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LATEINAMERIKA/1314: Zum Stand der Transformation in Bolivien und Ecuador (spw)


spw - Ausgabe 4/2011 - Heft 185
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Das Versprechen einer Revolution.
Zum Stand der Transformation in Bolivien und Ecuador

von Stephan Reichert


Im Jahr 2006 in Bolivien und ein Jahr später in Ecuador kamen, nach mehreren Jahren der politischen Instabilität, zwei Präsidenten an die Macht, mit dem Versprechen, das politische System revolutionieren zu wollen. Das Diktat des Neoliberalismus sollte abgelegt werden und die Bevölkerung sollte aktiv an der Gestaltung von Politik teilhaben. Diese neuen Regierungen haben sich den Sozialismus des XXI. Jahrhunderts auf die Fahnen geschrieben, jene politische Ideologie, der sich zuvor bereits Hugo Chávez in Venezuela verschrieben hat.

In diesem Artikel soll der Transformationsprozess genauer untersucht werden, der von Evo Morales in Bolivien und Rafael Correa in Ecuador angestoßen wurde. Eine zentrale Rolle bei der Transformation, oder Revolution, wie beide politischen Führer gerne betonen, spielen die politischen Bewegungen, die den Aufstieg an die Macht erst möglich gemacht haben. In Bolivien handelt es sich dabei um die aus der Bauernbewegung hervorgegangene Movimiento al Socialismos - Instrumento Politico por la Soberania de los Pueblos(1) (MASIPSP, oder kurz MAS) und in Ecuador die Alianza País, hervorgegangen aus einer städtischen Mittelschicht.

Die Bevölkerung legte große Hoffnungen in die Präsidenten und in die versprochene Transformation. Sowohl Evo Morales wie auch Rafael Correa wurden, nachdem neue Verfassungen in Kraft traten, in ihren Ämtern mit breiter Zustimmung bestätigt. Seit 2010 wächst allerdings die Enttäuschung darüber, dass Reformen des politischen Systems häufig nur auf dem Papier stehen und eine kritische Auseinandersetzung mit den Regierungen kaum möglich ist. Die Präsidenten aber müssen sich daran messen lassen, ob sie das politische System grundlegend verändert haben.


Entstehung der politischen Bewegungen MAS und Alianza País

Die Entstehungsgeschichten der MAS in Bolivien und der Alianza País in Ecuador haben teilweise gemeinsame Ursachen. Sowohl in Bolivien als auch in Ecuador traten beide Bewegungen in einer Zeit auf, in der das liberale demokratische System eine schwere Krise durchmachte. Nachdem Ende der 70er bzw. Anfang der 80er Jahre die Militärdiktaturen abgesetzt und repräsentative Demokratien etabliert wurden, waren die Hoffnungen groß, dass die neue Demokratie Stabilität und wirtschaftlichen Aufschwung bringen würde. Seit den 90er Jahren erhielt das neoliberale Wirtschaftsmodell unter den Vorgaben des Washington Consensus Einzug in die Länder Lateinamerikas. Doch weder Demokratie noch neoliberales Wirtschaftsmodell hielten was sie versprachen. Zwar stabilisierten sich die makroökonomischen Daten und politisch kam es zu demokratischen Regierungswechseln. Doch spätestens seit der Jahrtausendwende wurde immer klarer, dass dieses Wirtschaftssystem vor allem bestimmten Gruppen Vorteile brachte, die breite Mehrheit der Bevölkerung profitierte davon nicht. Und auch die Regierungen repräsentierten häufig nur die Interessen einer kleinen Elite. Die Stimmung in den Ländern verschlechterte sich zunehmend und entlud sich auf den Straßen. In Ecuador wurde 1997 Präsident Bucaram gestürzt, und es begann eine zehn Jahre andauernde politische Krise, geprägt durch soziale Proteste, während der keiner der gewählten Präsidenten sein Mandat regulär vollenden konnte. Erst die Wahl von Rafael Correa 2007 brachte wieder Stabilität in das politische System. Ähnlich verhielt es sich in Bolivien. Die sozialen Proteste im Jahr 2000, die als Wasserkrieg bekannt wurden, waren der Auftakt für immer wiederkehrende Unruhen, die in den Stürzen der Präsidenten Sánchez de Lozada (2003) und Carlos Mesa (2005) gipfelten.

