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FEATURE/001: "Nenn mich Aufbauhelfer" - Kriegstrategien im Mittleren Osten (Marc Thörner)


"Nenn mich Aufbauhelfer"
Kriegsstrategien im Mittleren Osten

Feature von Marc Thörner - Unkorrigiertes Manuskript

Deutschlandfunk "Das Feature", 18.05.2010 · 19:15 Uhr


Kinder gehen zur Schule, neue Straßen ziehen sich durchs Land, Brücken verbinden alte Feinde. Bei den Militäreinsätzen in Irak und Afghanistan soll es nicht mehr nur darum gehen, zu erobern und die Beute aufzuteilen.

Erklärtes Ziel ist es, Menschen zu menschenwürdigem Leben zu verhelfen und dadurch "Herzen und Köpfe zu gewinnen". Militärbasen heißen deshalb nicht mehr "Stützpunkt", sondern "Wiederaufbauzentrum". Dort haben nicht nur Offiziere, sondern auch Diplomaten das Kommando.

Der US-amerikanische General Petraeus hat mit seinen Konzepten das Denken der Strategen beeinflusst. In Afghanistan und im Irak beginnt eine Zeitreise, die zurück in Frankreichs Algerienkrieg der 1950er-Jahre führt - und von dort noch weiter in die Vergangenheit. Auch in den heutigen Kriegen des Mittleren Ostens zeichnen sich als Verbündete der westlichen Anti-Terror-Kräfte immer deutlicher Stammeschefs, Kriegsherren und die Paten der organisierten Kriminalität ab. Neue Strategien entpuppen sich als uralt, früher waren sie stets gescheitert. Führen sie jetzt endlich zum Erfolg?

Produktion: Deutschlandfunk 2009

Das Manuskript zur Sendung kann heruntergeladen werden unter:
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/dasfeature/1038622/

Beitrag als Podcast zum Download:
http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2010/05/18/dlf_20100518_1915_0beed59e.mp3


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"Nenn' mich Aufbauhelfer"
Kriegsstrategien im Mittleren Osten
Von Marc Thörner


Atmo (*): Frz. Funk, Motorgeräusche anfahrende Panzerfahrzeuge
Atmo: Lied der Legion (moderner Rap)

O-Ton Capitaine Lechet: Le conflit...
Übersetzer 1:
Der Afghanistankonflikt hat beim zweiten Infanterieregiment der Fremdenlegion ein echtes Umdenken bewirkt. In Afghanistan sind wir auf etwas gestoßen worden, das wir ganz einfach vergessen hatten. Auf all das, was unsere Vorgänger schon angewendet hatten, besonders in Algerien und in Indochina.

Atmo: Lied der Legion

O-Ton Capitaine Lechet: Par la préparation...
Übersetzer 1:
Während der sechsmonatigen Vorbereitungsphase fingen unsere Kommandeure an, sich in die Werke der Militärstrategen aus dem Algerienkrieg hineinzuknien. Was wir heute an Aufstandsbekämpfung praktizieren, ist von ihren Lehren abgeleitet.

Atmo Lied der Legion

O-Ton Lieutenant Fricaz: C'est exactement ca ...
Übersetzer 2:
Zuerst: rein in die Gegenden, wo die Aufständischen sind. Sich auf dem Schlachtfeld mit geballter Übermacht durchsetzen. Anschließend nimmst du Schritt für Schritt Kontakt mit der Bevölkerung auf. Verbesserst ihre Lebensumstände, führst zivilmilitärische Projekte durch, baust Krankenhäuser, gräbst Brunnen. Das sind die ersten drei Bedingungen. Dieses Konzept haben wir schon in der Schlacht um Algier praktiziert. Nur dass man die Aufständischen damals Fellaghas nannte.

Übersetzung Lied:
Die Legion greift an, die Legion greift an, so wie die alten Kameraden es uns vorgelebt haben. Und wenn du stirbst, was macht es aus? Der Legionär geht ein ins Pantheon zu den Marschälen der Legion. Und im Paradies wartet auf ihn eine weiße Legionärskappe.

Atmo: Lied der Legion, Refrain

Ansage:
"Nenn' mich Aufbauhelfer"
Kriegsstrategien im Mittleren Osten
Ein Feature von Marc Thörner

Atmo

Autor:
Paris, Quai Branly. Hunderte alter Männer haben sich am Seineufer im Schatten des Eiffelturms versammelt, alle in Anzügen mit Krawatte, viele mit Orden, einige mit Baretten und anderen militärischen Kopfbedeckungen.

Atmo: Lautsprecherstimme: Dépot de la gerbe de la FNACA du comité de Paris ...

Autor:
Wie jedes Jahr um diese Zeit gedenken die ehemaligen französischen Nordafrika-Kämpfer ihrer Toten. Am 19. März 1962 trat der Waffenstillstand zwischen Frankreich und der provisorischen algerischen Regierung in Kraft. Frankreichs letzter Kolonialkrieg dauerte sieben Jahre und kostete 30.000 Menschen das Leben.

Atmo: Lautsprecherstimme: "Aux morts." Düstere Trommeln, Trompeten

Autor:
Wie an jedem 19. März wird auch diesmal wieder der letzte Tagesbefehl des damaligen französischen Oberkommandierenden zu Gehör gebracht. Frankreichs Truppen, so heißt es darin, hätten den Krieg militärisch gewonnen. Sieg auf der ganzen Linie: Der Aufstand erstickt. Der Feind überall geschlagen oder in die Defensive gedrängt.

O-Ton Veteran: La mission est donc remplie ...

Übersetzer 3:
"Die Mission ist erfüllt. Die Armee kann stolz auf den Erfolg ihrer Waffen sein, stolz auf den Geist der Wachsamkeit und Pflichterfüllung ihrer regulären Soldaten und ihrer einheimischen Hilfstruppen. Auf ihre Rolle als Helfer der Bevölkerung. General Ailleret, Oberkommandierender."

Atmo: Glocke, Gesang

Autor:
Und wie an jedem 19. März findet im Pariser Invalidendom eine Messe zum Gedenken an die in Nordafrika Gefallenen statt. Das Kirchenschiff wimmelt von historischen Regimentsfahnen, in Marmor gemeißelte Inschriften erinnern an die Taten französischer Kriegshelden. Viele Veteranen halten die Trikolore in den Händen und senken sie am Ende der Messe, zu Ehren ihrer gefallenen Kameraden.

