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EUROPA/777: Nordirland - das Hillsborough Castle Agreement (Info Nordirland/Baskenland)


Info Nordirland / Baskenland - 21.02.2010

Nordirland: das Hillsborough Castle Agreement - kein Schlussstrich, sondern ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zur Lösung des Konflikts

Mit einer Einleitung von Uschi Grandel


In der allgemeinen Debatte in Deutschland hat sich ein seltsam unhistorisches Verständnis von Konflikten und ihrer Lösung breitgemacht. Das gilt auch für den Nordirlandkonflikt, dessen Beschreibung als scheinbar irrationaler Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten sich offenbar fest in den Köpfen und Tastaturen hält. Praktisch alle Medien, die über die jüngste schwere Regierungskrise in Nordirland und das am Ende geschlossene Abkommen berichteten, schrieben über die "katholische Sinn Fein". Dabei weist sogar der Ort des am 5. Februar 2010 geschlossenen Hillsborough Castle Agreements auf die historische Dimension des Konflikts. Von 1922-1973 war Hillsborough Castle nach der durch Großbritannien erzwungenen Abspaltung des nordöstlichen Zipfels von Irland und der Schaffung des Kunststaates Nordirland der Sitz des von Großbritannien eingesetzten Gouverneurs und damit

"ein Ort, der lange Zeit Synonym für britische Herrschaft und die Teilung Irlands war"

wie Declan Kearney in seiner Analyse der Ergebnisse des Hillsborough Castle Agreements aus republikanischer Sicht schreibt. Das jüngst geschlossene Hillsborough Castle Abkommen war aus Sicht von Sinn Fein ein weiterer Schritt auf dem Weg, Nordirland zu demokratisieren und den Friedensprozess weiterzutreiben. Als Hauptpunkt wurde die Übergabe der Verantwortung für Polizei und Justiz von London an Belfast festgelegt. Die Kontrolle erfolgt damit künftig durch Politiker, die tatsächlich in Nordirland gewählt wurden und nicht einfach von London eingesetzt sind. Von London eingesetzt ohne in Nordirland gewählt zu sein ist übrigens immer noch der britische Nordirlandminister, dessen Machtbefugnisse allerdings durch die bisher erreichten Fortschritte mehr und mehr eingeschränkt werden, dessen Amtssitz aber immer noch Hillsborough Castle ist. Am Schluss seiner Analyse schreibt Declan Kearney:

"Das Hillsborough Castle Agreement ... war nicht die letzte Verhandlung, weder ein Schlussstrich noch eine Beilegung des Konflikts: und der republikanische Kampf ist noch lange nicht vorbei ... Aber es eröffnet einen Einblick, wie die Entlassungsurkunde für die britische Herrschaft in Irland aussehen wird."

Der Weg zu dieser "Entlassungsurkunde" war auch das Thema der von Sinn Fein organisierten Konferenz "Irish Unity", die am letzten Samstag mit mehr als 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in London stattfand.

Beiliegend finden Sie die deutsche Übersetzung der Analyse der Ergebnisse des Hillsborough Castle Agreements durch Declan Kearney, National Chairperson von Sinn Féin.

Die Analyse ist auch in deutscher und englischer Sprache auf unserer Webseite zu finden:

in deutscher Sprache: http://www.info-nordirland.de/start_de.htm
in englischer Sprache: http://www.info-nordirland.de/start_en.htm


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An Phoblacht - Sinn Féin Wochenzeitung (in Englisch), 18. Februar 2010

"Hillsborough nutzen, um Spielregeln zu ändern"

Von Declan Kearney, Sinn Féin National Chairperson


Wir müssen alle Aktivitäten von Sinn Féin, Verhandlungen eingeschlossen, immer wieder daran messen, in welcher Weise sie die republikanische Strategie, und ihre nationalen und demokratischen Ziele unterstützen. Oder kurz gesagt, ob sie die öffentliche Meinung überzeugen, unsere Basis stärken oder im breiteren politischen Kontext für ein vereinigtes Irland arbeiten.

