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ASIEN/906: Pakistan - Ethnische Säuberungen im "Land der Reinen" (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 4. Juli 2014

Pakistan: Ethnische Säuberungen im 'Land der Reinen'

von Zofeen Ebrahim


Bild: © Altaf Safdari/IPS

Hazara-Proteste gegen die Gewalt gegen ihre Ethnie
Bild: © Altaf Safdari/IPS

Karachi, 4. Juli (IPS) - Vor zwei Jahren überlebte der 24-jährige Quwat Haidar in der südwestpakistanischen Provinz Belutschistan einen Anschlag auf einen Bus. "Eine solche grauenhafte Erfahrung würde ich meinem ärgsten Feind nicht wünschen", sagte der Angehörige der Volksgruppe der Hazara, die zur Zielscheibe ethnischer Säuberungen geworden sind.

Am 18. Juni 2012 waren er, seine Schwester und seine drei Cousins wie üblich in den 7:45-Bus eingestiegen, der zur Belutschistan-Universität für Informationstechnologie und Betriebswissenschaft in der Provinzhauptstadt Quetta fährt. "Ich erinnere mich nur noch, dass ich mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Dann wurde ich ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, hörte ich um mich herum Schreie. Benommen stand ich auf und verließ wie alle anderen Fahrgäste den Bus."

Wie durch ein Wunder erlitten er und seine Angehörigen keine gravierenden Verletzungen. Doch andere hatten weniger Glück. Von den etwa 70 Hazara-Studenten, die sich an diesem Morgen an Bord des Busses befanden, starben vier an Ort und Stelle, während Dutzende schwer verletzt wurden. Der Anschlag ist nur einer von Hunderten, die sich gegen die 956.000 Mitglieder der schiitischen Minderheit richten, von denen 600.000 in Quetta leben.


Zum Tode verurteilt

'Human Rights Watch' (HRW) hat in einem neuen Bericht mit dem Titel 'We Are the Walking Dead: Killings of Shi'a Hazaras in Balochistan, Pakistan' die seit 2010 begangenen systematischen Übergriffe auf die Minderheit dokumentiert. Demnach waren ein Viertel der 450 Schiiten, die 2012 in Pakistan getötet wurden, ethnische Hazara aus Belutschistan. Sie stellten im Jahr darauf sogar die Hälfte der 400 schiitischen Opfer.

Den Hazara wird nicht nur ihre religiöse, sondern auch ihre ethnische Zugehörigkeit zum Verhängnis. Die Nachfahren von Mongolen, die an den Feldzügen von Dschingis Khan teilgenommen hatten, werden in Pakistan ähnlich brutal angegangen, wie die afghanischen Hazara zu Zeiten der Taliban-Schreckensherrschaft von 1995 bis 2001.

Vor 120 Jahren, nach ihrer Flucht aus Afghanistan vor sunnitischen Paschtunenvölkern, waren sie zunächst in Pakistan freundlich aufgenommen worden. Einigen gelang es sogar, in einflussreiche Positionen aufzurücken. Doch mit den Jahren wurde den Minderheiten in dem südasiatischen Land jede Entfaltungsmöglichkeit erschwert.

Inzwischen hat sich die Lage für die Hazara weiter verschlechtert. Nach Angaben von Brad Adams, dem Asien-Direktor von HRW, können sie sich nirgendwo mehr frei bewegen, ohne fürchten zu müssen, einem Attentat zum Opfer zu fallen. Pilger wurden bereits auf dem Weg in den Iran aus Bussen gezerrt und am Straßenrand hingerichtet, Familien auf Marktplätzen während religiöser Prozessionen in die Luft gesprengt, andere auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule angegriffen und einige während des Gebets in den Moscheen abgeschlachtet. "Das Versagen der Regierung, diesen Anschlägen ein Ende zu setze, ist schockierend und inakzeptabel", so Adams.

Zu den Verbrechen hat sich die Lashkar-e-Jhangvi (LeJ) bekannt, eine verbotene militante Gruppe sunnitischer Fundamentalisten, die Berichten zufolge enge Beziehungen zur Al Qaeda und zur ebenso verbotenen 'Tehreek-e-Taliban Pakistan' (TTP) unterhalten. Die LeJ brüstet sich damit, ein erklärter Feind der schiitischen 'Ungläubigen' zu sein.


Ausrottung als Programm

2011 war in Mariabad, einem Hazara-Viertel in Quetta, ein Schreiben in Umlauf gebracht worden, in dem es hieß: "Pakistan bedeutet Land der Reinen, und die Schiiten haben kein Recht, hier zu sein. [...] Unsere Aufgabe ist es, diese unreine Sekte und deren Mitglieder, Schiiten und schiitische Hazara, aus allen Städten, Dörfern, aus jeden Winkel und jeder Ecke Pakistans zu beseitigen."