Atmo: Kirche Raumklang

O-Ton Jean Raymond: On m'a demandé de partir ...
Übersetzer 1:
Meine Einberufung nach Algerien erhielt ich überraschend 1956. Zunächst war ich als Fernmelder eingesetzt. Doch kurz darauf wurde ich zum Nachrichtenoffizier ernannt. (/)

Autor:
Unter den Veteranen, die im Anschluss an die Zeremonie aufbrechen, ist auch Jean Raymond, ein untersetzter 75-Jähriger mit roten Wangen und flottem weißen Bärtchen.

Atmo "Kirche"

Autor:
Vom militärischen Gepränge der Orden und Fahnen ringsum ist Monsieur Raymond nicht sonderlich beeindruckt. Er wirkt nachdenklich. Dem Krieg als Mittel auch der besten Politik könne er nichts abgewinnen. Als Nachrichtenoffizier habe er zuviel gesehen.

O-Ton Jean Raymond: Quand j'ai vu...
Übersetzer 1:
Besonders, nachdem ich feststellen musste, dass die Luftwaffe immer wieder die Falschen bombardierte; Zivilisten, die mit dem Aufstand überhaupt nichts zu tun hatten. Ich begriff den Sinn dahinter nicht. (/)Na ja, ich kann heilfroh sein, dass ich menschlich intakt geblieben bin. Wäre ich wie die anderen gewesen, ich weiß nicht, was ich dann vielleicht alles hätte tun können...

Autor:
Erfreut über mein Interesse lädt der ehemalige Nachrichtenoffizier mich ein, zum Sitz des Vereins der Nordafrikaveteranen mitzukommen. Dort seien er und ehemalige Kameraden gerade dabei, eine Ausstellung zum Algerienkrieg vorzubereiten.

Atmo: Muezzine, "Sunni-Dreieck?

O-Ton Lt Fennell: How many children do you have?

Atmo

Autor:
Rückblickend betrachtet hatte meine Recherche über die Kriegsstrategien im Mittleren Osten weder in Afghanistan noch in Paris begonnen, sondern Ende 2006 im sunnitischen Dreieck des Irak - nur wusste ich damals noch gar nicht, in welcher Geschichte ich mich da eigentlich befand.

Atmo

Autor:
Lieutenant Fennell, ein 24-jähriger US-amerikanischer Offizier kniete im Wohnzimmer einer sunnitischen Familie, neben ihm sein Dolmetscher und sein Schriftführer: Wie viele Kinder gibt es hier, wollte er wissen. Wie viele Jungen, wie viele Mädchen? Wie viele Frauen, wie viele Männer leben in diesem Haushalt?

Atmo: Stimme Lt. Fennell: "Is there more than one tribe here??

Autor:
Auch die Herkunft der Bewohner wurde festgehalten. Der Hausbesitzer gehörte zu den Dschannábi, einem der wichtigsten Sunnitenstämme.

Atmo: "Jannabi", Computer

Autor:
Im Herbst 2006 war Sunniya, eine Hochburg des Aufstands im Irak, von der US-Armee hermetisch abgeriegelt worden. Stacheldrähte, Betonmauern und Beobachtungstürme zogen sich rund um die Stadt. Eine Einheit der 82nd Airborne Division versuchte im Innern sämtliche Bewohner statistisch zu erfassen. Nur wer eine Zensus-Karte erhielt, durfte auch in Sunniya bleiben, beziehungsweise die Stadt betreten. Alle von Lieutenant Scott Fennell Erfassten mussten sich zu einem Zelt am Rand der Stadt begeben, wo ihnen - mithilfe moderner Computertechnik - Stadt-Karten in Form von sog. Badges ausgestellt wurden. Oder im Zweifelsfall eben auch nicht. Den jungen Soldaten bereitete es große Mühe, die Zugangsberechtigten von den anderen zu trennen.

Stimme Dolmetscher:
"He's not from Sunniya, man!"
Übersetzer 4:
Der ist überhaupt nicht aus Sunniya! - Wo kommst du her? Er sagt: Er hat jemandem aus Sunniya Geld geborgt und jetzt ist er gekommen, um es von ihm einzutreiben.
Stimme GI: Oh no ...
Übersetzer 4:
Nein, wer einen Badge will, muss aus Sunniya sein. Er soll verschwinden.

Autor:
Die Zensus-Technik, wie sie die 82nd Airborne Division in Sunniya anwandte, ging auf ein historisches Beispiel zurück, hatte mir Captain Peterman erklärt, einer der Offiziere, die die Bevölkerungserfassung leiteten.

O-Ton Cpt Peterman: Battle of Algiers, yes!
Übersetzer 2:
Und zwar auf die Schlacht um Algier! Die Franzosen haben im Algerienkrieg vielleicht ziemlich archaische und drakonische Verhörmaßnahmen angewendet, das tun wir nicht. Aber die Art und Weise, wie sie die Aufständischen von der Bevölkerung getrennt haben, das war ein Schritt in die richtige Richtung. (/) Zuerst haben sie einen Zensus durchgeführt und die Leute befragt, so haben sie ein geheimdienstlich verwertbares Bild der Einwohnerschaft erstellt. Zur gleichen Zeit haben sie aufgebaut und den Algeriern Hilfsleistungen angeboten. Auf diese Weise konnten sie die FLN-Bewegung in Algier knacken. Leider haben die französischen Politiker den Militärs nicht weiter erlaubt, diese erfolgreichen Maßnahmen fortzusetzen.

Atmo: Stimmen GIs Humvee-Geräusche
Atmo: Lied der Legion

Autor:
Die Ausrüstung der GIs war auf dem letzten Stand, die Uniformen wiesen ein geniales, digital entworfenes Flecktarnmuster auf, die Panzerung der Fahrzeuge und die elektronischen Spürgeräte gegen Straßenbomben verfügten über einen nie da gewesenen Standard. Doch während ich Ende 2006 das Bataillon der 82nd Airborne Division durch das sunnitische Dreieck begleitete, rieb ich mir immer wieder verwundert die Augen. Was hier passierte, nahm sich wie ein Plot von Stephen Spielberg aus: Eine Einheit der US-Armee wollte im sunnitischen Dreieck des Jahres 2006 den Algerienkrieg noch einmal gewinnen. Dort weitermachen, wo nach Captain Petermans Meinung 'unfähige Politiker' die französischen Kameraden 1962 gestoppt hatten.