In der letzten Verhandlungsrunde lag mehr als ein Schuss Ironie, weil das Hillsborough Castle Abkommen (HCA) ausgerechnet in Hillsborough Castle verhandelt und verkündet wurde, einem Ort, der lange Zeit Synonym für britische Herrschaft und die Teilung Irlands war. (Nachdem die britische Regierung in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts den Nordosten Irlands als Kunststaat Nordirland von Irland abspaltete, war für viele Jahrzehnte der Sitz ihres Gouverneurs "Hillsborough Castle". Mit dem Karfreitagsabkommen wurde 1998 dieses alte koloniale Herrschaftsinstrument beseitigt.)

Sinn Féin's Fähigkeit, erfolgreiche Verhandlungen zu führen, war immer direkt proportional zur allgemeinen politischen Stärke der republikanischen Bewegung. In diese Verhandlungen gingen wir in der Tat sehr gestärkt. Denn schon vor Jahresanfang hatte ein Großteil der Bevölkerung in den irischen Vierteln erkannt, dass die politische Situation im Norden Irlands ernsthaft gefährdet war. Ein Beben ging durch die politischen Institutionen, verstärkt durch die Weigerung der DUP, Gleichheit und Partnerschaft zu akzeptieren, und verursacht durch die Weigerung der DUP und der britischen wie der irischen Regierung, das Karfreitagsabkommen (1998) und das St. Andrews-Abkommen (2006) umzusetzen.


Einen Nerv getroffen

Als der Termin für die Januar-Verhandlungen näherkam, stand der Ärger in den irisch-republikanischen Vierteln kurz vor dem Siedepunkt. Grund war die Unnachgiebigkeit und neue Vorbedingungen der DUP und unkontrollierte Einflussnahme aus dem NIO (dem britischen Nordirlandministerium), die an alte Zeiten erinnerten. Vor allem diejenigen, die den alten unionistischen (pro-britischen) Einparteienstaat und die "B-Men" (eine paramilitärische anti-irische Polizeisondereinheit, die sich durch besondere Brutalität auszeichnete und durch einen anti-irischen und anti-katholischen Rassismus, der in Nordirland als "Sectarianism" bezeichnet wird) noch miterlebt hatten, erkannten, dass dies nichts anderes war als der alte ungebrochene unionistische Sectarianism.

Vor diesem Hintergrund traf Sinn Féin's Verhandlungsstrategie einen Nerv. Sie fand die Zustimmung der normalen Leute, der Befürworter eines vereinten Irlands und der Demokraten, sowohl in Nordirland wie auch Irlandweit. Und Meinungsumfragen, Zuschauermeinungen und andere Indikatoren zeigten, dass auch ein signifikanter Teil der unionistischen Wählerinnen und Wähler die Rückgabe der Verantwortung über Polizei und Justiz nach Nordirland als vernünftig und sinnvoll ansehen. Sinn Féin wurde auch als Kraft wahrgenommen, die dem Hardliner-Unionismus und britischer Komplizenschaft die Stirn bot. Die SDLP hatte nichts zu bieten.

Der Fokus der Partei lag auf Gleichheit, Partnerschaft und Demokratie; auf der ausstehenden übergabe der Verantwortung für Polizei und Justiz von London an Belfast und weitere ausstehende Themen aus dem Karfreitagsabkommen und dem St. Andrews-Abkommmen, wie zum Beispiel die irische Sprache und die Zusammenarbeit des Nordens (6 Grafschaften) mit dem Süden (26 Grafschaften).

Die DUP wollte Paraden (der Oranierorden) diskutieren. Sinn Féin ist solchen Diskussionen noch nie aus dem Weg gegangen. Aber die DUP machte daraus eine Vorbedingung. Das war ein politischer Fehler. Sie versuchten, stellvertretend für die Oranierorden, eine Auflösung der Paradenkomission zur Vorbedingung zu machen, den Zeitpunkt der übergabe der Verantwortung für Polizei und Justiz damit zu verknüpfen und dadurch die Forderung der Oranierorden durchzusetzen, durch die Garvaghy Road (in Portadown) zu marschieren. Das war eine unhaltbare Position, weil es keine Unterstützung in der Bevölkerung für eine solche Vorbedingung gab.

