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LATEINAMERIKA/1276: Haiti - Außer Spesen nichts gewesen, Wiederaufbau stockt (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 20. Juni 2011

Haiti: Außer Spesen nichts gewesen - Wiederaufbau stockt


Port-au-Prince, 20. Juni (IPS) - Gut 17 Monate nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti stagniert in der Hauptstadt Port-au-Prince der Wiederaufbau. Mehr als 800.000 Menschen leben in provisorischen Unterkünften, etwa 30.000 von ihnen gegenüber dem Nationalpalast.

Ist das Schneckentempo, das den Wiederaufbau kennzeichnet, und die Umsiedlung der Katastrophenflüchtlinge, wie gern behauptet wird, auf einen Mangel an Finanzmitteln zurückzuführen? Haben ausländische Hilfsorganisationen ihre Versprechen nicht eingehalten? Oder liegt die Schuld bei den Vereinten Nationen oder den haitianischen Behörden?

Eine zweimonatige Untersuchung von 'Haiti Grassroots Watch' (HGW) und Studenten der Journalistenschule der Staatsuniversität von Haiti ist diesen Fragen nachgegangen und auf eine Reihe von Problemen wie Koordinationsschwächen, Rivalitäten und auch handfeste Machtinteressen gestoßen. Hinzu kommt, dass offenbar keine einzige Behörde die Situation wirklich überblickt beziehungsweise die ganze Verantwortung tragen will. Zudem wird der Wiederaufbauprozess offenbar durch einen gravierenden Mangel an Transparenz behindert.

Haiti Grassroots Watch ist eine Partnerschaftsinitiative haitianischer Medienorganisationen. Ihr gehören 'AlterPresse', die Gesellschaft zur Animierung sozialer Kommunikation (SAKS), das Netzwerk von Frauengemeinderadios (REFRAKA) und die Gemeinderadios der Vereinigung der Haitianischen Gemeindemedien (AMEKA) an.

Harold Joseph ist Vater von sechs Kindern. Er lebt mit seiner Familie in einer provisorischen Hütte auf dem 'Marsfeld', einem Gelände aus öffentlichen Parks und Plätzen in der Nähe des Präsidentenpalastes und der Ministerien in Port-au-Prince. Wie Joseph berichtet, wurden ihm und seiner Familie vor Monaten Hilfsangebote in Aussicht gestellt, die jedoch nie Gestalt annahmen.


Menschen fühlen sich verschaukelt

"Wir wurden von Leuten besucht, die sich unsere Namen aufschrieben und uns vage Zusagen machten", erzählt er. Doch bisher wurden lediglich Trinkwasser und 172 Plastiktoiletten verteilt, die von den Menschen jedoch nicht in Anspruch genommen werden. Sie ziehen es vor, ihre Notdurft in Plastiktüten oder auf Styroportellern zu verrichten, die später in den überquellenden Müllcontainern entsorgt werden.

Joseph und viele andere Menschen leben im Schatten der riesigen Denkmäler der Gründungsväter des Landes wie Henri Christophe, Alexandre Pétion und Jean-Jacques Dessalines. Seit 17 Monaten spielt sich das Leben von rund 6.000 Familien im Blickwinkel dieser Nationalhelden ab. Hier essen sie, streiten, spielen Domino und versuchen sich ihre Würde durch den Verkauf von Krimskrams zu bewahren.

"Man hat uns vergessen. Für uns interessiert sich kein Mensch. Diese Leute und ihre Organisationen sind Bluffer und Opportunisten", sagt Joseph verbittert. Doch E-Mails und Unterlagen, die HGW vorliegen, und auch Interviews belegen, dass Haitis Behörden wenige Monate nach dem Erdbeben vom 12. Januar 2010 an einem Plan gearbeitet hatten, alle Flüchtlinge auf dem Marsfeld umzusiedeln.

Staatspräsident René Préval wollte mit Vertretern nationaler und internationaler Entscheidungsträger die Menschen in ihre alten Stadtteile zurückbringen, etwa nach Fort National, das auf einem Hügel oberhalb des Marsfeldes liegt. Hier sollten die Flüchtlinge zunächst in provisorischen Zelten untergebracht und mit Jobs und den nötigen Mitteln ausgestattet werden, um den Bauschutt wegzukarren und erdbebensichere Häuser zu bauen.


Hochtrabende Pläne

In E-Mails und Tweets, die Mitarbeiter des Roten Kreuzes im Mai 2010 in Umlauf brachten, ist die Rede von "kleinen Schritten" zur Lösung der Probleme und einem "Pilotprojekt", das die Aufmerksamkeit der Medien gewinnen werde. Doch das angekündigte Programm blieb in seinen Anfängen stecken, und zwölf Monate lang sollten die Menschen auf dem Marsfeld nichts mehr davon hören.

Dem Koordinator der Haiti-Prgramme der UN-Organisation für menschliches Siedlungswesen (UN-HABITAT), Jean-Christophe Adrian, sind die damals fast täglich stattfindenden Treffen im Gedächtnis geblieben. Die Initiative von Präsident Préval sei von allen Hilfsorganisationen mit Begeisterung aufgenommen worden, erinnert er sich, "zumal die einzige reelle Lösung der haitianischen Probleme darin gesehen wurde, den Menschen die Rückkehr in ihre Viertel zu erlauben".

Das Projekt kam aller Wahrscheinlichkeit deshalb zum Erliegen, weil sich die Regierung zum Bau von Sozialwohnungen in Fort National entschloss. "Ich verfüge nicht über alle Informationen, aber (...) soweit wie ich damals mitbekommen habe, wurde die Entscheidung getroffen, in Fort National ein Großprojekt durchzuführen", berichtet Adrian.