Atmo: "Lied der Legion"

Autor:
Das Buch "La Guerre Moderne - Der moderne Krieg" schien für Offiziere wie Captain Peterman eine Art Bibel. Autor war der französische Colonel Roger Trinquier, der sich als Aufstandsbekämpfer in französischen Kolonien Asiens und Afrikas den Ruf eines skrupellosen Folterers erworben hatte. In seinem schon 1964 ins Englische übersetzten Buch beschrieb Trinquier unter anderem, wie er in Algier die Zensus-Technik entwickelt hatte, um so die Aufständischen von der sog. 'Normalbevölkerung' zu trennen.
Jedoch, so hatte Trinquier zu bedenken gegeben: So ausgefeilt die Überwachung auch ist - mit rein militärischen oder polizeilichen Maßnahmen, würde man den Gegner nicht besiegen können:

Zitator: (Trinquier):
"Unsere Streitkräfte in Algerien sind 300.000 Mann stark und mit der modernsten Waffentechnik ausgerüstet; der Gegner verfügt nur über 30.000, meist schlecht bewaffnete Kämpfer. Dennoch dauert der Krieg bereits seit Jahren und der Sieg ist uns alles andere als sicher. Nach Mao Tsetung bewegen Aufständische sich unter den Einheimischen wie Fische im Wasser. Die alles entscheidende Voraussetzung für unseren Erfolg besteht infolgedessen darin, die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen."

Autor:
Gagner les cœurs et les esprits, Herzen und Köpfe gewinnen, so nannte man das bei der französischen Algerienarmee.

O-Ton Lt. Col Harris: What's the goal of an insurgency?
Übersetzer 4:
Was ist das Ziel eines Aufstandes? Antwort: Das Ziel besteht darin, eine amtierende Regierung loszuwerden, also den Status Quo im Land zu verändern. Diejenigen, die das betreiben, sind in der Regel Wenige: eine kleine Gruppe von Leuten. Um ihr Ziel zu erreichen, müssen sie die Herzen und Köpfe der Menschen gewinnen.

Autor:
So Lieutenant Colonel Harris, Bataillonskommandeur der US-Einheit im Irak - 50 Jahre nach dem Ende des Algerien-Kriegs.

O-Ton Lt. Col. Harris: The key to success...
Übersetzer 4:
Unser Schlüssel zum Erfolg heißt daher: Die Herzen und Köpfe dieser Menschen für uns zu gewinnen.

Atmo: Begrüßung

Autor:
Um also die Herzen und Köpfe der Mehrheit der Bevölkerung zu gewinnen, schickte Lieutenant Colonel Harris Offiziere wie Captain Peterman los, um an die Türen der aufsässigsten Stammeschefs zu klopfen, zum Beispiel der Bin Nasr. Dem Stamm hatte auch Saddam Hussein angehört. Soeben war der Expräsident in Bagdad hingerichtet worden. Die Bin Nasr gehörten zu den unnachgiebigsten Feinden der US-Armee und unterstützten den Aufstand unverhohlen.
Um das Eis zu brechen, sprach Captain Peterman einem der zahlreichen Cousins Saddams sein Beileid für den Tod des Expräsidenten aus.

O-Ton Cpt Peterman: First of all
Übersetzer 2:
Zuerst einmal mein herzliches Beileid zum Tod eures Führers. Ich verstehe, dass euer Stamm ihm sehr nahe stand. Euer Schmerz ist mein Schmerz. Auch wenn Saddam unser Feind war. Aber du bist nicht mein Feind. Wir sind alle Brüder.

Autor:
Das Überraschende geschah: Viele der Stammesführer nahmen das Gesprächsangebot der 82nd Airborne an. Letztendlich ging es dabei auch um Geld. Um sehr viel Geld. Um Land. Um Privilegien, ein gesteigertes Ansehen des Führers bei seinem Stamm. Denn im Gefolge des Bataillons bewegte sich, mit Schutzweste und Helm, ein Diplomat. Chris Redmer, Leiter eines PRT, eines Provinzwiederaufbauzentrums.

O-Ton Chris Redmer: There are a number of programs ...
Übersetzer 3:
Es gibt da eine Reihe von Programmen, die vom US-Außenministerium gesponsert werden, über die US-Botschaft in Bagdad. (/) Diese Programme sind speziell darauf ausgerichtet, die wirtschaftliche Entwicklung in bestimmten Regionen zu fördern. Das heißt: in Gemeinden, die sich dieser Idee gegenüber aufgeschlossen zeigen. Wir sind für viele Anregungen offen. Aber wir brauchen eine Bevölkerung, die hinter dieser Idee steht. Die willens und in der Lage ist, ein solches Projekt zu organisieren. Und Bürger, die gewohnt sind, Dinge zu organisieren, Bürger mit einschlägigen Erfahrungen in der Menschenführung.

Atmo: Lied der Legion

Autor:
Modern aussehende Soldaten mit Barett und in Tarnfleckuniform patrouillieren durchs Gebirge, gehen durch Lehmdörfer, schütteln langbärtigen Turbanträgern die Hände, bauen Schulen, graben Brunnen, helfen bei der Ernte oder stehen lächelnd vor Gesundheitsstationen. Beim Verband der ehemaligen Nordafrikakämpfer nimmt die Ausstellung über den Algerienkrieg einen ganzen Raum ein. Der Algerienveteran Monsieur Raymond und sein Freund Serge Drouot haben auf Schautafeln Bilder geklebt.
Die französische Armee, erklärt Monsieur Raymond, habe damals ein zivilmilitärisches Konzept verfolgt. Stützpunkte überall in den Provinzen hätten Aufbauprojekte konzipiert: Mädchenschulen gebaut, Brunnen gebohrt, Kranke behandelt. SAS nannte man diese Aufbauzentren: Section Administrative Spécialisée.

O-Ton Jean Raymond: Les SAS ...
Übersetzer 1:
Die SAS-Stellen wurden stets von einem Offizier geleitet, dem ein Arzt unterstand und der oft auch eine Schule mitbetreute. Und es gab auch einen Nachrichtenoffizier. Was allein schon darauf hindeutet, dass diese Hilfsmaßnahmen, sagen wir, in nicht unparteiischer Art und Weise geleistet wurden. Ich habe an einer Menge von Schulbauaktionen teilgenommen. Aber es war deprimierend zu beobachten, wie Schulen dann immer wieder von den Aufständischen verbrannt wurden.