Inzwischen ist der Zeitpunkt für die übergabe der Verantwortung für Polizei und Justiz auf den 12. April festgelegt und ein Prozess wurde initiiert, um durch lokale Gesetzgebung bessere Rahmenbedingungen für die Beurteilung und Beaufsichtigung von Paraden zu finden, die das Recht der Anwohner beschützen, frei von "sectarian harassment" (anti-irische oder anti-katholisch motivierten Hassparaden) zu leben. Im Ergebnis heisst dies, dass sowohl Polizei und Justiz , wie auch die Paradengesetzgebung in Kürze durch lokale, demokratisch verantwortliche Strukturen kontrolliert werden. Und das mit breitem Konsens der unionistischen Bevölkerung. Andere Prozesse werden aufgesetzt werden, um die Funktionsweise der Institutionen, die Exekutive eingeschlossen, zu überarbeiten; ein politischer Kontext wurde festgelegt, in dem die Rechte der irisch Sprechenden und die Zusammenarbeit von Nordirland mit dem Süden behandelt werden.


Gut für alle

Natürlich sind Verhandlungsergebnisse eine Sache. Es wird nochmal ein ganzes Stück Arbeit kosten, diese Entscheidungen und Prozesse so umzusetzen, dass sie als Brückenköpfe für weitere Veränderungen dienen. Das muss der nächste Fokus für Republikaner sein. Das Hillsborough Castle-Abkommen (HCA) wird gut für alle Bürgerinnen und Bürger sein, gleichermassen für Unionisten wie für irische Nationalisten in den sechs Grafschaften (Nordirland) - nicht zuletzt deshalb, weil die DUP sich endlich beteiligt hat und ihre Zustimmung gegeben hat. Denn erinnert Euch, sie lehnten das Karfreitagsabkommen ab und versuchten, sich vom St. Andrewas-Abkommen zu distanzieren. Deshalb bietet das HCA die Chance, Politik zu stabilisieren und mit den Institutionen Nordirlands vernünftig in einem gesamtirischen politischen Kontext zu arbeiten, so wie es das Karfreitagsabkommen vorsah. Auch das ist ein Teil der grossen Veränderung.

Die wirklich hohe Priorität für Republikaner ist es, das Hillsborough Castle-Abkommen zu benutzen, die Spielregeln zu verändern, um unsere nationalen und demokratischen Ziele, und die Unabhängigkeit, zu verfolgen. Und parallel dazu einen Prozess der positiven Entwicklung unserer Arbeitsbeziehung mit den unionistischen Parteien zu haben. Das müssen wir sehr gezielt angehen.

Seit das Abkommen verkündet wurde, gab es in der DUP auch ablehnende und ambivalente Stimmen, hauptsächlich Gregory Campbell und Nigel Dodds. Das wundert keinen. Einige aus der DUP Führung werden das Abkommen ehrlich umsetzen wollen, andere nicht. Das hat zwei Ursachen, zum einen mangelndes Selbstvertrauen, zum anderen eine in ihrer Partei schwelende Opposition zur Teilung der Macht. Das wiederum liegt am derzeitigen verwirrten Zustand des politischen Unionismus und der Rivalität zwischen den verschiedenen unionistischen Parteien.

Republikaner sollten sich nicht durch Versuche, das Abkommen nut teilzuerfüllen oder zu unterminieren, ablenken lassen. Diejenigen Unionisten, die das versuchen, mit oder ohne Duldung des NIO, werden am Schluss von der Bevölkerung die Konsequenzen zu spüren bekommen.

Neue Verhandlungen werden keine Rückwärtsverhandlungen weg vom HCA sein, sondern vielmehr Startpunkt für republikanische Forderungen nach mehr Rechten, mehr Veränderung und schnellerer Umsetzung.


Irreversible Veränderungen

Auch wenn die politische Veränderung nur scheibchenweise kommt, ist sie irreversibel. Die Elemente des HCA, die die lokale, demokratische Verantwortlichkeit stärken, sind eine neue Grundlage für politische Stabilität der Institutionen im Norden. Darauf aufbauend werden wir die politische Zusammenarbeit zwischen dem Süden und dem Norden stärken und ausweiten, die grenzübergreifende Harmonisierung von Gesetzen anstreben, so dass eine gesamtirische Agenda Gestalt annimmt, die der Bevölkerung nutzt.

