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ASIEN/913: China - Gespräch mit Yu Keping zur Zukunft der Kommunistischen Partei (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 144/Juni 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Eine Partei soll smart werden
Ein Gespräch mit Yu Keping über die Zukunft der Kommunistischen Partei Chinas

Von John Keane



"Wenn Sie wissen wollen, wie es um die Zukunft der Welt bestellt ist", sagt Yu Keping, während er grünen Tee in einen großen roten Becher einschenkt, "versuchen Sie, China zu verstehen." Er hält ein paar Sekunden lang effektvoll inne. "Und wenn Sie wissen wollen, wie China tickt, versuchen Sie, die Kommunistische Partei Chinas zu verstehen."

Mit diesem Rat, der sich so anfühlt, als hätte mir jemand kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet, fing Ende März 2014 meine Frühstücksverabredung mit einem der einflussreichsten Intellektuellen Chinas an. Yu Keping ist berühmt. Obwohl er darauf achtet, sich von Medien und Journalisten fernzuhalten, ist er mittlerweile das, was die Chinesen einen öffentlichen Meinungsführer (yú lùn ling xiù) nennen. In der englischsprachigen Welt hat er in dem boomenden Zweig der China-Beobachtung Bekanntheit erlangt - und das zu Recht. Der intelligente, bescheidene und gut vernetzte Yu ist ein Mann mit wenig Zeit und sehr genauer Wortwahl.

Wir haben eine Stunde Zeit, daher halten wir uns nicht lange mit Smalltalk auf, sondern kommen direkt auf das verabredete Thema zu sprechen: die in China seit dem 18. Parteikongress stattfindende, intensive Debatte über die Prioritäten der Kommunistischen Partei und die verkündete Notwendigkeit einer "Vertiefung der Reformen". Was genau bedeuten all diese Hinweise auf Reformen, frage ich ihn - ist das bloßes Gerede? "Das Hauptanliegen der Kommunistischen Partei ist es, durch Förderung des Wirtschaftswachstums die Lebensqualität der Chinesen zu verbessern", antwortet er. "Obwohl China heute die zweitgrößte Volkswirtschaft auf der Welt ist, bleibt die Qualität unseres Wirtschaftswachstums weit hinter der des Westens zurück." Er fügt hinzu: "Die Durchsetzung von mehr Gleichheit und Gerechtigkeit zählt zu den obersten Zielen der Reform. Das halsbrecherische Tempo des ökonomischen Wachstums während der letzten Jahrzehnte hat die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Und die Kluft wird immer noch größer. Aus diesem Grund will die Partei neue Richtlinien zur Besteuerung und Umverteilung in Kraft setzen."

Yu Keping fährt fort: "Der Umweltschutz ist ebenso unabdingbar. Ein trauriger Begleitumstand von Chinas bemerkenswertem Wirtschaftswachstum sind die Umweltschäden. Ich lebe in Peking, und dort ist die Luft voll mit giftigem Feinstaub. Dann ist da noch die Verknüpfung von Korruption und sozialer Stabilität. Der Wandel Chinas vollzieht sich rasend schnell. Es gibt unzählige Herausforderungen und soziale Spannungen." Aber welche gesellschaftlichen Konfliktlinien sind am gravierendsten, frage ich. Yu weicht nicht aus, als ich ihn nach den schweren Konflikten in Xinjiang und Tibet frage und nach den tiefgreifenden Spannungen zwischen den lokalen Parteifunktionären und der lokalen Bevölkerung. "Am wichtigsten sind die Spannungen zwischen Wirtschaftsentwicklung und sozialer Gerechtigkeit", antwortet er. "Die Konflikte zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz, zwischen sozialer Stabilität und politischer Demokratie, zwischen den Rechten des Einzelnen und dem Allgemeinwohl und zwischen dem chinesischen Modell und universellen Werten."

Das klingt vertraut, so als stamme es aus Parteibroschüren jüngeren Datums. Ich dränge Yu, etwas genauer zu sagen, wohin die Partei gehen will. In den letzten Monaten hat Yu öffentlich eine "Modernisierung" der Ausbildung für Parteikader gefordert. Da die Kommunistische Partei - "eine elitäre Avantgarde-Partei", sagt mein Gegenüber - alleine regiert und die gesamte politische Macht in China in der Hand hat, hängt erfolgreiches Regieren stark davon ab, was unterrichtet wird: an Parteischulen und "Akademien der Regierungsführung", in Kader-Trainingsprogrammen, bei Maßnahmen der Kader-Ausbildung im Ausland und an Hochschulen wie der Tsinghua Universität. Yu sagt, er sei dafür, "die Unterrichtsinhalte zu stärken", und zwar korrelierend mit den "Anforderungen der Wissensökonomie und des Informationszeitalters". "In der Vergangenheit", fügt er hinzu, "ging es bei der Ausbildung von Führungskräften vor allem um die Indoktrinierung von Funktionären. Dieses System ist überholt. Wir müssen es nun landesweit verbessern und stärker professionalisieren."