Autor:
Die Bilder von den uniformierten französischen 'Aufbauhelfern' verwirren. Denn solche zivilmilitärischen Verwaltungsstellen, die sogenannten PRTs, zu deutsch: Wiederaufbauzentren, werden seit 2002 auch in Afghanistan eingesetzt. Hört man deutschen Politiker zu, dann handelt es sich um eine absolute Neuerung, um nicht mehr und nicht weniger als die Überwindung des Krieges, um den Paradigmenwechsel hin zum Aufbau. Doch angesichts der Ausstellung in Paris verfestigt sich bei mir allmählich der Verdacht, dass das PRT offenbar aus dem längst abgelegten Inventar der europäischen Kolonial-Geschichte stammt.
Um Schulen, Krankenhäuser, Wasserleitungen und die anderen von den Aufbauzentren geschaffenen Errungenschaften zu schützen, begann die französische Armee damit, unter den Ortsansässigen sog. 'Selbstschutzeinheiten' zu rekrutieren. Serge Drouot war damals einer der Wehrpflichtigen.

O-Ton Serge Drouot: Des milices d'autodéfense ...
Übersetzer 3:
Milizen zur Selbstverteidigung der Einwohner wurden geschaffen. Wir haben sogar Waffen an diese Milizen ausgeteilt, um die Ortsansässigen zum Kampf gegen die Aufständischen antreten zu lassen.

O-Ton Jean Raymond: Ils ont armé ...
Übersetzer 1:
Unsere Kommandeure haben Gruppen von Stammesleuten mit Waffen ausgerüstet und ihnen den Schutz einer ganzen Region übertragen. Später hat man dann versucht, ihnen die Waffen wieder abzunehmen, weil man feststellte, dass viele dieser Stammeschefs ein doppeltes Spiel betrieben und zwischen uns und den Aufständischen hin und her wechselten.

Atmo: Muezzine, "Sunni-Dreieck"

Autor:
Angesichts der Fotos von algerischen Stammeskriegern, turbantragenden Kämpfern in traditionellen Gewändern, schieben sich wieder die Bilder aus dem sunnitischen Dreieck im Irak in den Vordergrund. Dem "Aufbau" war auch dort die Idee der "Selbstverteidigungskräfte" gefolgt. Captain Peterman hatte einem der Sunnitenscheichs in Aussicht gestellt, dessen Männer mit US-Waffen auszustatten. Mit ordnungsgemäßer Lizenz der Armee.

Captain Peterman: Weapon's cards...
Übersetzer 2:
Inklusive Waffenscheinen ... Für die anderen Scheichs und auch für Sie persönlich. Ich bin autorisiert, sämtliche Scheichs mit Waffenscheinen auszustatten.

Atmo

Autor:
Aber noch ein anderes Thema rückte ins Zentrum der amerikanisch-irakischen Unterredung: Die angebliche 'Verworfenheit' der Schiiten. Die US-Amerikaner und die irakischen Sunniten - standen sie nicht demselben Gegner gegenüber? Amerikaner und Sunniten - so hatte der von der US-Armee umworbene Stammeschef gefragt - sollten beide nicht gemeinsam dem iranisch-schiitischen Hegemoniestreben einen Riegel vorschrieben?

O-Ton Scheich Ziyad: "Mr. Peterman..."
Übersetzer 4:
Ich sage Ihnen Mr. Peterman: nur die leeren Hüllen der irakischen Schiitenpolitiker sind hier im Irak. Aber ihre Herzen und Köpfe sind im Iran. Unter unserem Präsidenten Saddam Hussein gab es all die Probleme nicht. Deshalb müssen wir gemeinsam die Baath-Partei wieder an die Macht zurückbringen. Denn die Baath-Partei war schon immer gegen Fundamentalisten und gegen die al Kaida.

Atmo

Autor:
Und Captain Peterman hatte angedeutet, dass die Amerikaner einer solchen Allianz nicht abgeneigt wären.

O-Ton Captain Peterman: One way or another...
Übersetzer 2:
So oder so - die Sunnis müssen im Land besser repräsentiert werden. Gute Männer müssen gut repräsentiert werden.

Autor:
Aus ihren Erfahrungen bei der Umsetzung der französischen Kolonial-Klassiker und aus neuen eigenen Beobachtungen destillierten Offiziere wie die der 82nd Airborne die Fragmente einer neuen Aufstandsbekämpfung heraus. A und O der neuen Strategie ist es, die Traditionen des jeweilig besetzten Landes in den Dienst der eigenen Armee zu stellen.
Nur wenige Wochen nach meiner Irak-Recherche veröffentlichte das Pentagon das neue Handbuch der US-Armee zur Aufstandsbekämpfung. Darin heißt es unter anderem:

Zitator:
"Kulturelles Wissen ist essentiell für eine erfolgreiche Aufstandsbekämpfung. Amerikanische Ideen darüber, was 'normal' oder 'unnormal' ist, sind nicht universell. Angehörige anderer Gesellschaften haben oft ein anderes Verständnis davon, was rationales, normales, angemessenes Verhalten oder ein normaler Grad an religiöser Hingabe sind."

Autor:
Und:

Zitator:
"Viele religiöse Extremisten glauben, dass die Bekehrung, Unterwerfung oder Zerstörung ihrer ideologischen Gegner unvermeidlich ist."

Autor:
Und an anderer Stelle heißt es:

Zitator:
"Wenn die Ortsansässigen sich aus mehr als einer Gruppe zusammensetzen, könnte es Unterschiede zwischen ihren Glaubenssystemen geben, die sich entsprechend ausbeuten lassen."

Atmo: Funk, Stimme, Cpt Peters

Autor:
Mai 2007 mitten in Bagdad:
An die Stelle des Kampfes gegen die US-Besatzer trat mehr und mehr der Kampf zwischen Schiiten und Sunniten. In Bagdad verließen Menschen ihre Häuser, in denen sie seit Generationen gelebt hatten, die Stadt zerfiel in zwei Teile, einen schiitischen und einen sunnitischen. Und zwischen beiden herrschte Krieg.
Mit einem vorgeschobenen Posten, einem sogenannten Combat Outpost, versuchte die US-Armee die Lage im Griff zubehalten. Per Funk liefen ständig neue Meldungen über die Bewegungen der miteinander verfeindeten schiitischen und sunnitischen Milizen ein. Gerade, so gab der Kommandeur des Postens, Captain Peters, an das Bataillon durch, stieg eine gigantische Rauchwolke in der Nähe des Postens hoch, begleitet von Gewehrfeuer. Peters deutete auf eine Karte.

