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SPANIEN/007: Hunderttausende Familien haben in Spanien ihre Wohnungen verloren (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 37 vom 14. September 2012
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Banken besetzen oder Banken bedienen?
Hunderttausende Familien haben in Spanien ihre Wohnungen verloren

von Günter Pohl



2011 war für Spanien das erste Jahr in diesem Jahrhundert, in dem es einen Rückgang der ansässigen Bevölkerung gab. Die Krise führte einerseits zu einem Rückgang der Zuzüge, vorwiegend der aus Lateinamerika, aber andererseits auch zu einem neuen Höchststand an Wegzügen: knapp 360.000 Menschen sind zwischen 2008 und der ersten Hälfte 2012 ins Ausland gegangen, womit sich die vom "Zensus der Auslandsspanier" (CERA) statistisch erfasste Gesamtzahl in den letzten viereinhalb Jahren um dreißig Prozent auf insgesamt 1,56 Millionen erhöht hat.

Damit, so Jesús Ortega Ende August in einem Beitrag für "Hoy", sind zwar die Zahlen des Jahrfünfts zwischen 1962 und 1966 (790.000 Arbeitsemigrant/inn/en) nicht erreicht, aber es werden schon wieder die gleichen Antworten auf die Fragen gegeben, die der Kapitalismus derzeit nicht beantwortet: Wo kann ich meine Arbeitskraft verkaufen? Waren es vor fünfzig Jahren meist schlecht ausgebildete Land- oder Industriearbeiter, so gibt es heute eine "Talentflucht" eher jüngerer, gut ausgebildeter oder teils hochqualifizierter Menschen, die auch wenigstens eine Fremdsprache gut beherrschen. Das beliebteste Ziel dabei ist wohl (West-)Deutschland geblieben, aber nun sind auch Frankreich, skandinavische Länder und GB/Irland von Interesse.

Dabei bleibt das gesellschaftliche Sein die Triebkraft für das Bewusstsein darüber, dass im spanischen Staat in den Krisenjahren eine ganze Generation in die Perspektivlosigkeit gedrängt wird. 21,8 Prozent der gesamtspanischen Bevölkerung liegt unter der Armutsgrenze, in Regionen wie Andalusien, aus dem viele der 60er-Jahre-Auswanderer weggingen, liegt die Quote bei 30 Prozent. Diese Zahlen korrespondieren mit den Arbeitslosenziffern von 24,63 % im 2. Quartal 2012 (5,7 Millionen) für Spanien und 33,9 Prozent für Andalusien. In Andalusien haben sich deshalb in den letzten Monaten auch einige spektakuläre Aktionen ereignet, wo es zu Bankenbesetzungen und Supermarkt"plünderungen" gekommen ist. Ausgegangen sind diese von der Gewerkschaft SAT und hunderten Arbeitslosen, und sie haben eine Diskussion über diese Robin-Hood-Formen der Übergabe von Lebensmitteln an Bedürftige ausgelöst. Die "Vereinte Linke" (Izquierda Unida - IU) lehnt das Vorgehen ihres Mitglieds, des seit 1979 amtierenden "roten Bürgermeisters" der Ortschaft Marinaleda (über Marinaleda siehe UZ vom 21.7.2006), Juan Manuel Sánchez Gordillo, ab, weil die christlich gefärbte "Den Reichen nehmen um den Armen zu geben"-Methodik einer emanzipatorischen Ideologie entbehre. Bürgermeister Sánchez, auch Mitglied des andalusischen Regionalparlaments, liegt dagegen eine radikalere IU mehr am Herzen als eine politisch korrekte. Denn bei den letzten Wahlen hat sich IU mit der Losung "Rebélate" (Rebelliere!), die sich gegen die seit einem Vierteljahrhundert regierende sozialdemokratische PSOERegierung richtete, von sechs auf zwölf Abgeordnete verdoppelt - und sich danach ins weiche Bett der PSOE begeben. Da war dann die erste gemeinsame Koalitionsentscheidung, die sozialen Leistungen in Andalusien um 2,5 Milliarden Euro zu kürzen - gegen die Stimmen von Sánchez Gordillo und einer weiteren Abgeordneten der IU.

Eine andere, aber mit dem Sozialabbau durch alle parlamentarischen Kräfte in Spanien zusammenhängende Problematik ist die der Zwangsräumungen als Folge der Immobilienspekulation zwischen 1998 und 2008. Mitglieder der 2009 gegründeten "Plattform der Betroffenen der Grundschuld" (PAH) haben in mehreren Veranstaltungen in der vergangenen Woche in Deutschland über die Fälle der Bankenbetrügereien zu Lasten hunderttausender Mittelschichtler/innen berichtet und somit die Folgen dessen beleuchtet, was gar nicht aus der Krise, sondern aus dem Jubel über angeblich sichere Anlagen resultierte.