Die Aussicht auf Stabilität und die Möglichkeit, in den Institutionen wirklich zu arbeiten, ist eine wichtige politische Verpflichtung für alle Parteien. Sinn Féin wird weiterhin diese Herausforderung annehmen, wir werden mit Nachdruck unsere Gleichheits-Agenda verfolgen und daran arbeiten, dass die Institutionen nun für alle Bürgerinnen und Bürger da sind. Der politische Fortschritt und voraussichtliche Prozess, der sich in Bezug auf das Ende kontroverser Oraniermärsche abzeichnet, muss von Sinn Féin genutzt werden, um die Anstrengungen zu intensivieren, alle Formen des Sectarianism auszulöschen. Diese spezielle Herausforderung muss einhergehen mit einer neuen Bereitschaft von Republikanern, auf die unionistische Bevölkerung zuzugehen und Gemeinsamkeiten zu finden.

Politische Verhandlungen in den sechs Grafschaften können nicht mechanisch in politische Erfolge im Süden umgemünzt werden, aber die Umsetzung des HCA muss aus nationaler Perspektive erfolgen. Die zentrale Rolle von Sinn Féin muss herausgestellt werden, um das Profil der Partei, ihre politische Glaubwürdigkeit und Bedeutung in den 26 Grafschaften zu stärken.

Aus den Verhandlungen ergibt sich auch eine neue Möglichkeit für den Dialog mit den Republikanern, die dem Friedensprozess feindlich gegenüberstehen, und auf junge Nationalisten zuzugehen, die anfällig für die Verlockungen der Militaristen sind. Wir sollten das HCA benutzen, um zu demonstrieren, dass Sinn Féin's politische Strategie einen gangbaren Weg zu einem vereinten Irland darstellt. Und als Anstoß für stärkere Kampagnen an allen politischen, ökonomischen und kulturellen Fronten.


Neue Möglichkeiten

Ja, das HCA hat einmal mehr die strategischen Möglichkeiten des irischen Republikanismus vergrössert. Es kann Katalysator für neue politische Räume, neue Kämpfe und neue Möglichkeiten sein. Aber nur, wenn Republikaner dafür sorgen.

Das positive Moment, mit dem das HCA in der republikanischen und nationalistischen Bevölkerung begrüßt wurde, muss nun in die Kampagnen für die kommenden Westminster Wahlen, die Donegal Süd-West Nachwahl und für künftige Dubliner Bürgermeisterwahlen geleitet werden. Der Rückhalt in der Bevölkerung, den Sinn Féin für ihre Verhandlungsergebnisse geniesst, muss in wachsende Unterstützung bei den Wahlen übersetzt werden.

Eine noch stärkere Unterstützung in der Bevölkerung, zunehmende politische Stärke und die Entschlossenheit der Aktivistinnen und Aktivisten im Norden und im Süden, das strategische Potenzial des HCA auszuschöpfen, sowohl innerhalb wie ausserhalb der politischen Institutionen, wird entscheidend für die kommenden Wochen und Monate sein.

Das HCA ist das Ergebnis einer funktionierenden Strategie. Es war nicht die letzte Verhandlung, weder ein Schlussstrich noch eine Beilegung des Konflikts: und der republikanische Kampf ist noch lange nicht vorbei ... Aber es eröffnet einen Einblick, wie die Entlassungsurkunde für die britische Herrschaft in Irland aussehen wird.


Übersetzung: Dr. Uschi Grandel, http://www.info-nordirland.de/
21. Februar 2010 (Erläuterungen in Klammern)

Quelle des englischen Orginaltextes:
http://www.anphoblacht.com/news/detail/3952
A game changer at Hillsboroug by Declan Kearney


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Quelle:
Info Nordirland / Baskenland
c/o Dr. Uschi Grandel
Holzhaussiedlung 15, 84069 Schierling
Telefon: 0049.(0)9451.949859
E-Mail: info@info-nordirland.de
Internet: www.info-nordirland.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2010