Atmo

O-Ton Captain Peters: This was just, it looked like
Übersetzer 3:
Als wir hier ankamen, dachte ich: Das sieht ja wie ein Niemandsland im 1. Weltkrieg aus, wie damals der umkämpfte Raum zwischen den Schützengräben. Viele Leute mussten aus ihren Häusern fliehen, deshalb stehen rings um uns viele Gebäude leer. (/) Und immer wieder haben wir Leichen gefunden. Leichen auf den Straßen, scheußlich aussehende Leichen (/)Manchen wurden Löcher in den Kopf gebohrt. Dann wurden sie als abschreckendes Beispiel ausgelegt.

Autor:
Statt gemeinsam die US-Armee anzugreifen, bekämpften sich die Milizen der Schiiten und Sunniten nun untereinander. Ein wichtiger Erfolg der alliierten Aufstandsbekämfungsstrategie.
Drei Jahre später war das 2006 entstandene sogenannte COIN-Manual, das Counterinsurgency-Handbuch, zum Kultbuch der NATO-Militärs für alle Interventionen im Mittleren Osten geworden. Die Kultur, Religion oder Tradition eines besetzten Landes aufzugreifen; sie im Sinne der eigenen strategischen Ziele zu benutzen - diese Grundsätze sind nicht nur den US-, sondern allen NATO-Militärs inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Und sie erscheinen vielen Militärexperten umso interessanter, je mehr sich in Afghanistan die Unfähigkeit der Zentralregierung, des Karzai-Regimes erweist, einen funktionierenden Staat aufzubauen. Zu diesen Experten gehört zum Beispiel auch Marc Lindemann. Der Hauptmann, war bis 2009 als Nachrichtenoffizier beim deutschen PRT in Kundus eingesetzt.
Nach dem Ende seiner Dienstzeit veröffentlichte Hauptmann Lindemann eine Studie über die Erfolgsaussichten der Bundeswehr in Afghanistan.

O-Ton Marc Lindemann:
Wenn ich Kultur akzeptiere, dann in Gänze. Ich bin dafür. Aber wir stehen dann vor unschönen Wahrheiten. Die Wahrheit heißt nämlich: Ja, wir lassen den Afghanen ihre oft in unseren Augen brutale Kultur und versuchen für uns quasi einen Gewinn (/) zu erlangen und der Gewinn kann nur heißen: wir wollen, dass Afghanistan stabil ist, (/) damit wir unsere Sicherheit erhöhen.

Autor:
Nicht mehr weiter auf einen modernen Zentralstaat zu setzen, fordert Hauptmann Lindemann, sondern: sich an den Erfolgen der US-Armee im sunnitischen Dreieck des Irak zu orientieren, an deren Bündnis mit den dortigen Stammeschefs.

O-Ton Marc Lindemann:
Mein Ansatz ist also: selbstverständlich die afghanischen Sicherheitskräfte weiter auszubilden (/), diese aber letzten Endes als eine Art Regulativ zu verstehen (/), was dann zentral geführt in innerafghanische Konflikte, die es immer geben wird, eingreifen kann. Ich muss aber dringend eine regionale Lösung anstreben, das heißt, die einzelnen Ethnien, die einzelnen starken Männer, diese Warlords in den Regionen beteiligen, ihnen in einer Art Milizsystem Macht übertragen, sie vielleicht auch ausstatten, technisch wie auch finanziell, um das Land zur Ruhe zu bringen.

Autor:
Gegen dieses neue Konzept der Kollaboration mit den oft zwielichtigen regionalen Herrschern formierte sich Anfang 2009 vehementer Protest aus Teilen der afghanischen Zivilgesellschaft.

O-Ton Abaceen Nasimi: The Americans...
Übersetzer 1:
Wie wir hören, hatten die Amerikaner vor ein paar Wochen die Idee, die lokale Bevölkerung zu bewaffnen, um ihre Dörfer und Häuser gegen die Taliban zu verteidigen. (/) Die Offiziere der US-Armee gingen in die Dörfer und verhandelten mit den Stammesführern, damit die zustimmten, ihre Söhne oder Brüder rekrutieren zu lassen.

Autor:
Abaceen Nasimi ist Projektleiter beim Institute for War and Peace Reporting, einer internationalen Nachrichtenagentur mit Trainingsprogrammen für afghanische Journalisten.

Übersetzer 1:
Das große Problem dabei ist: Dieses Modell folgt dem alten schmutzigen Teile-und-Herrsche-Prinzip. Man spaltet Gemeinden auf der Grundlage ethnischer, ideologischer oder anderer Unterschiede. Aber das wird die Lage nicht stabilisieren. Langfristig wird es eine Gesellschaft zerstören.

Autor:
Im Irak, argumentiert Nasimi, habe die Aufstandsbekämpfung die Gesellschaft voneinander abgeschottet und miteinander verfeindete Schiiten- und Sunnitengruppen geschaffen.
Im multiethnischen Afghanistan führe die Zusammenarbeit mit bestimmten Warlords dazu, dass ethnische Minderheiten drangsaliert, vertrieben, ihre Repräsentanten gezielt getötet würden. Insbesondere im deutsch geführten Regionalkommando Nord gingen die Milizen des Usbekengenerals Dostum gegen die Angehörigen der paschtunischen Minderheit vor.

O-Ton Abaceen Nasimi: This thing ...
Übersetzer 1:
Diese Zustände greifen im afghanischen Norden immer weiter um sich. In den Gegenden zwischen Shiberghan und Maimana. Dort ist es zu massiven Fluchtbewegungen der Bevölkerung gekommen. Die Angehörigen der paschtunischen Minderheit sind aus ihren Häusern und Länderein vertrieben worden. Ähnliches ist in Sar-e Pol passiert.

Autor:
General Dostum, der Usbekenführer und ehemalige Kommandeur der US-gestützten Nordallianz, wird beschuldigt, 2001 während des Kampfes gegen die Taliban Massenmorde an Kriegsgefangenen begangen zu haben. Allein an afghanischen Gerichten sind gegen ihn außerdem diverse Verfahren wegen Vergewaltigungen und anderer schwerer Menschenrechtsverletzungen anhängig.

O-Ton Marc Lindemann:
Ob so ein Bündnispartner jetzt General Dostum sein muss oder nicht, darüber kann man natürlich streiten. Er kann es sein, es kann auch ein anderer sein. Wenn es keinen anderen gibt, dann muss ich mit ihm vorlieb nehmen, das hilft leider nichts. Im Übrigen habe ich mich derer schon einmal bedient, die Amerikaner haben's jedenfalls getan in ihrem Feldzug 2001, das war die sogenannte Nordallianz. (/) Das waren die Guten und die Taliban waren die Bösen. Nun, wenn das so ist, dann kann ich jetzt auch mit ihnen zusammenarbeiten. Noch mal: es geht um Pragmatismus und Stabilisierung des Landes.

