zugesagt, die kritisierten Bodengeschäfte rückgängig zu machen und künftig für uneingeschränkte Transparenz sowie die Einhaltung rechtsstaatlicher Verfahrensgrundsätze sorgen zu wollen. Dass die gemachten Zusagen offenbar ernst gemeint sein könnten, zeigt sich nicht zuletzt an folgendem Umstand: Lin Zulian, einer der Wortführer der Protestbewegung, wurde am 15. Januar 2012 auf einer Parteimitgliederversammlung zum örtlichen Parteisekretär von Wukan bestimmt. Auch demokratische Wahlen zur Bildung eines neuen Dorfkomitees haben zwischenzeitlich in Wukan stattgefunden.

Die Dorfbesetzung von Wukan hat auch innerhalb der chinesischen Führungsschicht einen ungewöhnlich offenen und öffentlich geführten Diskussionsprozess ausgelöst. Dieser Meinungsaustausch führt vor Augen, wie intensiv innerhalb der Kommunistischen Partei um die künftige strategische Ausrichtung gerungen wird. Angesichts des im nächsten Jahr bevorstehenden Führungs- und Generationenwechsels ist schwer abzuschätzen, ob das Eingehen auf die Forderungen der Dorfbesetzer von Wukan nur als taktisches Manöver, oder als echte strategische Weichenstellung zu verstehen ist.

Zwei im Internet veröffentlichte Debattenbeiträge sollen abschließend und stellvertretend für die progressiven Strömungen innerhalb der chinesischen Nomenklatura besonders hervorgehoben werden: Zum einen äußerte sich mit Hu Deping der älteste Sohn des früheren KP-Generalsekretärs Hu Yaobang, dessen Tod im April 1989 die Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking auslöste. Hu sieht in Wukan die Chance, die chinesische Gesellschaft künftig stärker auf demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen aufzubauen. Insofern könne sich die Nation ein Beispiel an Wukan nehmen. Zum anderen nahm Wu Si Stellung. Er ist Herausgeber der angesehenen Zeitschrift Yanhuang Chunqiu, einem monatlich erscheinenden Parteiorgan, das für seine durchaus regierungskritischen Analysen bekannt ist. Wu fordert in seinem Beitrag einen echten Paradigmenwechsel. Konflikte sollten in Zukunft auf rechtsstaatlicher Grundlage, und gestützt auf bürgerliche Freiheiten, von unabhängigen Gerichten entschieden werden.

Wenn die Geschehnisse in Wukan dazu beitragen könnten, dass fortschrittliche Stimmen wie die von Hu und Wu in der chinesischen Gesellschaft sowie in der politischen Klasse Chinas mehrheitsfähig werden, wäre für die Menschen in China viel gewonnen. Der Wunsch nach mehr Recht und Freiheit für China sowie nach schrittweiser Demokratisierung hat einen Namen: Wukan.


Hendrik Lackner (*1974) ist Professor für Öffentliches Recht der Hochschule Osnabrück und Research Fellow am Center for German Public Law China University of Political Science and Law (CUPL), Peking.
(lackner@wi.hs-osnabrueck.de)

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2012, S. 22-25
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2012