Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

EUROPA/797: Bologna-Reform in Schweden - Offen und unkompliziert (attempto! - Uni Tübingen)


attempto! 28 - Mai 2010 - Forum der Universität Tübingen

Offen und unkompliziert

Von Paola Kucera


Anscheinend mühelos hat Schweden die Bologna-Reformen eingeführt. Flexible Modelle erleichtern den Zugang zu den Hochschulen, die Akademikerquote in der Bevölkerung ist entsprechend hoch. Allerdings investiert der schwedische Staat deutlich mehr in Bildung als Deutschland. Können wir vom schwedischen Modell lernen?


Mit Schweden verbinden die Deutschen schon lange besondere Vorstellungen wie zum Beispiel persönliche Freiheit, Solidarität, soziale Sicherheit. Auch bei Fragen der Hochschulbildung wird gern auf Schweden als Vorbild verwiesen: Ein überaus hoher Anteil der Bevölkerung - 40 Prozent der 25- bis 34-Jährigen in Schweden, in Deutschland sind es nur 23 Prozent - hat einen Hochschulabschluss. Wodurch aber unterscheidet sich eigentlich das schwedische vom deutschen Bildungskonzept, und wie wird es in den jeweiligen Hochschulsystemen umgesetzt? Wie wurde das schwedische System von der Beteiligung am Bologna-Prozess beeinflusst? Auch wenn er sich auf die - notwendig eingeschränkte Perspektive - eigener Erfahrung beschränkt, kann doch ein Vergleich beider Systeme von Interesse für die Beurteilung der jeweils eigenen Situation sein.

Mit der Universität Uppsala, wie Tübingen 1477 gegründet, besitzt Schweden die älteste Universitätstradition Skandinaviens. Die Humboldt'sche Forderung nach der Einheit von Forschung und Lehre ist auch für Schwedens moderne Universitäten maßgeblich gewesen, ebenso wie das Gebot der Lehr- und Lernfreiheit, doch hat sich das Hochschulsystem bald in eine eigene Richtung entwickelt. In vielen Aspekten des Bildungsideals und in vielen Bereichen der konkreten Hochschullandschaft unterscheiden sich beide Systeme erheblich.

Seit langem ist es das Ziel der schwedischen Bildungspolitik, einer möglichst großen Zahl der Bürger ein Hochschulstudium zu ermöglichen, und zwar vor allem, indem der Zugang zum Studium erleichtert wird. Die Aufnahme eines Studiums wird in Schweden nicht nur finanziell gefördert. Im Unterschied zu Deutschland gibt es dort viele verschiedene Möglichkeiten, sich für ein Studium zu qualifizieren. Statt sich aufgrund der Abiturnoten auf einen Studienplatz zu bewerben, kann man einen allgemein geltenden Hochschuleingangstest machen und sich, ungeachtet aller vorhergehenden Schulleistungen, neu einstufen lassen. Falls bestimmte Fächer für den gewählten Studiengang fehlen, können diese an kommunalen Schulen für Erwachsenenbildung nachgeholt werden. Das Studium selbst lässt sich nach den eigenen Bedürfnissen und Möglichkeiten flexibel organisieren: Wer gleichzeitig arbeitet oder von der Arbeit freigestellt wird oder wer Kinder erzieht, kann wählen zwischen einem Ganz-, Halb-, oder Viertelzeitstudium, zwischen Fernstudium und Ferienkursen.

Schweden setzt einen deutlich höheren Anteil des Staatshaushalts für Bildungsausgaben an als Deutschland. Der Standard der Universitätsgebäude und die hochmoderne Ausrüstung in Göteborg, wo ich selbst studiert habe, sind mit Tübingen nicht zu vergleichen. Die hohen Infrastrukturinvestitionen stehen allerdings in Kontrast zur Personalsituation: Viele Hochschullehrer sind nur befristet angestellt. Das Studium in Schweden ist gebührenfrei, und es gibt ein gut funktionierendes zentrales System der staatlichen Studienförderung: Jeder Studierende bekommt ein monatliches staatliches Stipendium, das er nicht zurückzahlen muss. Dazu kommen staatliche Darlehen. Sie sind höher als die Stipendien und müssen zurückgezahlt werden - im Gegensatz zum deutschen Fördergeld Bafög bekommen sie aber alle Studenten, die es beantragen. In Umfrageergebnissen zeigt sich, dass nur wenige schwedische Studierende wirtschaftlich von ihren Familien abhängen. Während in vielen anderen Ländern vor allem Studierende aus bildungsfernen Elternhäusern von staatlicher Unterstützung profitieren, gibt es in Schweden in dieser Beziehung kaum Unterschiede zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen.