Autor:
Anfang 2009 hatten sich sämtliche klassischen Grundsätze der kolonialen Aufstandsbekämpfung bei der US-Armee in Afghanistan durchgesetzt. Neben der Methode des Aufbaus, des Gewinnens von Herzen und Köpfen, auch die französische Idee der Bouclage: der Einkreisung verdächtiger Zonen und Verstecke in den Rückzugsgebieten der Aufständischen. Sie müssen aus militärischer Sicht vernichtet werden, damit die Aufbauerfolge in den sog. 'befriedeten Regionen' nicht bedroht sind.
So empfiehlt es ein Einsatzleitfaden aus dem Algerienkrieg:

Zitator (Melnik):
Der Plan dazu muss streng geheim gehalten werden; im Vorfeld muss das Objekt diskret und sorgfältig eingekreist werden. Der Schutzkreis muss undurchdringlich sein, was eine hohe Zahl von Truppen erforderlich macht. Die Truppen, die die Säuberung im Innern des Schutzkreises vornehmen, müssen hervorragend trainiert und in der Lage sein, Rebellen auch im Nahkampf auszuschalten. Die dazu erforderliche Mobilität wird insbesondere durch Spezialtruppen und den Gebrauch von Hubschraubern erreicht.

Autor:
Zum Kompendium der französischen Aufstandsbekämpfung in der Kolonie Algerien gehörte auch die Einführung "erweiterter Verhörmethoden", die Colonel Trinquier in seinem Buch "Der moderne Krieg" beschreibt:

Zitator:
"Der Terrorist beansprucht mit denselben Ehren wie ein Soldat behandelt zu werden und weigert sich doch, die Risiken eines Soldaten in Kauf zu nehmen. (/) Seine Opfer haben oft gar nicht die Chance, sich zu verteidigen. Es muss ihm klargemacht werden, dass, sobald man ihn gefangennimmt, er nicht dieselben Rechte wie ein Soldat genießen kann. Die Ordnungskräfte werden ihn nicht für etwas bestrafen, für das die Verantwortlichkeit nicht bei ihm liegt. Hingegen wird er über seine Organisation befragt. Falls der Gefangene die geforderten Informationen gibt, ist die Befragung rasch beendet. Falls nicht, muss er leiden, was er bisher immer vermieden hat. Den Tod nicht ausgeschlossen."

O-Ton Abaceen Nasimi: We, as an Institute for War and Peace Reporting have interviewed ...

Übersetzer 3:
Das Institute for War and Peace Reporting hat Leute befragt, die von den Amerikanern gefoltert wurden. (/) Gefangene wurden mit den Füßen an der Decke aufgehängt. Gefangene wurden auf der Toilette beobachtet. Andere wurden bis zum Kopf im Sand eingegraben und der Sonne ausgesetzt. Sehr verbreitet scheint vor allem der sexuelle Missbrauch. Es gibt viele Fälle. Die Vorfälle ereigneten sich nach Angaben der Gefangenen auf dem Luftstützpunkt von Bagram und auf der US-Basis in Khost.

Atmo: Lied der Legion

Autor:
Am 22. März 2009 entschloss sich die US-Armee zu einer klassischen Bouclage. Zielobjekt war das Haus des Ortsvorstehers von Imam Sahib, einem Ort unweit von Kundus, nur wenige Kilometer vom deutschen Feldlager entfernt.
Ein Angriff ausgerechnet am afghanischen Neujahrsfest, berichtete mir später der Ortsvorsteher Sufi Manan:

O-Ton Sufi Manan, Bürgermeister: Dari
Übersetzer 2:
Am Abend dieses Tages kam ich von unserem traditionellen Neujahrspicknick nach Hause. Die Dunkelheit brach schon herein. Fünf meiner Angestellten saßen um mich herum. Ich befand mich auf dem selben Platz wie jetzt, auf diesem Teppich in der Mitte meines Hofes. Alle gratulierten einander zum neuen Jahr. Ich fragte jeden einzelnen: Hast du heute Abend einen Gast. Es ist ja Neujahr. Aber sie alle sagten mir: nein, diesmal habe ich niemanden eingeladen.

Atmo: Helikopter

Autor:
Kurz vor dem Schlafengehen hörte Sufi Manan Hubschrauber und Militärmaschinen über Imam Sahib kreisen und bald darauf in Richtung Kundus fliegen. Er maß dem ungewöhnlich starken Fluglärm aber keine besondere Bedeutung bei. Er hielt sie für deutsche - also freundlich gesonnene - Maschinen. Um drei Uhr morgens wurde der Lärm auf einmal ohrenbetäubend.

O-Ton Sufi Manan: Dari. "Helikopter..."
Übersetzer 2:
Da rannte ich aus meinem Zimmer und sah wie ein Hubschrauber direkt vor meinem Wohnbereich schwebte. Ich hörte die Stimme meines Leibwächters etwas schreien. Sufi Manan, ausländische Soldaten sind gekommen. Durch die Fenster konnte ich an den Mauern die Lichtkegel der Scheinwerfer erkennen, die die Soldaten auf ihre Gewehre montiert trugen. Sie sprengten das Tor zum Außenbereich auf und kamen in den Hof hineingelaufen. Einige meiner Angestellten liefen aus den Gästehäusern, wo sie schliefen, um zu sehen, was los war. Ich konnte hören, wie mein Leibwächter ihnen zurief: "Geht nicht ins Wohnhaus, da sind Frauen!"

Autor:
Der Deutsch-Afghane Amir Barakzai, Leiter einer Stelle des Deutschen Entwicklungsdienstes in Imam Sahib, kannte sowohl den Ortsvorsteher, als auch dessen Angestellte und sein Haus.
Noch kurz zuvor hatte der Entwicklungshelfer als Gast mehrere Wochen dort gelebt.

O-Ton Amir Barakzai:
Diese Leute haben hier bedient praktisch. Die haben auch mein Auto gewaschen. Der eine von denen (/) war praktisch zu achtzig, neunzig Prozent behindert, mit dem konnte man sich überhaupt nicht verständigen. (/) Und dann war noch einer, der Hassanjan hieß, der war früher Lehrer, Intellektueller, aber auch so einigermaßen behindert. Er hat hier einfach sein Dasein gelebt, hat Tee gemacht, Holz gesammelt (/). Er war relativ gebildet, aber eben behindert ein bisschen.

