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FRAGEN/072: Zsuzsa Ferge - Protestbewegungen haben in Ungarn keine Tradition (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin/Pressenza Budapest

Zsuzsa Ferge: Protestbewegungen haben in diesem Land (Ungarn) keine Tradition

Von Adrienn Kurucz, WMN, 27. März 2020



Zsuzsa Ferge, Porträt - Bild: © Chripkó Lili/WMN

Zsuzsa Ferge
Bild: © Chripkó Lili/WMN

Adrienn Kurucz, eine Journalistin der WMN (ungarisches Internetportal), konnte - gerade mal einige Augenblicke bevor das Thema Corona-Virus in der Medienwelt (und in der gesamten Gesellschaft) zum alleinigen, alles beherrschenden Thema wurde - ein lang ersehntes Interview mit einer Wissenschaftlerin führen, die seit mehreren Jahrzehnten einen erbitterten Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten und unterschiedlichste Formen der Verelendung führt. Ihre Waffen sind die Forschung und das Schreiben.

Wenn sie gefragt wird, dann antwortet sie, wie es nur wenige Wissenschaftler vermögen: So können auch diejenigen, die mit Soziologie nichts am Hut haben, die Zusammenhänge zwischen Zahlen, komplexen Daten und theoretischen Ansätzen erkennen.

Wenn Zsuzsa Ferge darüber berichtet, dann ist auch die trockenste Wissenschaft auf einmal fesselnd.

Schade, dass Politiker und Politikerinnen nicht genug auf sie hören.

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Adrienn Kurucz/WMN: Im Zuge der Vorbereitung auf dieses Interview drängte sich mir bei der Durchsicht vergangener Interviews mit Ihnen, beim Betrachten alter Fernsehaufnahmen immer stärker die Frage auf: Wie kann eine Wissenschaftlerin ertragen, dass ihre fachlich fundierten und mit Daten belegten Forschungsergebnisse und die daraus resultierenden Erkenntnisse jahrzehntelang ungehört verhallen?

Zsuzsa Ferge: Es gibt unterschiedliche Arten von Wissenschaftlern. Es gibt Forscher, die die Gesellschaft untersuchen, ihre Prozesse analysieren, ohne dass die gewonnenen Erkenntnisse sie zu irgendeinem Handeln motivieren würden. Dies ist höchstwahrscheinlich die wissenschaftlichere Herangehensweise, als diejenige, die ich repräsentiere: nämlich stets auch das zu sehen, wie die Dinge, wie die Welt sein sollte.

Bei mir vermischen sich die Werte, an die ich glaube mit der Analyse und Untersuchung der Gesellschaft. Bereits bei der Formulierung der Fragestellungen werde ich von Emotionen geleitet - so ist meine Persönlichkeit.

A. K./WMN: Sind Sie Soziologin geworden, um die gesellschaftlichen Prozesse zu verstehen, um ein System in dem Chaos, in das Sie hineingeboren wurden, zu erkennen? Ich denke hier an den Krieg, an den Holocaust, an die verlorenen Verwandten und Kinderjahre, dann an die Zeit des Rákosi-Regimes ...

Zs. F.: Als ich 'Soziologin' wurde, wusste ich nicht, dass ich es bin, denn damals gab es in Ungarn dieses Berufsbild, diese Studienrichtung noch nicht. Als Statistikerin wurde ich nach '56 in die Abteilung für Haushaltsstatistik strafversetzt. Dort musste ich mich mit Statistiken über den Fleisch- und Perlgraupenverbrauch der ungarischen Haushalte beschäftigen. Ich begann mich dafür zu interessieren, was man noch alles untersuchen kann. Es gelang mir beispielsweise, eine Frage nach den elterlichen Wünschen für die berufliche Zukunft ihrer Kinder in den Haushaltbüchern (Fragekatalog zur Haushaltsführung) einzuflechten.

Später konnte man auch Fragen im Zusammenhang mit den Einkommensverhältnissen untersuchen. Dies waren schon die ersten Schritte in Richtung Soziologie. Zu jener Zeit hatte dieser Wissenschaftszweig in Polen bereits eine ernsthafte Tradition. Wir haben deshalb einen Kollegen aus Polen in das Statistische Zentralinstitut Ungarns, wo ich gearbeitet habe, eingeladen. Von ihm haben wir die Grundlagen der Soziologie gelernt. Der damalige Ministerpräsident András Hegedüs hat dann 1963 das Soziologische Forschungsinstitut innerhalb der MTA (Wissenschaftsakademie Ungarn) gegründet, wohin ich später wechselte.

