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FRAGEN/025: Tunesien - "Wir haben unsere Illusionen verloren, unsere Träume sind realistisch" (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

Tunesien: "Wir haben unsere Illusionen verloren, unsere Träume sind realistisch"

von Milena Rampoldi, 22. Februar 2016


Rim Ben Fraj, 31 Jahre, ist Tunesierin, Bloggerin, Übersetzerin, Verlegerin, diplomierte Prekarierin, Mitglied des Übersetzernetzwerkes Tlaxcala und sie arbeitet als Freelance Journalistin.


Milena Rampoldi: Welche sind die Hauptprobleme der neuen Generation in Tunesien?

Rim Ben Fraj: Die wirtschaftliche, soziale und somit auch die politische und kulturelle Marginalisierung. Die Jugend der Revolution hat keine Vertretung, weder im Parlament noch in der Regierung. Es gibt mindestens 250.000 diplomierte Erwerbslose. In bestimmten Regionen erreicht die Arbeitslosigkeit um die 80%. Die einzig mögliche Alternative - die illegale Migration - wird von der elektronischen Absperrung durch Frontex im Mittelmeer unterbunden.

Der einzige Ausweg für die Jugendlichen, die sich nicht vom Islamischen Staat rekrutieren lassen wollen, ist die Revolte. Aber auch wenn sie eine Revolte organisieren, der Staat ist nicht in der Lage, ihren Forderungen nachzukommen, denn eine der Bedingungen der Darlehen der Weltbank ist ein Einstellungsstopp im öffentlichen Dienst. Außerdem ist das Niveau vieler erwerbsloser Akademiker ziemlich niedrig, wegen der Politik von Ben Ali, den Übergang vom Gymnasium zur Universität zu erleichtern, um die tunesischen Statistiken bezüglich des menschlichen Entwicklungsindex zu verbessern. Die schrittweise Privatisierung der Erziehung und die verbreitete Korruption verschlimmern noch die Situation.

Es gibt zwei Sektoren, die vor allem von dieser Lage profitieren: einerseits die multinationalen Konzerne aus Europa und zweitens die westlichen, vor allem deutschen und US-amerikanischen, Stiftungen. Die ersten finden qualifizierte, günstige Arbeitskräfte, um in Fabriken in der Nähe des europäischen Marktes zu arbeiten, während die zweiten tunesische Agenten rekrutieren, um ihre Einflussprogramme (im Namen der Menschenrechte, der aktiven Staatsbürgerschaft, der Emanzipation der Frau, der Medien der Bürger, usw.) umzusetzen.

Wenn sie 25 Jahre alt sind, ein Abitur +3 haben und eine Arbeit suchen, haben sie nur die folgenden Optionen: Sie können sechs Tage pro Woche für 300 Euro pro Monat in einem Callcenter arbeiten oder für eine subventionierte Vereinigung, ohne Vertrag und Sozialabgaben, für 400-500 Euro pro Monat. Der Islamische Staat zahlt ungefähr dieselben Löhne. Unsere Parlamentarier haben aber gerade eine Erhöhung ihrer Löhne bestimmt und werden in Zukunft 2 000 Euro monatlich verdienen.

Die marginalisierte Jugend wird dauernd von der Polizei belästigt. Denn die Polizeipraktiken der Ära Ben Ali sind immer noch dieselben: Gewalt, willkürliche Verhaftungen, Folter und Misshandlungen, in einem Wort HOGRA (Verachtung der Benachteiligten).

Ein erstes Beispiel: ein Junge aus Kasserine, Gafsa oder Jendouba (Städte im tiefen Landesinneren Tunesiens) spaziert auf der Avenue Bourguiba im Zentrum von Tunis. Er wird von der Polizei angehalten. Sobald die Polizisten seine Identitätskarte sehen und merken, dass er nicht aus der Hauptstadt kommt, wird er im besten Falle beleidigt. Es wird ihm gesagt, er solle "nach Hause" zurückgehen. Aber oft verbringt er eine Nacht in einer Polizeizelle. Wie mein Vater sagt, "Man braucht praktisch ein Visum, um sich in diesem Land fortzubewegen".

Ein zweites Beispiel: eine 30jährige Frau fährt gegen Mitternacht, entweder alleine oder in Begleitung, mit dem Taxi nach Hause. Die Bullen halten sie an und fragen: "Warum bist du um diese Zeit noch nicht zu Hause?" und mobben sie. Wenn sie aus einer Bar kommt, tun sie so, als wären sie von der Sitte. Und so beginnt dann das Verhör: "Wissen deine Eltern, dass du Alkohol trinkst? Wer ist der Junge mit dir? Gehst du mit ihm nach Hause? Gib mir die Nummer dieses Vaters, damit ich ihm erzählen kann, dass du besoffen bist. Weißt du, dass wir dich wegen Prostitution drankriegen könnten?". Einer von ihnen tut so, als würde er schreiben, um das Opfer einzuschüchtern. Wenn die Frau einen 20-Dinar-Schein dabei hat, gibt sie diesen den Bullen, um sie loszuwerden. Wenn sie kein Geld dabei hat, muss sie eine Stunde lang betteln, damit sie sie gehen lassen.