O-Ton Col. Greg Julian: From the reports...
Übersetzer 4:
Nach dem Bericht der zuständigen Einheit, lagen nachrichtendienstliche Informationen aus unterschiedlichen Quellen vor, die darauf hindeuteten, dass sich an dem in Frage stehenden Ort eine Person mit Verbindungen zur al Kaida aufhielt.

Autor:

Colonel Greg Julian, Sprecher der US-Armee in Kabul:

Übersetzer:
Infolgedessen wurde alles Nötige veranlasst, um dort hineinzugehen und diese Person gefangen zu nehmen.
Unsere Spezialtruppen gingen mit der afghanischen Polizei gemeinsam vor, die das Gebiet in einem äußeren Ring abschirmte. Das Ganze war eine mit den afghanischen Stellen koordinierte Aktion. Sie machten sich durch Rufen bei den Insassen des Hauses bemerkbar. Die Insassen kamen kämpfend aus dem Haus gelaufen, sie feuerten auf unsere Soldaten. Und dabei wurden sie von uns im Kampf getötet.

O-Ton Col Greg Julian, US-Stab Kabul: Whatever their regular job is...
Übersetzer 4:
Egal, was die offiziellen Tätigkeiten dieser Leute gewesen sein mögen - sie standen in Kontakt zu einer al Kaida-nahen Person.

Autor:
Die Bilanz dieses Einsatzes: Eine unbekannte Anzahl von Gefangenen. Fünf Tote, unter ihnen zwei geistig Behinderte.

O-Ton Amir Barakzai:
Man hat auch Kugeln in der Matratze, im Kissen gefunden und die lagen im Bett. Es war überhaupt kein Anlass, diese fünf Leute zu töten. (/) Die waren unbewaffnet und überhaupt nicht in der Lage, sich zu artikulieren.

Autor:
Hauptmann Marc Lindemann war zu dieser Zeit ein wichtiger deutscher Militär in Afghanistan, Nachrichtenoffizier in Kundus, zuständig für militärische Aufklärung und Geheimdienstarbeit - genau für das Feld, in dem die US-amerikanischen Kameraden jetzt aktiv wurden.

O-Ton Marc Lindemann:
Ich lief halt zufällig gerade neben dem amerikanischen Verbindungsoffizier, als der diese Nachricht bekam. (/) Ja - und dann konnten wir im Prinzip nur zuschauen, wie die Amerikaner ihren Zugriff, ihre militärische Operation in unserem Gebiet durchgeführt haben... Dass bei so einem Zugriff natürlich auch Opfer entstanden sind, ist meistens selbstverständlich. So weit ich mich erinnern kann, waren drei oder vier Verhaftete und es waren fünf getötete Afghanen, waren das Ergebnis. (/) Wer das war, weiß ich nicht. Ich gehe aber mal grundsätzlich davon aus, dass die Amerikaner eine solch riskante und im Übrigen auch teure Operation nicht durchführen, ohne Erkenntnisse vorher zu haben.

O-Ton Amir Barakzai:
Die versuchen, möglichst eigene Verluste zu vermeiden. Eigene Verluste kann man nur dann vermeiden, wenn man auf Verdacht schießt.

O-Ton Marc Lindemann:
Das heißt nicht zwangsläufig, dass es einen Schuldigen getroffen hat, aber die Möglichkeit sollte man auch in Betracht ziehen.

O-Ton Amir Barakzai:
Für mich ist das eine Missachtung von Menschenrechten, (/) was nirgendwo auf der Welt zugelassen wird. Dem müsste eigentlich vom Weltgerichtshof nachgegangen sein. Die Amerikaner kämpfen gegen al Kaida, OK. Aber doch nicht auf Kosten der Afghanen.

O-Ton Marc Lindemann:
Wir konnten es beobachten, dass sie offenbar vier Mann gefangengenommen hatten, die wurden dann am Flugplatz in Kundus umgeladen, aus den Hubschraubern raus, in Transportmaschinen, also in Flugzeuge umgeladen, aber was mit denen passiert ist, weiß ich nicht, wohin die Flugzeuge flogen, weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich nach Bagram (/) Dort unterhalten die Amerikaner auch ein riesengroßes Militärgefängnis. Wer sich immer über Guantanamo echauffiert, der könnte genauso gut auch nach Bagram mal schauen, das ist ähnlich. Und höchstwahrscheinlich wurden diese Gefangenen zum Verhör hingebracht. Und alles weiter wissen wir nicht.

Autor:
Ein paar Tage nach dem Zugriff meldeten lokale Mitarbeiter des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL: Urheber der Operation sei offenbar ein Mitglied der Karzai-Regierung gewesen. Der Minister habe in einem der Gäste des Ortvorstehers einen Rivalen im Drogenhandel gesehen und diesen Mann mithilfe der ausländischen Truppen ausschalten wollen. Bundeswehrhauptmann Marc Lindemann treibt seit seinem Kriegs-Einsatz vor allem eines um:

O-Ton Marc Lindemann:
Für uns grenzt es an eine Demütigung. Wir stehen daneben, werden nicht mal informiert - es ist unser Zuständigkeitsgebiet, wir haben dort normalerweise das Kommando und dann kommen amerikanische Spezialkräfte und die interessieren sich dafür nicht.

Autor:
Wenn man durch US-geführte Spezialoperationen wie die in Imam Sahib nicht immer wieder überrascht werden will, gibt es, so Lindemann, nur eins:

O-Ton Marc Lindemann:
Für mich ist eine gute Alternative: Es im Zuständigkeitsbereich der Deutschen selbst zu machen.

Autor:
Und bei einer Aufstandsbekämpfung made in Germany ergäbe sich, so Lindemann, gegenüber der US-amerikanischen ein Vorteil:

O-Ton Marc Lindemann:
Wenn wir als Deutsche so eine Operation durchführen und in einem solchen nördlichen Distrikt einen Terrorverdächtigen festsetzen und ihn auch in eigenem Gewahrsam behalten, dann können wir wenigstens sicherstellen, dass er ordentlich behandelt wird, dass er nicht gefoltert wird, dass er ein ordentliches Gerichtsverfahren bekommt und dass er bei bewiesener Unschuld auch wieder entlassen wird. In diesem Fall ist das leider nicht sicher gestellt.