Doch um auf Ihre ursprüngliche Frage zurückzukommen: Meine Motivation lag nicht darin, dass ICH, sondern das WIR ALLE die Funktionsweise der Gesellschaft, der gesellschaftlichen Prozesse besser verstehen.

A. K./WMN: Sind Sie verärgert, wenn Sie daran denken, welche Möglichkeiten die Politiker nach dem Systemwechsel verpasst haben - oder wenn sie falsche Entscheidungen treffen, obwohl sie von den Wissenschaftlern auf die möglichen Folgen ihrer Entscheidungen hingewiesen werden?

Zs. F.: Ich verspüre keine Wut, doch ich blicke voller Sorge in die Zukunft. Ich habe drei Enkel und vier Urenkel.

Wenn die Dinge so weitergehen wie bisher, dann werden sie in einer verarmten, von Hass erfüllten Gesellschaft leben.

Die Bagatellisierung der Umweltprobleme, die Extraktion der Finanzmittel aus dem Gesundheitswesen, aus dem Bildungswesen, aus der Erwachsenenbildung und die von Hass geprägte Kommunikation führen dazu.

A. K./WMN: Woher stammt Ihre Hartnäckigkeit? Woher kommt die Kraft immer wieder aufzustehen, weiterzumachen, es nie als überflüssig zu empfinden in wichtigen Fragen das Wort zu ergreifen?

Seit Ihrer Kindheit stießen Sie immer gegen eine Wand, auch Sie waren von den Gräueln des Krieges betroffen, nach dem Krieg wurden Sie dann als junge Intellektuelle wegen Ihrer bürgerlichen Abstammung und Ihres Studiums im kapitalistischen Ausland als Spionin angeklagt ...

Zs. F.: Diese Frage kann ich nicht beantworten, ich denke, das liegt in meiner Persönlichkeit. Es ist in der Tat so, dass man mich bereits vom Studium und später dann mal hier, mal dort ausschließen wollte ... zu meinem Glück habe ich jedoch für 15 Jahre im Statistischen Institut Unterschlupf gefunden. Dessen Leiter hat alle beschützt, so auch mich, auch '56, als man mich deportieren wollte.

A. K./WMN: Welche Periode in Ihrem Berufsleben war die schwerste, wann mussten Sie sich am meisten Gedanken machen, ob Sie mit den Machthabern argumentieren oder dies lieber lassen sollten?

Zs. F.: Ob ich je Angst hatte? Ja, mein Mann und ich machten uns häufig große Sorgen, vor allen Dingen wegen unserer Kinder. Wenn ich heute meine alten Schriften anschaue, dann erkenne ich, dass sie sehr vorsichtig formuliert waren. Gelogen habe ich nie, doch vieles habe ich verschwiegen und mein Schreibstil war sanfter, als er eigentlich hätte sein sollen. Erst nach '90 habe ich darüber nicht mehr nachdenken müssen, was ich mit meinen Schriften und Reden riskiere. Allerdings wird die Selbstzensur heutzutage leider wieder aktuell.

A. K./WMN: Haben Sie während Ihrer Forschungs- und Dienstreisen ins Ausland nie darüber nachgedacht, die Freiheit zu wählen und zu emigrieren? Sie sprechen Fremdsprachen und haben, soweit ich weiß, sogar das Gymnasium in Frankreich besucht.

Zs. F.: Ja, nach dem Krieg war ich zwei Jahre in einem Kinderheim in Frankreich und habe dort das Gymnasium besucht. Dann sind meine beiden Geschwister und ich teils auf Wunsch unserer Mutter, teils aber weil wir Heimweh hatten, heimgekommen. Auch '56 haben wir erwogen das Land zu verlassen, aber meine Tochter war noch sehr klein und mein Mann und ich dachten, dass wir zu viert nicht losziehen können - also sind wir geblieben. Ob ich es bereue? Aus Sicht der Kinder ja. Sie könnten in einer sichereren, weniger hasserfüllten Demokratie leben, vielleicht hätten sie eine bessere Schulbildung, bessere Lebensperspektiven, aber ansonsten bereue ich es nicht, geblieben zu sein. Wir sind - wie man zu sagen pflegt - aus Abenteuerlust hier geblieben.