Wie der scheidende Wirtschafts- und Finanzminister im vergangenen Monat in einem Interview erklärte, kommt das Projekt voran, befindet sich aber noch nicht in der Umsetzungsphase. "Ein Teil der Gelder steht bereit, die Pläne und Modelle sind fertig", sagte Minister Ronald Baudin in einem Interview mit HGW. "Wir müssen nur noch das Baugelände säubern. Dann kann es losgehen."

Dennoch wurde das Projekt bis heute nicht begonnen. Und Priscilla Phelps, Wohnbauberaterin der Haitianischen Interims-Wiederaufbaukommission hatte im vergangenen Januar darauf hingewiesen, dass es noch nicht einmal offiziell abgesegnet worden ist. Es sei zudem "ziemlich teuer".

In der Zwischenzeit sind 18 Hilfsorganisationen in Port-au-Prince mit dem Aufbau von Übergangsunterkünften aus Holz und Plastik beschäftigt und führen Reparaturen an einigen defekten Häusern durch. Keine von ihnen arbeitet mit den Flüchtlingen auf dem Marsfeld zusammen.


Undurchsichtige Auftragsvergabe

Schleppend gestaltet sich auch der Wiederaufbau der Innenstadt von Port-au-Prince. Würde Haiti nur mit Papier saniert, wäre der Prozess bereits weit vorangeschritten, kritisiert HGW. Powerpoint-Präsentationen, PDFs und Berichte mit eindrucksvollen schematischen Darstellungen und Diskussion über eine "soziale Vermischung", "städtische Dörfer" und eine "geteilte Vision" kursierten im Internet, und auf den Tischen türmten sich die Aktenberge.

Etliche zehntausend US-Dollar wurden für Konferenzen und Treffen auf Haiti und außerhalb ausgegeben. Dennoch gibt es nach Erkenntnissen von HGW keinen einzigen Plan und - wie es aussieht - auch keine 'gemeinsame Vision'.

Im Sommer letzten Jahres ließ Finanzminister Baudin verlauten, dass die Regierung die Prinz-Charles-Stiftung eingeladen habe, einen Plan für den Wiederaufbau der Innenstadt von Port-au-Prince vorzulegen. "Wir haben die Stiftung gewählt, weil sie gemeinnützig ist", erklärte Baudin gegenüber HGW. "Wir haben gesagt: 'Lasst uns eine Wahl treffen, ohne einen Ausschreibungsprozess durchführen zu müssen."

Dem Minister zufolge lag der Marktwert des Stiftungsvorschlags bei fast einer Million Dollar. Die haitianische Regierung überwies der Organisation 295.000 Dollar. Doch vor einigen Monaten brach der Bürgermeister von Port-au-Prince, Muscadin Jean-Yves Jason, die Gespräche mit der Stiftung ab. Nach Jasons Vorstellungen sollte Port-au-Prince von den Haitianern geplant werden. So hat er nach eigenen Angaben, auf Pro-Bono-Basis wie er versicherte, eine haitianische Firma mit der Erstellung eines Bauplans betraut.

Parallel dazu arbeitet das Planungsministerium mit der kanadischen Firma 'Daniel Arbour and Associates' (DAA) an einem gemeinsamen Projekt. Wie schon die Prinz-Charles-Stiftung erhält auch DAA für seinen Entwurf Regierungsgelder. Ein Beamter im Planungsministerium, der sich Anonymität ausbat, erklärte gegenüber HGW, ihm sei nicht bekannt, dass DAA durch eine öffentliche Ausschreibung an den Vertrag gekommen sei. Ebenso wenig wusste er über das Gesamtfinanzierungsvolumen der "strategischen Planungsverträge" Bescheid. Auf die Frage, ob der von anderen Planungsbüros in Umlauf gebrachte Betrag von zwei Millionen Dollar der Wahrheit entspreche, antwortete er: "Die Kosten könnten unter oder über zwei Millionen liegen."

Anfragen via Telefon und E-Mail, ob nun die DAA-Verträge Haiti das Doppelte kosten als die Zusammenarbeit mit der Prinz-Charles-Stiftung, wurden von Minister Baudin bisher nicht beantwortet. Das DAA-Büro in Quebec verwies Fragesteller auf einen DAA-Vertreter in Haiti, der jedoch auf E-Mails nicht reagierte.


Gerangel um Einfluss und Geld

Bürgermeister Jason weiß nach eigenen Angaben von dem DAA-Projekt. Doch sei er weder vom Ministerium noch von dem Unternehmen kontaktiert worden. "Ich stehe für jedes Gespräch zur Verfügung", versicherte er. "Derzeit gibt es jedoch Versuche, das Bürgermeisteramt zu schwächen und eine dominierende Rolle in der Stadt zu spielen." Jason zufolge dürften auch andere Faktoren entscheidend für den Kampf um die Aufträge sein. "Wir sollten das nicht verheimlichen - beim Wiederaufbau geht es in erster Linie um Geld und Investitionen. Um viel Geld", sagte der Bürgermeister. (Ende/IPS/kb/2011)


Links:
http://wwwhaitigrassrootswatch.org
http://haitigrassrootswatch.squarespace.com/haiti-grassroots-watch-engli/2011/6/9/behind-the-closed-doors-of-port-au-prince-reconstruction.html
http://ipsnews.net/news.asp?idnews=56067

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 20. Juni 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juni 2011