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ASIEN/891: Afghanistan - Präsidentschaftskandidaten setzen auf die ethnische Karte (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 3. April 2014

Afghanistan: Präsidentschaftskandidaten setzen auf die ethnische Karte

von Giuliano Battiston


Bild: © Giuliano Battiston/IPS

Junge Mädchen vor einem Gesangsauftritt zu Ehren des Präsidentschaftskandidaten Gul Agha Schersai in der nordafghanischen Stadt Kundus
Bild: © Giuliano Battiston/IPS

Kabul, 3. April (IPS) - Bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in Afghanistan werden sich die Wähler vor allem von ethnischen Kriterien leiten lassen. Die Kandidaten haben entsprechend vorgesorgt, indem sie den potenziellen Vizepräsidenten in ihrem Strategiespiel eine wichtige Rolle zuweisen.

Am 5. April sind zwölf Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, den Nachfolger von Präsident Hamid Karzai zu bestimmen, dem die Verfassung des Landes eine dritte Kandidatur untersagt.

Eröffnet wurde der Wahlkampf am 2. Februar, doch noch immer ist es schwierig vorherzusehen, wer als nächster in den 'Arg', den Präsidentenpalast in Kabul, einziehen wird, in dem Karzai seit dem Sturz der Taliban 2001 regiert.

Paschtunen bilden die größte ethnische Gruppierung in Afghanistan. Sie stellen zwischen 40 und 60 Prozent der Bevölkerung. Danach folgen die die Tadschiken, Hazara und Usbeken. Genaue Daten fehlen. Außerdem gibt es Überlappungen.

Von den insgesamt acht Anwärtern werden drei die höchsten Chancen auf einen Sieg eingeräumt. Zum einen ist da Ashraf Ghani Ahmadzai, ein ehemaliger Weltbankmitarbeiter und Ex-Finanzminister, zum anderen Abdullah Abdullah, ein früherer Außenminister und prominenter Anführer der Taliban-feindlichen Nordallianz, der Karzais Hauptrivale bei den umstrittenen Wahlen von 2009 war.

Der Dritte im Bunde ist Zalmai Rassoul, der acht Jahre lang der nationale Sicherheitsberater des scheidenden Präsidenten war und seinem Land von 2010 bis 2013 als Außenminister diente. Seine Kandidatur wird von Karzai unterstützt.

Im zurückliegenden Wahlkampf ist viel versprochen worden - vom Wiederaufbau der fragilen Wirtschaft, über die Wiederbelebung des Friedensprozesses mit den bewaffneten Oppositionsgruppen bis hin zu Maßnahmen, die dem kriegszerrissenen Land Sicherheit bringen sollen. Doch vor allem setzen die Kandidaten auf die ethnische, sprachliche oder religiöse Karte.


"Kandidaten fehlt politische Legitimität"

Dafür gibt es nach Ansicht von Hamidullah Zazai, Geschäftsführer der 'Mediothek Afghanistan', einer Organisation, die sich für Pluralismus in den Medien einsetzt, einen ganz einfachen Grund: "Ihnen fehlt jegliche politische Legitimität."

"Einer der Herausforderer hat gesagt, 'Ich bin der Vertreter der Tadschiken. Ihr Tadschiken müsst mich deshalb wählen'. Ein anderer hat erklärt, 'Ich vertrete die Paschtunen. Ihr Paschtunen müsst mir deshalb eure Stimme geben'. Der ethnische Aspekt verdeckt alles, was wichtig ist: Programme, Ideen und Pläne für unsere Zukunft, die nach wie vor ungewiss sind."

Laut Aziz Rafiee, Leiter des Afghanischen Forums der Zivilgesellschaft, gibt es fünf Faktoren, die im letzten Wahlkampf eine Rolle spielten: die Ethnizität, die Regionalität, die Sprache, die religiöse und die politische Zugehörigkeit. "Von diesen fünf Trenn- und manchmal überlappenden Linien ist die Ethnizität für viele Wähler die wichtigste."