A. K./WMN: Apropos Bildung ... der neue Nationale Lehrplan (NAT) wurde verabschiedet ... was sagen Sie dazu?

Zs. F.: Die diktatorische Verabschiedung dieses von rechtsradikalem Gedankengut durchdrungenen Lehrplanes, der u.a. die ungarische Literatur verhöhnt, ist ein Albtraum.

A. K./WMN: Sie sagten einmal, dass bei uns anstelle der Bewahrung der Tradition eine Verzerrung der Erinnerungen erfolgt ...

Zs. F.: Diesen Standpunkt vertrete ich zu 100 Prozent. Es wird versucht, unser Bewusstsein in die Horthy-Ära zurückzuversetzen. Und das ist beängstigend, denn wir wissen, wohin jene Ära das Land geführt hat: Der Weg führte durch Hass zum Krieg.

A. K./WMN: Ich zitiere Sie erneut: "Wir befinden uns in einer POSTWAHREN Gesellschaft". Das heißt, es herrscht zwar ein Informationsüberfluss, doch häufig hat die Information absolut nichts mit der Wirklichkeit zu tun.

Zs. F.: Die Berichterstattung erinnert mich beängstigend an die Rákosi-Ära, als in diesem Land alles nur besser, produktiver wurde. Wir Statistiker konnten anhand interner Daten nachweisen, dass der Lebensstandard tatsächlich um X Prozent gesunken ist, doch die Zeitungen schrieben, dass dieser um Y Prozent gesteigert wurde.

Die Verzerrung der Erinnerungskultur lebte auch damals von derlei Verzerrungen der Wirklichkeit. Tag für Tag lese ich auch heute die offiziellen Nachrichten der MTI (Ungarische Presseagentur) und bin verdutzt: In diesem Land passiert nur Gutes. Alles, was schlecht, was böse ist, passiert im Ausland, kommt aus dem Ausland. Die Großmeister der Manipulation erfinden für uns die Geschehnisse.

A. K./WMN: Menschen erzählen mir heutzutage häufig, dass es in Ungarn kein Elend, keine Armut gäbe - wir, die Journalisten, würden Probleme übertreiben.

Zs. F.: Auch ich höre so etwas. Der Grund hierfür ist, dass die Armut, das Elend unsichtbar gemacht wurde. Man hat sie aus den Straßen, aus den Städten gefegt ...

A. K./WMN: Unsichtbares Elend, versteckte Armut: So etwas hat man in diesem Land schon einmal erlebt.

Zs. F.: Ja, natürlich. Eine der Methoden ist, dass die Politik im Allgemeinen nie über Armut, höchstens über die Beseitigung von Armut redet. Und die Armen ziehen freiwillig oder gezwungenermaßen in sogenannte Sackgassendörfer, dann sind sie unsichtbar. Bereits vor einigen Jahren gab es landesweit mehr als 200 solche Dörfer. In diesen Dörfern leben die Menschen - Roma und Nicht-Roma - in bitterster Armut.


Zsuzsa Ferge auf einem Sofa, macht beredte Gesten - Bild: © Chripkó Lili/WMN

Bild: © Chripkó Lili/WMN

Auch die Segregation ist eine gute Methode. Früher mussten die Schulen Kinder aus Roma- und Nicht-Romafamilien anteilig zur regionalen Bevölkerungsstruktur aufnehmen. Heutzutage hat die Mittelschicht Schulen, die Kinder aus armen Familien ausschließen. Beispielhaft für die Einengung des Wissensstandes ist auch, dass in den Berufsschulen gesellschaftspolitischen Fächern immer weniger Raum gelassen wird. Und auch die wohnortbezogene Segregation nimmt zu, ebenso die Segregation mit Hilfe des Marktes, etwa durch kostenpflichtige Schulen und durch die von der Regierung geförderte private Gesundheitsvorsorge.

Wir machen die Armen nicht nur unsichtbar, sondern auch unhörbar. Sie sind immer weniger in der Lage, in ihrem eigenen Interessen ihre Stimme zu erheben, zu protestieren. Langsam verlieren sie auch ihre Würde. Gefährlicheres kann in einer Gesellschaft nicht passieren.