Nun spiele ich ironisch provozierend den Advocatus Diaboli: sein Ruf nach einer "sich selbst reinigenden" und "sich selbst vervollkommnenden" Kommunistischen Partei erinnert mich an Martin Luther, der zu Beginn der Neuzeit in Europa mit der auf Abwege geratenen Kirche rang: "Yu Keping - der Martin Luther der Kommunistischen Partei Chinas!" Er lacht, dankt mir scherzhaft für das zweischneidige Kompliment und weist diese Analogie auf zurückhaltende Weise zurück. Dann erläutert er, welche Reformen innerhalb der Partei anstehen. Die Modernisierung der Parteikader-Ausbildung habe bereits einige Verbesserungen gebracht, was das Niveau der Führungskräfte betrifft wie auch der in der Verwaltungs- und Regierung geforderten Kenntnisse und Fähigkeiten. Unter dem Strich betrachtet seien die Ausbildungsprogramme jedoch zu teuer bei lediglich gemischten Resultaten. Forschungsaufenthalte im In- und Ausland gerieten teilweise zu Vergnügungsreisen. Sabbatjahr-Modelle würden missbraucht. In Ausbildungseinrichtungen werde Korruption regelrecht antrainiert, Yu bezeichnet sie als "Kader-Vergnügungsanstalten". "Einige Kader sind während der Lehrgänge nur mit Essen, Trinken und Feiern beschäftigt, sie degenerieren und werden korrupt."

Angesichts solch klarer Worte versuche ich, Yu dazu zu bringen, noch etwas weiter zu gehen. Was denkt er über andere Probleme, die sich der Partei momentan stellen? So fällt vielen Außenstehenden auf, wie merkwürdig inkohärent der von der Partei verwendete Politjargon ist. Wie kann eine Regierungspartei regieren, wenn sie nicht die Sprache aller spricht? Partei-Dokumente und Partei-Werbung (genau das ist es) sprechen von der alten chinesischen Hochkultur, sozialer Ordnungspolitik, einer umfassenden Vertiefung der Reformen, Marx und Engels, Konfuzius, einem Sozialismus mit chinesischer Prägung, einer Volksdemokratie, dem chinesischen Traum und darüber, durch den Markt zu Wohlstand zu kommen - und zwar alles in einem Atemzug. Ruft man dadurch nicht innerhalb wie außerhalb der Partei Verwirrung hervor? Ist es nicht etwas, das die Menschen potenziell abschreckt, das Material für böse Witze, dieses sorgfältig konstruierte Sprachspiel, das auf viele Menschen eher wie geschwätzige Tarnung wirkt? Oder ist dies tatsächlich der maßgebliche Kraftquell einer Regierungspartei, die für alle Menschen alles zugleich sein will, das chinesische Äquivalent der westlichen Allerweltsparteien? "Auch wenn es für Außenstehende verwirrend sein mag, aber die Sprache der Partei spiegelt ihre komplexe Geschichte wider", sagt Yu. "In China spielen die von den Parteitheoretikern entworfenen politischen Begriffe eine ganz wichtige Rolle. Jeder politische Führer hat seine eigene Lieblingsvision. Xi Jinpings 'chinesischer Traum' reiht sich in diese Tradition ein. Die politischen Führer wollen im System eine Spur hinterlassen. Daher werden all diese Ausdrücke und Wendungen aufbewahrt und geschützt, sie erinnern an die Vergangenheit, markieren die Gegenwart und zeigen die Zukunft an."

Wir wenden uns der politisch heiklen Frage nach der Rechenschaft (accountability, ze ren) zu. Yu hat geschrieben, es seien drei grundlegende Fragen zu stellen, wenn man verstehen möchte, wie ein Gemeinwesen regiert wird. Wer regiert? Welche Mittel werden eingesetzt? Wie wirksam sind diese Mittel für die Umsetzung der selbst gesetzten Ziele? Ich weise Yu darauf hin, dass es noch eine vierte Dimension gibt, nämlich die große und potenziell gefährliche Frage danach, ob es überhaupt wirksame Mechanismen gibt, die es den Regierten erlauben, die Regierenden öffentlich zur Verantwortung zu ziehen. Muss eine Avantgarde-Partei, deren Mitglieder lediglich sieben Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, dieser Frage nicht besondere Aufmerksamkeit widmen? "Ja, das ist extrem wichtig", antwortet Yu. "Über Jahre hinweg habe ich immer wieder betont, dass die Partei und ihre Mitglieder vor der Öffentlichkeit stärker zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Das ist entscheidend, um die Regierungsführung in China zu verbessern."