Aus dieser konfliktären Situation heraus entstanden die Alianza País in Ecuador und die MAS in Bolivien. Diese existierte zwar bereits seit 1995, nun aber war sie zu einer ernstzunehmenden politischen Bewegung herangewachsen. Im Wesentlichen haben mindestens drei Faktoren dazu geführt, dass aus der Bauern- und Gewerkschaftsbewegung MAS eine nationale politische Kraft wurde. Erstmals in der Geschichte des Landes spielte die Stadt-Land-Konfliktlinie eine Rolle für die nationale Politik. Politik konnte nicht mehr ohne die Einbeziehung der Interessen der ländlichen, in der Regel ärmeren Bevölkerung gemacht werden. Dazu war das neoliberale Wirtschaftsmodell in eine Krise geraten, und gerade im sozialen Bereich wurden die Auswirkungen dieser Wirtschaftspolitik immer deutlicher. Freilich waren die Leidtragenden dieser Politik ebenfalls die Ärmsten der Bevölkerung. Schließlich, auch als Konsequenz aus den beiden zuvor genannten Punkten, litten die traditionellen Parteien unter einem schweren Vertrauensverlust. In solch einer Konstellation wuchs der Zuspruch für die MAS, welche ihre Ursprünge in der campesino-Bewegung auf dem Land hatte, nun auch in der Stadt. Zentrale Figur beim Sprung vom Land in die Städte war Evo Morales. Die notwendige Umstrukturierung von einem "politischen Instrument" der ländlichen sozialen Bewegungen, am bekanntesten die der Cocabauern, zu einer politischen Bewegung im ganzen Land und die nötigen Kompromisse auf beiden Seiten sind der Integrationskraft und dem Charisma des heutigen Präsidenten geschuldet.

Auch in Ecuador entwickelte die Alianza País ihre Kraft in einer Zeit politischer Instabilität, und auch wie im Falle von Bolivien sind die zentralen Faktoren die Schwächen des neoliberalen Wirtschaftssystems und der völlige Vertrauensverlust der traditionellen Parteien. Die Versprechen des Washington Consensus und des Internationalen Währungsfonds (IWF) hatten sich bei der Mehrzahl der Bevölkerung nicht positiv bemerkbar gemacht. Auch die politische Klasse wurde als eine Elite wahrgenommen, die lediglich auf eigene Interessen setzt und die das Land ausverkauft. Nicht nur die politischen Parteien waren auf breiter Front in Misskredit geraten, auch traditionelle soziale Bewegungen, wie die Vereinigung der Indigenen CONAIE, hatten aufgrund ihres Paktierens mit Präsident Gutiérrez in Teilen der Bevölkerung das Vertrauen verspielt. Aus dieser Stimmung heraus entstand eine Bewegung, die sich explizit als Antibewegung definierte, die Alianza País. Schlachtruf war "que se vayan todos" (sollen sie doch alle verschwinden), und tatsächlich war Alianza País in seinen Ursprüngen nicht mit alten Parteisoldaten oder gar Klassenkämpfern besetzt, sondern von einer Gruppe meist recht junger Akademiker, die sich gegen jegliche Form der traditionellen politischen Organisierung aussprachen. Rafael Correa, der Wirtschaftswissenschaftler, der nur während einer ganz kurzen Phase ein politisches Amt bekleidete, gehörte zu dieser Gruppe.


Institutionalisierung der Bewegungen und Rückhalt in der Gesellschaft

Die Entwicklung beider Bewegungen zeigt einen zentralen Unterschied in dem Selbstverständnis und in der Anhängerschaft. Alianza País, als neugegründete Antibewegung, wird in ihrem Kern getragen durch progressiv denkende Personen, die sich enttäuscht von einer traditionellen Form der politischen Organisation abgewendet oder nie einer solchen angehört haben. Dies sind Aktivisten aus der alten traditionellen Linken, Intellektuelle und Aktivisten einer neuen, nicht etablierten Linken und von jungen Bürgerbewegungen, sowie Personen ohne politischen Hintergrund, die aber Rafael Correa sehr nahe standen. Es ist die städtische progressive Mittelschicht, die die neue Bewegung unterstützt. Die Themen allerdings, die Alianza País besetzt, sind jene, die von der traditionellen Linken bereits seit Jahren formuliert werden. Und so ist es auch nicht erstaunlich, dass sich mit dem Bedeutungszuwachs der Bewegung auch traditionelle linke Parteien und soziale Bewegungen der Alianza anschlossen. Dabei fungiert Alianza País nie als "Sprachrohr" oder "Frente" der sozialen Bewegungen; bis heute lehnt eine Mehrzahl der Aktivisten in der Alianza País es ab, sich als Partei oder als fest strukturierte Bewegung zu definieren. Die Allianz mit einigen traditionellen Parteien und die Unterstützung durch die sozialen Bewegungen waren freilich zentral bei der Einberufung und Umsetzung der verfassungsgebenden Versammlung. Aber just die Schnittstelle zwischen Alianza País und den sozialen Bewegungen erscheint heute als eine Sollbruchstelle. Seit dem Abschluss der verfassungsgebenden Versammlung und spätestens seit dem Referendum im Mai 2011 ist dieser Bruch immer deutlicher zu Tage getreten. Wichtige Unterstützer aus den Tagen der verfassungsgebenden Versammlung sind nun zu erbitterten Gegnern des Führungsstils von Rafael Correa geworden. Die politische Strategie der Regierung als Antwort auf diesen Konflikt scheint zu sein, die Polarisierung vorantreiben zu wollen. Somit ist zum jetzigen Zeitpunkt Alianza País an der enormen Herausforderung gescheitert, die Interessen der verschiedensten Gruppierungen zu aggregieren. Zwar werden auch immer wieder Forderungen laut, Alianza País nicht als reine Verlängerung der Regierung oder Wahlkampfmaschine zu betrachten, sondern sie in einen Parteiapparat zu transformieren, mit der Kapazität der Interessenaggregation und -artikulation. Ob dies gelingen wird, ist vorläufig offen, denn noch wehrt sich eine Mehrheit gegen die Reform der Bewegung, und Rafael Correas Diskurs lässt nicht vermuten, dass er dazu eine Notwendigkeit sieht.