A. K./WMN: Wohin kann das führen?

Zs. F.: Im Grunde zu einer feudalen Gesellschaft, in der es ein paar Hunderttausend Menschen gibt, die unter guten Lebensumständen leben und am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Die Übrigen bleiben bei vielen Dingen außen vor. Ein echter Staatsbürger ist neben seinem Privatleben auch Teilhaber des gesellschaftlichen Lebens und nutzt seine Rechte. Wenn einige Millionen Menschen gleichgültig sind und weitere Millionen Menschen aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, dann ist die Gesellschaft gespalten, zerrissen. Ein Übergang zwischen den beiden Welten ist immer seltener möglich.

A. K./WMN: Soweit ich weiß, wird die Hälfte aller Kinder in den ärmsten Familien geboren, in den unteren 30% der Bevölkerung. Das bedeutet, dass jedes zweite Kind in diesem Land keinen Zugang zu einer angemessenen Schulbildung und zur Gesundheitsfürsorge hat ...

Zs. F.: Heutzutage ist Kinderarmut bereits höher als Altersarmut. Und wenn Kinder in widrigen Umständen aufwachsen, dann hat das ernste Konsequenzen für die zukünftige Generation.

A. K./WMN: Und wie steht es mit der alten Generation?

Zs. F.: Früher wurden die Renten an die Preis- UND an die Lohnentwicklung gekoppelt, heute nur an die Preisentwicklung. Die Durchschnittsrente liegt gegenwärtig bei ca. 70 % des Durchschnittslohnes, das Verhältnis verschlechtert sich und kann in einigen Jahren auf 40 % sinken. Wenn also die Reallöhne steigen, dann wird sich die Situation der Rentner im Verhältnis zu Berufstätigen stetig verschlimmern.

Besondern prekär ist die Situation der Schwerbehinderten und der bedingt arbeitsfähigen Menschen.

A. K./WMN: Können zivile Organisationen bei gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten nachhaltig helfen?

Zs. F.: Eine der Funktionen der zivilen Bewegungen ist die Organisation von Gemeinschaften und das Bemühen um die Verbesserung der Lebensumstände von Menschen und von Gruppen. Eine andere Funktion ist, dem Staat und dem Markt zu signalisieren, dass etwas in ihrer Arbeitsweise nicht stimmt. Sie haben also eine große, korrigierende Aufgabe in der Gesellschaft. Leider sind sie politischen Einflüssen ausgesetzt. Und heutzutage steht die Politik ihnen feindselig gegenüber.

In Ungarn ist die Tradition der zivilen Bewegungen sehr schwach ausgeprägt, ich würde die Zivilgesellschaft nicht als stark bezeichnen, wobei ihre Existenz unverzichtbar ist.

Wir sehen, dass sie in einzelnen Fällen erfolgreich agieren, so können sie gelegentlich eine Wohnungsräumung verhindern. Sie können aber die großen gesellschaftsfeindlichen Schritte heutzutage leider nicht verhindern. Sie können auf die Straße gehen, demonstrieren, doch die Staatsmacht hat genug Mittel, sie nicht zu fürchten, uns nicht zu fürchten.

A. K./WMN: Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Probleme, die am schnellsten gelöst werden müssten?

Zs. F.: Die Zerrissenheit der Gesellschaft und der Hass müssten zuallererst abgeschwächt werden, danach könnte die Armut gemildert werden. Laut Statistik haben Einkommensunterschiede und die Armut in den vergangenen Jahren abgenommen. Doch es gibt zahlreiche gegenläufige Bewegungen. Der Differenzierungsgrad der Einkommen nimmt zu, die Wohlstandsungleichheit wächst in den Himmel.

Die Auswertungen der OECD belegen, dass in Ungarn 10 Prozent der wohlhabendsten Haushalte nur 22 % des Gesamteinkommens erhalten, jedoch fast die Hälfte, nämlich 48 % des Gesamtvermögens des Landes besitzt.

Und die zentral gelenkte Neuverteilung läuft vollkommen gegen ihr selbst gesetztes Ziel.

Im Prinzip erhebt der Staat Steuern, damit er gesellschaftliche Ungerechtigkeiten mildert. Bei uns jedoch läuft sowohl die Erhebung von Steuern, als auch die Verteilung größtenteils in die entgegengesetzte Richtung, deshalb nenne ich das System pervers.

Es existiert nur eine Steuerklasse und wird ab 0 HUF berechnet - was ein "Hungarikum" - eine typisch ungarische Lösung - ist.