Eine attraktive Alternative

Ein weiterer auffälliger Unterschied liegt in der Art des Unterrichtens. Während in Deutschland traditionell der Frontalunterricht im Vordergrund steht, bedient man sich in Schweden - natürlich abhängig vom Fach - vieler alternativer Unterrichtsformen: Gruppenarbeit, Berichterstattung, sogar Abschlussleistungen in Dramaform sind möglich. Dahinter steht das Bestreben, eine auf die Studierenden zugeschnittene Ausbildung anzubieten, während der sich die Fähigkeit zu selbständigem Lernen, zu Eigeninitiative und kritischem Denken entwickeln kann. Es wird deutlich mehr Gewicht auf die Vermittlung von Kompetenzen gelegt als auf den bloßen Wissenserwerb. Gerade beim Sprachunterricht erscheint mir dieser Unterschied sehr bedeutsam. Derart auf die Studierenden zentrierte Unterrichtsformen mit alternativen Leistungsnachweisen setzen notwendigerweise ein realistisches Betreuungsverhältnis voraus, und darum haben alle Hochschulfächer in Schweden eine Kapazitätsbeschränkung. Das mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, gilt doch in Deutschland die Aufhebung der Zulassungsbeschränkung als eines der wichtigsten Instrumente bei der Öffnung der Hochschulen. Doch ohne Kapazitätsbeschränkung läuft der Unterricht auf die Vermittlung von wortgetreu abfragbarem Wissen hinaus, das auch bei großen Gruppen in standardisierten Klausuren bewertet werden kann. Mit meiner Erfahrung in Schweden war es für mich unfassbar, dass hier in Tübingen Anfängersprachunterricht für Gruppen von bis zu 80 Studierenden angeboten wird.

Erwähnenswert ist auch der Unterschied der Hierarchien innerhalb der Universität. In Deutschland ist der Professor an der Spitze der universitären Hierarchie noch immer mit großen Machtbefugnissen ausgestattet, ganz anders als in Schweden oder auch in den angelsächsischen Ländern. Hierarchische Strukturen gibt es natürlich auch an schwedischen Universitäten, doch bei weitem nicht so ausgeprägt und sichtbar wie in Deutschland. Schwedische Hochschulen haben ein breites Spektrum an Lehrkräften: Beigeordnete Dozenten, Lektoren, Doktoranden und Professoren gestalten gemeinsam den Unterricht nach gegebenen Kursplänen. Das Verhältnis von Dozenten und Studierenden ist infolge der flachen Hierarchie deutlich informeller und wird darum als demokratischer wahrgenommen. Bekanntlich ist das Siezen heutzutage in Schweden unüblich geworden, niemand wird also mehr mit Titel oder Nachnamen angeredet. Dieses nivellierende Egalitätsprinzip spiegelt sich auch in der Notengebung, denn es gibt nur zwei oder drei Benotungsstufen auf der Skala: "bestanden" oder "nicht bestanden". In bestimmten Fällen kann man auch ein "wohl bestanden" erreichen.

Welche Auswirkungen hatte der Bologna-Prozess auf das schwedische Universitätssystem? Da an schwedischen Universitäten schon seit längerem ein Punktesystem eingeführt ist (ähnlich dem European Credit Transfer System - ECTS) und auch die dreijährige Grundausbildung mit dem im angelsächsischen Raum üblichen Bachelor verglichen werden kann, vollzog sich die Bologna-Reform viel unproblematischer als in Deutschland und war auch lange nicht so umstritten. Als die neuen Ausbildungsstrukturen am 1. Juni 2007 eingeführt wurden, bestand der wichtigste Unterschied zum vorherigen System in der Einführung des zweijährigen Masters. Mittlerweile gibt es über 600 überwiegend in englischer Sprache angebotene und zudem gebührenfreie Masterstudiengänge, was dazu geführt hat, dass im Herbst 2008 über 60 Prozent aller eingeschriebenen Masterstudierenden aus dem Ausland kamen. Das schwedische Hochschulsystem stellt offenbar auch für deutsche Studierende eine attraktive Alternative dar. Statistiken zeigen, dass Tübinger Studierende eher Schweden als einige andere große europäische Länder für ihren Auslandsaufenthalt wählen.

Abschließend soll nicht verschwiegen werden, dass auch in Schweden diskutiert wird, ob zum Beispiel die Öffnung der Universitäten für große Teile der Bevölkerung zur Senkung der akademischen Standards geführt hat. Ich habe hier aber die positiven Aspekte des schwedischen Systems hervorgehoben, um anzudeuten, wie die in der Bologna-Reform formulierten Ziele in die Praxis des Hochschulalltags eingehen können. Der Vergleich mit Schweden legt den Schluss nahe, dass die Internationalisierung der Universitäten und der Studiengänge sowie eine stärkere Partizipation der Bevölkerung größere staatliche Förderung verlangen und dass dieses Ziel nicht über Studiengebühren und rigide Unterrichtsstrukturen zu erreichen ist und - was vielen überraschend erscheinen mag - dass die Aufhebung der Zulassungsbeschränkungen dabei nicht erforderlich ist oder sogar kontraproduktiv wirken kann.


Paola Ku arbeitet seit 2005 als Sprachlektorin am Fachsprachenzentrum der Universität Tübingen. Sie ist in Schweden geboren und aufgewachsen, wo sie in Göteborg "Schwedisch als Fremdsprache" studierte sowie ein Lehrer- und ein Magisterexamen in Englisch ablegte. Weitere Qualifikationen hat sie an der UC Santa Barbara erworben. Bevor sie nach Deutschland kam, unterrichtete sie unter anderem an der University of Westminster in London.


*


Quelle:
attempto! 28 - Mai 2010, Seite 18-19
Zeitschrift der Eberhard Karls Universität Tübingen und der
Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen e.V.
(Universitätsbund)
Wilhelmstr. 5, 72074 Tübingen
Redaktion: Michael Seifert (verantwortlich)
Telefon: 07071/29-76789,
Telefax: 07071/29-5566
E-Mail: michael.seifert@uni-tuebingen.de
Internet: www.uni-tuebingen.de
attempto: www.uni-tuebingen.de/aktuell/veroeffentlichungen/attempto.html

attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juli 2010