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FRAGEN/006: Coskun Kesici zur Demokratiebewegung in der Türkei (SOLIDAR WERKSTATT)


SOLIDAR WERKSTATT für ein solidarisches, neutrales und weltoffenes ÖSTERREICH
WERKSTATT-Blatt Nr. 2/2013

"Die Tage seiner Regierung sind gezählt"

Interview des Werkstatt-Blatts mit Coskun Kesici, Vorsitzender der Föderation demokratischer Arbeitervereine (DIDF), über die Demokratiebewegung in der Türkei, ihre neue Qualität und ihre nachhaltigen Auswirkungen.



Werkstatt-Blatt: Was sind die politischen Hintergründe für das Entstehen der Demokratiebewegung in der Türkei. Warum hat sich soviel Wut angestaut?

Coskun Kesici: In den 11 Jahren Regierungszeit war die AKP-Regierung stets ein treuer Verbündeter westlicher Imperialisten bei ihren Bemühungen um die Neugestaltung des Nahen Ostens. Ihre zu Lasten der Arbeiter konsequent umgesetzte neoliberale Wirtschaftspolitik machte die Türkei zum Musterschüler des globalen Kapitalismus. Privatisierungen, Massenentlassungen, Prekarisierung, Ausweitung der Leiharbeit, der Abbau von sozialen und Gewerkschaftsrechten waren nicht nur die Ursache für die steigende Armut, sondern auch für Tausende von Streiks und anderen Gewerkschaftsaktionen. Mit ihrer neo-osmanisch ausgerichteten Außenpolitik und der Kriegshetze im Dienste der Imperialisten untermauerte die Regierung von Erdogan nicht nur ihre Ambitionen als Regionalmacht in der Region. Diese Politik wie zuletzt im Falle von Syrien, wo sie offen fundamentalistischreaktionäre Kräfte unterstützt, rief auch eine Friedensbewegung hervor, die sich mit unzähligen Demonstrationen und Aktionen der Kriegshetze entgegenstellte. In der kurdischen Frage hielt sie lange Zeit an einer militärischen Lösung fest und verhaftete Tausende von kurdischen Politikern, Journalisten, Gewerkschaftern und Intellektuellen. Auch der Krieg in Kurdistan wurde mit der Freiheitsbewegung eines ganzen Volkes beantwortet. Der Ausgang des Anfang des Jahres gestarteten Friedensprozess, zu dem sie sich gezwungen sah, ist nicht vorhersehbar.

Das Kleinbürgertum in den Städten störte sich an der teilweise religiös motivierten Politik, mit der die AKP-Regierung in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens tiefgehende Veränderungen durchsetzte. In der Bildungspolitik wurde eine "Reform" durchgeführt, die Erdogan mit der Absicht begründete, eine "fromme Generation aufziehen" zu wollen. Die Unzufriedenheit über diese Veränderungen Der Ausbau von Religionsschulen, Alkoholverbote, religiös motivierte und begründete Einschränkungen des Rechts auf Abtreibung, eine die Ungleichheit fördernde und Frauen diskriminierende Familienpolitik und vieles mehr waren Anlässe für unzählige Demonstrationen, mit denen das Kleinbürgertum, Jugendlich, Frauen und die Aleviten ihre Unzufriedenheit zeigten.

Die weltweite Finanzkrise konnte die AKP-Regierung relativ unbeschadet überstehen, weil sie bei der Privatisierung öffentlichen Eigentums keine Grenzen kannte und internationale Spekulanten ins Land lockte. Die Baubranche war der Motor der hohen Wachstumsraten in den letzten Jahren. Die Grundstücke für den boomenden Immobilienmarkt wurden durch das Abholzen von Wäldern an den Stadträndern gewonnen und zu Tiefpreisen an Parteifreunde verramscht. Durch die Abschaffung von gesetzlichen Naturschutzbestimmungen ermöglicht, baute die Regierung Hunderte von Staudämmen und Wasserkraftwerken. Angesichts dieser Entwicklungen formierte sich eine Umweltbewegung, die Hunderte Demonstrationen gegen die Zerstörung der Natur organisierte.

Werkstatt-Blatt: Was ja auch der Beginn der Gezi-Park-Bewegung war.

Coskun Kesici: Ja, aber auch hier ging es von Anfang an um mehr als um Bäume. Die Pläne, an der Stelle des Gezi-Parks am Taksim-Platz die Topçu-Kaserne wieder aufzubauen, haben einen ideologischen Hintergrund. Die Kaserne, die zurzeit vom Sultan Abdulhamit, I. im Jahre 1780 gebaut worden war, war 1940 vom sozialdemokratischen Oberbürgereister von Istanbul abgerissen worden. Während der bürgerlichen Revolution der Jungtürken im Jahre 1908 hatte er den reaktionären Kräften als Hauptquartier gedient. Obwohl die rekonstruierte Kaserne nach Erdogans Plänen Platz für ein Einkaufszentrum und Luxuswohnungen bieten soll, begründete er die seine Entscheidung mit "Geschichtspflege".

Werkstatt-Blatt: Was ist das Neue an dieser Bewegung, die sich ausgehend vom Taksim entwickelt hat?