So tragen die Armen - sofern sie überhaupt steuerpflichtige Einnahmen haben - im Verhältnis mehr Steuern als die Reichen. Bei der Verteilung wiederum profitieren Menschen in Lohn und Brot stärker als die Armen (Elterngeld, Krankengeld), ja, Beschäftigte mit einem Hochschulabschluss können sogar einen erhöhten Satz erhalten. Die Familienbeihilfe für die Bedürftigen und das Kleinkindbetreuungsgeld sind seit 2008 unverändert. Es ist würdelos, dass Hilfeleistungen an den sehr niedrigen, seit 2008 unverändert festgeschriebenen Mindestrentensatz von 28.500 HUF gekoppelt sind. Und dann gibt es Versorgungsleistungen, die nur Arbeitnehmer mit höherem Einkommen in Anspruch nehmen können. Dies sind steuerliche Erleichterungen für Familien oder auch die staatliche Unterstützung beim Erwerb von Immobilien. Die staatlich gelenkte Neuverteilung erhöht so die Ungleichheit, anstatt sie zu senken.

Um die Armut zu senken, müsste man also dafür Sorge tragen, dass das Familieneinkommen zumindest das Existenzminimum erreicht. Dieses liegt heute für Einzelpersonen bei 80.000 HUF und bei einer vierköpfigen Familie etwa bei 250.000 HUF. Diese Summe kommt nicht einmal bei Arbeitnehmern mit kleinem Einkommen zusammen. Das Statistische Bundesamt (KSH) hat bis 2014 die Zahl der Haushalte mit dem Existenzminimum ausgewiesen, seitdem veröffentlicht es viel zu wenige Daten über die Armut. Damit trägt es zur bereits zuvor erwähnten Verschleierung der Armut bei. Und es ist ein schlechtes Zeichen, wenn das Statistische Bundesamt feige wird.

Seitdem erheben nur die zivilen Organisationen, die Gewerkschaft oder die Policy Agenda Daten.

Im Übrigen hat das Amt nie Daten darüber veröffentlicht, nie gezählt, wie viele Menschen unter dem Existenzminimum leben. Wissenschaftler schätzen ihre Zahl auf etwa drei Millionen.

Viele Kinder werden - wenn sie auch nicht hungern müssen - nicht ausreichend ernährt. Ich schätze die Zahl der Kinder auf 100.000 - 150.000, die Nahrung nicht in ausreichender Menge oder nur unregelmäßig Mahlzeiten erhalten. Montags kommen viele Kinder deswegen pünktlich in die Schule, weil das im Prinzip vorgeschriebene Schulfrühstück früh ausgegeben wird. Die Zahl der qualitativ hungernden Kinder ist erheblich höher.

A. K./WMN: Können Digitalisierung, Internet und Smartphones die Ungleichheit in der Gesellschaft mindern? Diese Mittel sind auch in den kleinen Dörfern verfügbar, sie können das Lernen unterstützen und bei der Aufholjagd helfen.

Zs. F.: Früher war dies in der Tat eine große Hoffnung und irgendwie ist es auch das geblieben. Doch auch die IT-Nutzung hängt von der gesellschaftlichen Stellung ab. Damit IT unseren Zielen dient, muss man den Umgang mit IT, mit den elektronischen Medien erlernen. Ohne Hilfe verirren sich die Kinder.

A. K./WMN: Es ist klar ersichtlich, dass die Ungleichheit in der Gesellschaft zunimmt. Wohin kann dies Ihrer Meinung nach führen?

Zs. F.: Ob sie einmal zu einem explosionsartigen Ausbruch führt? Das kann man nicht vorhersagen, aber die Chancen sind gering. Proteste haben keine Tradition in diesem Land. Es gibt Angst und Resignation.

Und gleichzeitig weiß man nie, was buchstäblich der letzte Tropfen im Glas ist, der das Fass zum Überlaufen bringt. Ich möchte nicht orakeln.


Übersetzung aus dem Ungarischen von Ferenc Héjjas


Auf Ungarisch erschienen im WMN Magazin:
https://wmn.hu/ugy/52417-ferge-zsuzsa-nincs-hagyomanya-a-tiltakozasnak-ebben-az-orszagban?fbclid=IwAR2SGMKAT0VyLXDKN2WFkH9sYuwFozIzZ5OUVfUdztdJH6CsigXlw34Xh9A


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Reto Thumiger
E-Mail: redaktion.berlin@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. April 2020

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