Autor:
Damit Operationen wie in Imam Sahib auch für die Bundeswehr möglich werden, so Lindemann, müsse deren militärische Führung endlich akzeptieren, dass Krieg herrscht. Sie müsse, schreibt Lindemann in seinem Anfang 2010 erschienenen Buch "Unter Beschuss", weg vom Paradigma des Aufbaus und sich stattdessen das Prinzip der Aufstandsbekämpfung zu eigen machen. Und angesichts eines rücksichtslosen Gegners müssten auch völkerrechtliche Prinizpien der Vergangenheit überdacht werden, etwa die Genfer Konventionen. Im Kampf gegen den Terror seien solche Relikte aus der Zeit des symmetrischen Krieges zwischen Staaten nicht mehr angebracht. Dringend müsse ...

O-Ton Marc Lindemann:
... dieses in Papier gefasste Regelwerk zur Führung eines Krieges angepasst werden. Es kann nicht sein, dass ein Gegner, den wir in Afghanistan haben, der sich (/) nie zeigt, nie offen zu erkennen gibt, hinter dieser Konvention letzten Endes verschanzen kann.

Atmo: Lied der Legion

Autor:
Die Veteranen der Kolonialkriege in Paris sind aus Erfahrung eher skeptisch. Serge Drouot:

O-Ton Serge Drouot: Aujourd'hui, la technique...
Übersetzer 3:
Die Technik der Aufstandsbekämpfung, wie sie Frankreich in Algerien entwickelt hat, wird heute wieder den französischen Soldaten in Afghanistan beigebracht. In Algerien (/) sprach die französische Armee vom Kampf gegen die Terroristen(/) Heute benutzt man in Afghanistan dieselbe Sprache. Man kämpfe gegen den internationalen Terrorismus. Wenn ich die Zustände in Afghanistan betrachte, dann drängst sich mir schmerzhaft der Eindruck auf. Die afghanische Bevölkerung hat genug von der unausgesetzten Präsenz ausländischer Truppen auf ihrem Boden. (/) Alles, was man damit erreichen wird, ist, dass man die Afghanen immer weiter in die Arme der Taliban treibt. (/) Ein Volk, das seine Unabhängigkeit will, wird man nie aufhalten können!

Atmo: Gedenkstätte, Stimmen

Autor:
Anderntags versammeln sich die französischen Veteranen zur nächsten Etappe ihrer Gedenkfeier. Jemand vom Vorstand des Verbandes der ehemaligen Nordafrikakämpfer verliest eine Erklärung.

O-Ton Veteran:
Übersetzer 3:
Als ehemalige Soldaten müssen wir heute Kämpfer für den Frieden sein. In diesem Geist des Friedens, lasst uns solidarisch sein. Lasst uns für eine menschlichere Welt eintreten. Das Beispiel muss von uns ausgehen. Gerade wir ehemalige Soldaten sollten uns heute dafür einsetzen, dass die Freiheit bewahrt bleibt, die Gleichheit und die Brüderlichkeit in einer Welt des Friedens.

Atmo: Gedenkstätte, Aufbruch

Autor:
Die alten Herren steigen in Reisebusse. Die nächste und letzte Etappe des Gedenkens liegt im Zentrum von Paris. Dort hat die französische Armee es sich nicht nehmen lassen, den Algerien-Tag mitzufeiern.

Atmo: Marsch

Autor:
Die Polizei hat die Champs Elysées gesperrt. Ein Musikcorps in strahlend blauen Galauniformen und weißen Handschuhen setzt sich vor den Zug der Veteranen und geleitet ihn bis zum Triumphbogen.

Atmo: Marsch

Autor:
Eine Ehrenformation eines in Algerien eingesetzten Regiments, der Gebirgsjäger, steht am Grab des unbekannten Soldaten bereit. Eine Schulklasse ist aufgereiht.

Atmo: Marsch

Autor:
Gefolgt von den Spitzen aus Verwaltung und Gesellschaft, begleitet von den Repräsentanten der drei Teilstreitkräfte, trifft auch der Pariser Bürgermeister Bernard Delanoe ein und lobt einen seiner Mitarbeiter für die Idee, auch die Kinder an dieser Feier teilhaben zu lassen.

Atmo: Marsch

Autor:
Welche Lehren zieht der Bürgermeister von Paris an einem Tag wie heute aus der Vergangenheit. Bernard Delanoe blickt sich um und setzt eine staatstragende Miene auf. Auch in der Gegenwart, so sagt er, sei Frankreich manchen Bedrohungen ausgesetzt.

O-Ton Bernard Delanoe, Bürgermeister von Paris: Parfois pour être sûr d'avoir la paix ...
Übersetzer 4:
Und um den Frieden zu bewahren muss man da manchmal wachsam sein. Wenn du Frieden willst, bereite den Krieg vor. Si vis pacem para bellum, wie schon die alten Römer sagten.

Atmo: Hintergrundmusik

O-Ton Marc Lindemann
Wir müssen letztenendes den Kampf so annehmen, wie er uns angetragen wurde.

Atmo: Funkgespräch

Absage
"Nenn mich Aufbauhelfer"
Kriegsstrategien im Mittleren Osten
Ein Feature von Marc Thörner

Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2010
Es sprachen: Wolf Aniol, Roland Görschen, Gregor Höppner, Bernd Reheuser und Daniel Wiemer

Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Angelika Brochhaus
Regie: Thomas Wolfertz
Redaktion: Karin Beindorff

Musikausklang



Fußnote:
Atmo: Atmosphäre - steht bei Hörproduktionen für Hintergrundgeräusche
O-Ton: Orginalton


Zum Autor
Marc Thörner, 1964 geboren, studierte Geschichte und Islamwissenschaften, lebt in Hamburg und Rabat. Seit 1994 arbeitet er als freier Journalist, überwiegend für ARD-Rundfunkanstalten. Aktuelles Buch:

Afghanistan-Code
Eine Reportage über Krieg, Fundamentalismus und Demokratie
Edition Nautilus, Verlag Lutz Schulenberg, Hamburg, 2010
156 Seiten, ISBN: 978-3-89401-607-4

Die Rezension im Schattenblick finden Sie unter:
Schattenblick -> INFOPOOL -> BUCH -> SACHBUCH
REZENSION/532: Marc Thörner - Afghanistan-Code (Antiterrorkrieg) (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar532.html


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Quelle:
Deutschlandfunk / Das Feature
"Nenn mich Aufbauhelfer" - Manuskript
© 2009 Marc Thörner
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Juni 2010