Um sich eine größere Anhängerschaft zu sichern, haben sich die Kandidaten auf eine besondere Strategie verlegt. Zalmai Rassoul, der als schwacher Herausforderer gilt, hat als Anwärter für die Vizepräsidentschaft den Tadschiken Ahmad Zia Massoud vorgesehen, den Bruder von Ahmad Schah Massoud und 2001 ums Leben gekommenen charismatischen Kommandanten der Nordallianz. Des Weiteren versucht er mit der ethnischen Hazara Habiba Sarabi zu punkten, einer ehemaligen Gouverneurin der Provinz Bamiyan.

Rassoul spricht nicht fließend Paschtunisch und wird von vielen Afghanen nicht als "echter Paschtune" anerkannt. Er hat begeistert angekündigt, die Unterstützung von Qayum Karzai zu besitzen, dem ältesten Bruder des Präsidenten mit einer großen Anhängerschaft im von Paschtunen dominierten Süden Afghanistans. Zudem wird er von Nader Naeem unterstützt, dem Sohn von Mohammed Zahir Shah, dem letzten König Afghanistans von 1933 bis 1973.

Abdullah hat tadschikische und paschtunische Vorfahren, wird aber vor allem wegen seiner prominenten Rolle innerhalb der von Tadschiken dominierten Nordallianz als Tadschike betrachtet. "Mit der Wahl des Paschtunen Mohammad Khan zu seinem möglichen Stellvertreter hat er eine interessante Wahl getroffen", meint Fabrizio Foschini vom Netzwerk Afghanischer Analysten. "Mohammad Khan gehört dem politischen Arm der Hezb-e-Islami-Partei an, und mit seiner Hilfe kann Abdullah seine Schwäche im Süden und Südosten des Landes wettmachen."

Dennoch hält Foschini vor allem Abdullahs Vize-Präsidentschaftskandidaten Mohammed Mohaqeq, einem Hazara, der im Landesinnern eine Vielzahl von Wählerstimmen einsammeln kann, für das stärkste Zugpferd.

Einigen Prognosen zufolge hat Abdullah an Boden verloren, Ahmadzai hingegen an Terrain gewonnen. "Ghani (Ahmadzai) hatte den genialen Einfall, Abdul Rashid Dostum als Vizepräsidenten auszuwählen", sagt Foschini. "Während die Hazara- und Tadschiken-Wählerschaft extrem fragmentiert ist, werden die Stimmen der Usbeken fast komplett an Dostum gehen. Vor Ghanis Wahl hätte niemand gedacht, dass ein Usbeke das Amt des Vizepräsidenten anstreben könnte."


Entschuldigung eines mächtigen Warlords

Um als Kandidat anerkannt zu werden, war der Usbeke Abdul Rashid Dostum, ein in den 1990er Jahren mächtiger Warlord aus dem Norden und Gründer der Partei Jombesh - Nationale Islamische Bewegung Afghanistans - von Ghani aufgefordert worden, sich für seine in der Vergangenheit begangenen Verbrechen zu entschuldigen. "Und das war eine Revolution", meint Mir Ahmad Joyenda, ein ehemaliger Abgeordneter und nun Vizedirektor der Afghanischen Einheit für Forschung und Evaluierung, einer Nichtregierungsorganisation in Kabul.

Auch wenn die Ethnizität über die nächsten Wahlen entscheiden wird, nach Ansicht von Joyenda verliert sie vor allem in den Städten zunehmend an Bedeutung. So gebe es immer mehr Menschen, vor allem junge, für die das Programm der Kandidaten das entscheidende Kriterium ist, sie zu wählen."

Rafiee ist der gleichen Meinung. "Wir können sagen, dass Afghanen im Vergleich zu 2005 und 2009 inzwischen politischer agieren. Die Menschen werden nicht zu 100 Prozent ethnischen Überlegungen folgen." Daran hatte die Zivilgesellschaft einen entscheidenden Anteil. Sie hatte Kandidaten genötigt, ihre Positionen klar zu umreißen." (Ende/IPS/kb/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/04/afghans-set-vote-ethnic-lines/

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IPS-Tagesdienst vom 3. April 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. April 2014