Aber wie sich das denn erreichen lasse, frage ich. Wie um einen heißen Brei schleichen wir um ein heikles Thema herum: Xi Jinping hat seit seinem Regierungsantritt die alte Tradition der "Massenlinie" neu belebt, eine Kampagne, die auf Mao zurückgeht. Statt über Säuberungsaktionen will Yu lieber über die Prinzipien zur Vermeidung von Machtmissbrauch sprechen. "Nur durch Demokratie und Rechtsstaatlichkeit lässt sich das Problem der Verantwortlichkeit wirklich lösen", merkt er an. "Künftige Reformen müssen auch das Delegieren und die Beschränkung von Macht betreffen. In diesem Sinne wurde auf dem 18. Parteikongress beschlossen, dass mehr politische Transparenz, deliberative Demokratie und Rechtstaatlichkeit Vorrang haben sollen." Was genau hieße die Beschränkung der Macht in der Praxis? "Es bedeutet schlicht", sagt Yu, "dass die Bürger das Recht haben sollten, Beamte wegen Inkompetenz abzusetzen, die ihre Aufgaben nicht pflichtgemäß erfüllen. Beschränkung der Macht bedeutet auch, dass die Regierung die Öffentlichkeit über wichtige Entscheidungen informiert. Ohne politische Transparenz kann es keine Verantwortlichkeit geben. Deshalb ist die Haushaltstransparenz, die es vorher in China nicht gab, so wichtig; sie steht nun ganz oben auf der Reformagenda."

Unser Frühstücksgespräch macht deutlich, dass sich Yu Keping der Partei gegenüber absolut loyal verhält. Er ist kein neuer Martin Luther. Aber er ist jemand, der die Partei modernisieren will. Er ist sich durchaus bewusst, dass innerhalb der KP der Anteil der Mittelschicht zunimmt und seit einiger Zeit der Gedanke, sie könnte auf Kosten des Volkes die Partei als ein Vehikel zur eigenen Bereicherung kapern, im privatem Kontext diskutiert wird. Er ist sich auch bewusst, dass viele außenstehende Beobachter Chinas nach wie vor der Ansicht sind, dass die Kommunistische Partei ein Werkzeug der super-reichen roten Prinzlinge [tai zi] ist, die seit den Reformen von Deng Xiaoping enorme Reichtümer angehäuft haben. Yu betont lieber, dass die KP dem chinesischen Volk maßgebliche Verbesserungen beschert hat. Ihre Mission sei noch nicht vollendet, aber er sei sich sicher, dass sie dem Druck künftiger Reformen standhalten werde.

Und wenn sich nun die von ihm gewünschten Reformen wie eine verstärkte Rechenschaftspflicht für die Kommunistische Partei als Bumerang erweisen, die von der Öffentlichkeit breit abgelehnt würden? Yu Keping reagiert gelassen. "Es gibt Risiken, und in der Vergangenheit wurden Fehler gemacht", sagt er. "Aber ich mache mir keine Sorgen, sondern bin vollkommen zuversichtlich, dass die Partei die notwendige Regierungsmacht und -fähigkeit hat, um die Risiken zu kontrollieren. Tatsächlich bleibt uns gar keine andere Wahl, denn ohne Reformen werden die Spannungen zunehmen. Die Lage würde noch gefährlicher werden."

Yu fasst am Ende des Gesprächs seine Vision der Modernisierung zusammen. Die Partei solle die gesamte Bevölkerung daran erinnern, dass die Lage in China einst schlimmer war; dass es aufwärts gehen kann, und dass ohne die Führungsrolle seitens der Kommunistischen Partei der Fortschritt gefährdet wäre. "Die Hauptaufgabe", sagt er und klingt dabei sehr wie ein Fortschrittsbefürworter von der Stange, "besteht darin, die Partei dahingehend zu verändern, dass aus einer Revolutionspartei eine Regierungspartei wird. Dafür muss man sich dynamische Stabilität [dòngtài wendìng] zu eigen machen."

Yu blickt auf seine Uhr. Unsere Zeit ist um. Die Stunde, die so schnell verflog, endet mit einem breiten Lächeln, einem festen Handschlag und einem letzten guten Rat. Dynamische Stabilität und Propaganda passen nicht zueinander, mahnt er. Die Partei wird sich abgewöhnen müssen, zu versuchen, "auf allem den Deckel draufzuhalten". Im Denken wie im Handeln, sagt er, müsse die Kommunistische Partei Chinas sich bemühen, smarter zu werden. Sie müsse lernen, zu einer Partei zu werden, "die weiterlernt".


Yu Keping ist Professor für Politikwissenschaft und Direktor des Centre for Chinese Government Innovations an der Universität Peking. Unter anderem veröffentlichte er 2009 den Essay "Demokratie ist eine gute Sache", mit dem er eine öffentliche Debatte in China anstieß.

John Keane ist Forschungsprofessor am WZB und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Sydney. Dort leitet er als Gründungsdirektor die Sydney Democracy Initiative.
john.keane@sydney.edu.au

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 144, Juni 2014, Seite 13-15
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. August 2014