Getreu dieser Botschaft hat die Gruppe unzählige Massaker angerichtet, darunter zwei Bombenanschläge in Quetta im Januar und Februar letzten Jahres, die 180 Menschen das Leben kosteten. Bei dem ersten Attentat, bei dem zwei Sprengsätze hintereinander gezündet wurden, starben in einem Billiardclub 96 Menschen, weitere 150 wurden verletzt. Das Verbrechen löste landesweite Proteste der Solidarität mit den Familien in Quetta aus, die sich weigerten, ihre Toten zu bestatten. Drei Tage später sah sich die Regierung zur Auflösung der Provinzregierung und zur Übernahme der Regierungsgeschäfte gezwungen.

Bild: © Altaf Safdari/IPS

Begräbnis der Opfer eines Erschießungskommandos in Quetta, der Hauptstadt der pakistanischen Provinz Belutschistan
Bild: © Altaf Safdari/IPS

Quwat Haiders Wohnung befindet sich in der Nähe der Unglücksstelle vom 10. Januar. Er habe großes Glück gehabt, nicht zu den Opfern zu gehören. "Als ich die Detonation hörte, wollte ich eigentlich dorthin, um zu helfen. Doch dann musste ich meine Mutter von irgendwoher abholen. Andernfalls wäre ich jetzt tot", sagt er und meint den zweiten Sprengsatz, der die Menschen zerfetzte, die den Opfern des ersten Anschlags helfen wollten. Haider fand sich später an Ort und Stelle ein, um nachzusehen, ob sich Verwandte unter den Opfern befanden. "Überall sah ich Leichen, kopflose Körper, Gliedmaßen, Hände. Es war furchtbar", sagte er.

Am 8. Juni 2014 wurden 30 Schiiten auf dem Rückweg von einer Pilgerfahrt bei einem koordinierten Selbstmordattentat in Taftan, einem entlegenen Teil Belutschistans nahe der iranischen Grenze, in die Luft gesprengt. Daraufhin verhängte der pakistanische Innenminister Chaudhry Nisar Ali Khan ein Verbot, die Straße in den Iran zu benutzen und empfahl den Pilgern das Flugzeug zu nehmen. Zur Begründung hieß es, dass es unmöglich sei, die 800 Kilometer lange Straße von Quetta bis Taftan zu sichern.

Zohra Yusuf, Vorsitzende der unabhängigen Pakistanischen Menschenrechtskommission (HRCP) kritisierte die Äußerungen des Ministers als "unsensibel". Nicht jeder könne sich einen Flug leisten, meinte sie. Das Problem müsse dadurch gelöst werden, dass rigoros gegen die Terrorgruppen in Belutschistan und anderswo vorgegangen werde. Die Bewegungsfreiheit der Gewaltopfer einzuschränken, sei nicht die richtige Antwort.

Menschenrechtsaktivisten werfen der Regierung vor, sich nach solchen Verbrechen immer nur darauf zu beschränken, ihr Bedauern auszudrücken. Doch Verdächtige würden nicht verhaftet und die Täter nicht zur Rechenschaft gezogen.

Yusuf war Teil der im Mai 2012 nach Quetta entsandten Untersuchungskommission. Die Gespräche mit den damaligen Gouverneur und dem Regierungschef des Bundesstaates seien eine herbe Enttäuschung gewesen, erläuterte sie "Zwar bestätigten beide die Verfolgung [der Hazara], doch hatten sie auf die Frage, warum sie nichts gegen die LeJ unternehmen, keine Antwort."


Massaker unter den Augen der Militärs

Einst war Quetta eine friedliche Stadt. Dass das vorbei ist, zeigen die vielen Soldatenquartiere und militärischen Kontrollposten. Mehr als 1.000 Soldaten des Belutschistan-Grenzkorps, einer paramilitärischen Einheit aus 27 Zügen, patrouillieren gemeinsam mit Polizisten die Straßen. "Dass die Anschläge unter den Augen der pakistanischen Armee stattfinden, macht die Lage der Hazara noch verzweifelter", meint Ambreen Agha, Wissenschaftlerin am Institut für Konfliktmanagement im indischen Neu-Delhi.

Viele versuchen sich der Gewalt durch Flucht zu entziehen. Die HRCP schätzt die Zahl der Hazara, die Pakistan im letzten Jahr verlassen haben, auf 30.000. Tausende Menschen sind bereit, Schleppern Unsummen zu bezahlen, um über oftmals gefährliche Seerouten nach Australien oder Europa zu gelangen.

"In Pakistan sind wir nirgendwo mehr sicher", sagt Quwat Haider. Doch anders als sein Bruder, der vor vier Jahren das Land verlassen hat, will er vorerst bleiben. "Hier gibt es nur noch mich und meine Schwester. Wenn ich gehe, wer versorgt dann unsere Eltern?" (Ende/IPS/kb/2014)


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http://www.ipsnews.net/2014/06/ethnic-cleansing-goes-unpunished-in-the-land-of-the-pure/

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IPS-Tagesdienst vom 4. Juli 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juli 2014