Was wäre eine wahre Revolution für Tunesien? Wie können wir dieses Land verändern?

Das ist die 100.000-Euro-Frage! Bevor sie auf die Straße strömt, findet die Revolution in den Köpfen der Menschen statt. Sie geht durch die Befreiung des Körpers. Es handelt sich um eine langwierige Arbeit. Die Schule hat uns alle zu "Fachidioten", verschuldeten Verbrauchern und zersplitterten Individuen formatiert. Die Gesellschaft schließt uns in Käfige ein.

Das Projekt von Bourguiba - "ich werde diese Staubwolke von Individuen in eine moderne Nation verwandeln" - ist fehlgeschlagen. Und ein intelligentes Volk findet sich nun in einer Lage wieder, in der es von hohlköpfigen Bastarden unterdrückt wird.

Jedes Mal, wenn dieses Volk sich aufgelehnt hat, wurde es von Oben zerschmettert und von seinen angeblichen Vertretern verraten. Wir müssen einen Widerspruch lösen: in uns leben ein freiheitlicher Geist und ein starker Konservatismus zusammen. Wir müssen uns erziehen, umerziehen, immer und immer noch.

Welche sind die besten Strategien, um die Stimmen der Unterdrückten im Lande hörbar zu machen?

Die Entwicklung horizontaler Genossenschaftsprojekte, die wirtschaftliche Alternativen schaffen, um die Menschen in die Lage zu versetzen, in Autonomie zu leben. Die breite Kommunikation über die erfolgreichen Projekte und über die notwendigen Werkzeuge, um erfolgreich zu sein.

Viele junge Bürgerjournalisten der neuen Generation erscheinen besorgter um ihre materielle Existenz zu sein als um die Verbreitung von Informationen an die, die sie wirklich brauchen.

Es sollen autonome und alternative Medien in "tunesischer Sprache" geschaffen werden, da die Mehrheit der tunesischen Bevölkerung der französischen und englischen Sprache nicht mächtig ist. Wir dürfen uns aber nicht in Facebook einsperren lassen, sondern sollten zu direkten Kommunikationsformen zurückgehen.

Wie kann man den eigenen Kampf mit dem Kampf für den islamischen Egalitarismus verbinden?

Der Großteil der Parteien, von der Türkei bis Marokko, über Tunesien, die sich islamisch nennen, sind in Wirklichkeit nur heterogene Zusammenschlüsse, die von einer Geschäftsbourgeoisie angeführt sind, welche die bürokratischen und polizeilichen Bourgeoisien an der Macht ersetzen will. Ihre Bezugnahmen auf den Islam sind nur Masken ihrer wahren Klasseninteressen. Der Islam, der hingegen natürlich vom Volk gelebt wird, ist schon eher egalitär und ohne ideologisches Geschwätze. Er gehört zu den natürlichen Reflexen, von denen man nicht zu sprechen braucht, damit sie wirken.

Wie können wir den marxistischen Kampf für die soziale Gerechtigkeit mit dem islamischen Kampf für die soziale Gerechtigkeit verbinden?

Die Ideologien haben schon genug Menschen das Leben gekostet. Der Kampf für die soziale Gerechtigkeit darf nicht vor künstlichen Grenzen Halt machen. Er muss ausgehend von den gemeinsamen Bedürfnissen aller Frauen und Männer geführt werden, und die Allmendegüter verteidigen.

Welche sind die drei Stärken der tunesischen Jugend, die dir die Kraft geben, weiterhin für Gerechtigkeit, Solidarität, Freiheit und Arbeit zu kämpfen?

Der Optimismus trotz allem, der Verlust der Illusionen, die durch realistische Träume ersetzt werden und "Sumud" (Durchhaltevermögen).

Ich bedanke mich für das Gespräch.


Über die Autorin

Dr. phil. Milena Rampoldi ist freie Schriftstellerin, Buchübersetzerin und Menschenrechtlerin. 1973 in Bozen geboren, hat sie nach ihrem Studium in Theologie, Pädagogik und Orientalistik ihren Doktortitel mit einer Arbeit über arabische Didaktik des Korans in Wien erhalten. Neben ihrer Tätigkeit als Sprachlehrerin und Übersetzerin beschäftigt sie sich seit Jahren mit der islamischen Geschichte und Religion aus einem politischen und humanitären Standpunkt, mit Feminismus und Menschenrechten und mit der Geschichte des Mittleren Ostens und Afrikas. Sie wurde verschiedentlich publiziert, mehrheitlich in der deutschen Sprache. Sie ist auch die treibende Kraft hinter dem Verein für interkulturellen und interreligiösen Dialog Promosaik.
www.promosaik.com


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Johanna Heuveling
E-Mail: johanna.heuveling@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2016

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