Die Immobilienblase bewirkte, dass es in Spanien leichter war eine Wohnung zu kaufen als zu mieten, was dort dazu führte, dass das Land mittlerweile einen minimalen Mietwohnungsmarkt hat, mit um die zehn Prozent noch unter dem Niveau des traditionell stark eigentumsgeneigten Großbritannien. Nachdem dann immer klarer wurde, dass die Massen von Wohnungen, die gebaut wurden, nicht mehr zu verkaufen waren, ging es in die andere Richtung: Bauunternehmen gingen in die Pleite, der plötzliche Baustopp führte zu verstärkter Arbeitslosigkeit, die wiederum zu ausbleibenden Ratenzahlungen der Baukredite, diese zur Einleitung der Wegnahme der Wohnungen durch die Banken, das zu Armut mit Auswirkungen auf die Infrastruktur der Umgegend mit noch mehr Arbeitsplatzverlusten ... die Leerstände im Wohnungssektor liegen jetzt bei 6,5 Millionen, junge Leute ziehen in Massen wieder bei den Eltern ein, und ein Ende der Krise ist nicht in Sicht. Inzwischen wurde nach Angaben der PAH seit 2007 eine halbe Million Wohnungen und Häuser an die Banken zurückgegeben, weil Käufer die Kredite nicht mehr bedienen konnten; offizielle Angaben der Regierung liegen immerhin auch bei 360.000 Stück. Eine Einleitung der Rückgabe an die Bank ist grundsätzlich mit der ersten Nichtzahlung einer Rate möglich, wird aber meistens frühestens nach drei Rückständen eingeleitet. Das Hypothekengesetz sieht danach eine Versteigerung vor, die aber seit einigen Jahren erfolglos bleibt, da es heute im Regelfall keine Interessenten gibt - Wohnraum ist keine sinnvolle Geldanlage mehr, da er auch schlecht vermietbar ist. Das neue Mietengesetz hat die schon früher unattraktive Lage für die Mieter/innen weiter verschärft, denn nun ist schon nach drei statt nach fünf Jahren der Mietvertrag hinfällig. Damit werden nach diesem Zeitraum völlig neue Mietpreise möglich - just mit einem solchen Gesetz will die konservative Regierung der Volkspartei (Partido Popular - PP) den Mietwohnungsmarkt wieder ankurbeln.

Kommt es - wie meist - zu keiner Versteigerung, wird das Haus also der Bank zurückgegeben; selbst wenn der Schuldner inzwischen wieder zahlen und die ausstehenden Raten begleichen kann. Im Gegenteil: der Schuldner hat 40 Prozent der Summe zu leisten, ohne weitere Ansprüche daran zu haben. Womit die Bank die Immobilie für nur 60 Prozent erwirbt. Eine runde Sache, allerdings mit dem Haken, dass auch die Bank bis auf Weiteres darauf sitzen bleiben wird. Daher die Staatskrise und daher auch die Methode ihrer Verlagerung auf die Schultern "aller" - also der Arbeiterklasse, so wie anderenorts.

In vielen Fällen gehen die Schuldner aber nicht freiwillig aus dem Wohnraum, in den sie oft ihre gesamten Ersparnisse gesteckt haben. Wer sich dann an die PAH wendet, bekommt tatkräftige und manchmal auch mediale Unterstützung. Aktivist/inn/en ziehen vor die jeweilige Bank oder verhindern die Zwangsräumung durch Blockaden - damit konnten in den letzten Jahren in Spanien bereits 400 Räumungen gestoppt werden, allein 120 in Madrid. Das ist allerdings angesichts der täglichen 500 Wohnungsverluste zu Gunsten der Banken noch ein bescheidener Anfang. Er zeigt aber, dass Mobilisierungen dieser Art, besonders unter Hinzuziehung einer immer stärker sensibilisierten Öffentlichkeit und der Benennung der Gewinnler, Sinn haben. Die PAH sammelt nun Unterstützung für eine Bürgergesetzesinitiative (Iniciativa de Legislación Popular - ILP), die mit Beibringung von 500.000 Unterschriften im Parlament behandelt werden muss. In dem Text werden drei Forderungen gestellt: die (gesetzlich vorgesehene) Möglichkeit einer Weiternutzung der Wohnung bei Anerkennung und künftigen Abzahlung der Schuld durch den Käufer soll auch tatsächlich angewandt werden; es soll ein Mietmarkt entstehen, der die unteren Einkommensgruppen berücksichtigt; es wird ein sofortiger Räumungsstopp verlangt.

Dass die ILP indes wenig Aussicht auf Erfolg hat, wissen auch die PAH-Aktivist/inn/en: achtunddreißig Mal wurde in Spanien eine ILP mit genügend Unterstützungsunterschriften eingebracht - achtunddreißig Mal wurde sie abgelehnt. Unabhängig davon, ob das Land PP- oder PSOE-regiert war. Und Andalusier/innen haben zudem noch gelernt, dass eine Rebellion auf dem Wahlzettel die eigene Verarmung zusätzlich legitimieren kann. Es gibt eben - nicht nur für den Quijote - unterschiedliche Arten gegen Windmühlen zu kämpfen.

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 44. Jahrgang, Nr. 37 vom 14. September 2012, Seite 7
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. September 2012