Coskun Kesici: Am Ende der ersten Woche der Proteste veröffentlichte die Istanbuler Bilgi Universität die Ergebnisse einer Blitzumfrage, die sie unter 3.000 Demonstranten durchgeführt hatte. Danach nehmen knapp 54 Prozent der Teilnehmer erstmals in ihrem Leben an einer Demonstration teil und 70 Prozent gehören keiner Partei an. Über 90 Prozent sind zwischen 19 und 30 Jahre alt. Genauso viele geben als Grund ihres Protests den autoritären Regierungsstil der AKP, die brutale Polizeigewalt und die Verletzung demokratischer Grundrechte an. Diese Motive der Demonstranten waren auch der Antrieb für unzählige und nicht miteinander verbundene Demonstrationen in der 11jährigen Regierungszeit von Erdogan und seiner AKP. Doch diese Protestbewegungen waren bis dato nicht miteinander verbunden. Mit ihrer Teile-und-Herrsche-Politik schaffte es die AKP-Regierung zu verhindern, dass einzelne Protestbewegungen ihre Kräfte bündeln und sich gegenseitig unterstützen. Das Neue an den heutigen Protesten ist, dass sie diese Trennlinie überwunden und zunächst am Taksim-Platz, dann im ganzen Land zusammengefunden haben. Auch wenn die verschiedenen Teile der Bewegung unterschiedliche Anliegen verfolgen, haben sie eine gemeinsame Forderung: Rücktritt der AKP-Regierung.

In der Tat erleben wir historische Momente in der Türkei. Die Widerstandsbewegung organisiert die größten Demonstrationen in der 90jährigen Geschichte der Republik. Noch lehnt Erdogan jeglichen Kompromiss ab, bezeichnet die Demonstranten als Vandalen und Terroristen. Er droht, die Hälfte der Bevölkerung, die ihn gewählt habe, nicht mehr im Zaum halten zu können. Niemand kann vorhersagen, wohin diese Eskalationsdrohung führen kann oder wie weit der Widerstand gehen wird. Eines steht jedoch fest: dieser Regierungsstil und der Polizeiterror, mit dem die AKP-Regierung jeder gesellschaftlichen Opposition begegnet, wird neuen Unmut und mehr Wut hervorrufen. Und irgendwann werden sie nicht mehr mit mehr Terror zu unterbinden sein. Und das ist das Dilemma, in dem Erdogan und seine Regierung stecken. Die Tage seiner Regierung sind jedenfalls gezählt.

Werkstatt-Blatt: Was kann man derzeit über die Folgen der Polizeigewalt sagen? Wie reagieren die Menschen darauf?

Coskun Kesici: Die Polizei geht mit enormer Brutalität vor. Zurzeit muss man davon ausgehen, dass zumindest vier Menschen durch die Polizeigewalt getötet worden sind, 210 Menschen ihr Augenlicht verloren haben und tausende zum Teil schwer verletzt worden sind. Die Tränengasgranaten werden gezielt auf die Köpfe der Menschen abgeschossen. Die Polizei hat bereits 100.000 Tränengasgranaten abgefeuert; diese sind jetzt knapp geworden, deshalb hat die Regierung 130.000 neue bestellt.

Doch die Menschen lassen sich nicht mehr länger einschüchtern, sie verlieren zunehmend ihre Angst. Sie reagieren auf die regelrechte Hexenjagd mit kreativen gewaltfreien Aktionsformen, so zum Beispiel mit der Aktion "Der stehende Mann/die stehende Frau", einem friedlichen, stummen Protest, dem sich immer mehr Menschen anschließen. Die auf Eskalation erpichte Polizei steht dem oft hilflos gegenüber.

Auch das Kalkül der Erdogan-Regierung mit Hilfe von Zensur die Bewegung zu unterdrücken, ist nicht aufgegangen. Die türkischen Medien sind seit 25 Jahren fest in der hand von Großkonzernen, die auf die Regierung als ihr wichtigster Auftraggeber angewiesen sind. Um rentable Großaufträge nicht zu verlieren, verbieten sie ihren Medien eine regierungskritische Berichterstattung. Die DemonstrantInnen konnten diese Zensur mithilfe von social media umgehen. Die erste Demonstration wurde auf Twitter organisiert. Die User informieren sich gegenseitig über bevorstehende Aktionen, laufende Polizeieinsätze, Festnahmen etc. Am fünften Tag der Bewegung errichte die Zahl von entsprechenden Tweets die Marke von 1,2 Millionen.

Werkstatt-Blatt: Wie stark beteiligen sich die Kurden und ihre Organisationen an der Demokratiebewegung in der Türkei?

Coskun Kesici: Viele Kurdinnen und Kurden beteiligen sich aktiv an dieser Bewegung, auch wenn sich die Führung der BDP zurückhält, um den eben begonnen Friedensprozess mit der Regierung nicht zu gefährden. Doch auch in der BDP-Führung wächst die Kritik, dass Erdogan im Friedensprozess mit den Kurden den Ankündigungen keine Taten Folgen lässt. Erst vor kurzem hat der BDP-Vorsitzende die AKP-Regierung öffentlich angegriffen: "Wir haben unser Aufgaben gemacht, aber was macht ihr?" Die Demokratiebewegung könnte dazu beitragen, alte nationalistische Gräben zu überwinden. Es gibt Bilder, wo Menschen mit türkischen und kurdischen Fahnen sich Hand in Hand gemeinsam der Polizeigewalt entgegenstellen. Das wäre früher undenkbar gewesen.

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Quelle:
WERKSTATT-Blatt (guernica) 2/2013, Seite 13
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. August 2013