Die Verankerung der MAS in Bolivien ist anders geartet. Nicht als Antibewegung wurde sie gegründet, sondern als politischer Arm der Bauernbewegung. Traditionell ist der Organisationsgrad in Bolivien sehr hoch und gilt als wichtiges Kontrollinstrument von Regierungen. Somit konnte die MAS auf weitreichende und im politischen Kampf sehr erfahrene Organisationsformen zurückgreifen. Die Basis bilden jedoch die campesinos, die Bauern, die in Bolivien nicht gleichzusetzen sind mit den indígenas, den Indigenen. Diese Differenzierung ist bei der Betrachtung der aktuellen Konfliktlinien innerhalb und zwischen den verschiedenen sozialen Bewegungen rund um die MAS wichtig. War Evo Morales noch zu Beginn seiner Führung in der MAS das moderierende und integrierende Element, so scheint es derzeit eine Verschiebung zugunsten der campesinos und zum Nachteil der indígenas zu geben. Ebenso wie in Ecuador steht die MAS vor der enormen Aufgabe, Interessen der Gesellschaft zu aggregieren und zu artikulieren. Dazu hatte die MAS recht früh begonnen, Artikulations- und Aggregationsmechanismen zu institutionalisieren. Dies drückte sich zunächst im politischen Diskurs aus. Evo Morales war mit dem Versprechen angetreten, eine Regierung der sozialen Bewegungen zu bilden. Stets betont er, nur dem Volke zu gehorchen. Die Regierung sieht sich als Sprachrohr der sozialen Bewegungen, öffentliche Ämter werden von Führern aus den diversen Organisationen besetzt. Dies ist jedoch nicht spannungsfrei, denn häufig vertreten diese die Interessen ihrer Unterstützer, nicht aber die Interessen weiter Teile der Gesellschaft. Um Interessen besser zu aggregieren und in die Politik der MAS einfließen zu lassen und zur Kontrolle der Regierung durch die sozialen Bewegungen, wurde der "Mecanismo Nacional de Participación y Control Social" (Nationaler Mechanismus zur Teilhabe und sozialen Kontrolle) geschaffen. Da aber die Regierung definiert, wer als soziale Bewegung anerkannt ist und eingeladen wird, und da die Regierung die zuverhandelnde Agenda setzt, dient dieser Mechanismus nur bedingt der "sozialen Kontrolle" und noch weniger der "Teilhabe".


Gestaltungs- und Innovationsfähigkeit

Zentrales Element und politischer Baustein beider Bewegungen war die Schaffung einer neuen Verfassung. Diese sollte Dreh- und Angelpunkt einer neuen, demokratischeren Politik sowie der Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftsmodell sein. Entsprechend groß waren die Erwartungen an die Gestaltungsfähigkeit der politischen Akteure. Und tatsächlich, die neuen Verfassungen spiegeln die zentrale Forderung von MAS und Alianza País nach mehr Partizipation und Protagonismus in der Gestaltung der Politik wider. So gibt es nun die Möglichkeit, mittels Referendum alle gewählten Staatsvertreter, inklusive den Präsidenten, abzuwählen. Ebenso können wichtige politische Entscheidungen mittels Referendum beim Volk abgefragt werden, und Bürger können Gesetzesinitiativen in den legislativen Prozess einleiten. Bürger können nicht nur Gesetzesinitiativen einbringen, sie können den kompletten Prozess der Entwicklung, von der Planung über Budgetierung, Management, Kontrolle bis zur Evaluierung begleiten. Dazu dient in der Theorie, in Bolivien der bereits beschriebene Mecanismo Nacional de Participación y Control Social. Auch Ecuador hat mit der Verfassung ein Instrument geschaffen, welches die Teilhabe einzelner Bürger am demokratischen Prozess ermöglichen soll. Der Consejo de Participación Ciudadana y Control Social (Rat für Bürgerbeteiligung und soziale Kontrolle) besteht aus sich freiwillig engagierenden Bürgern und sozialen Organisationen und hat die komplexe Aufgabe, als öffentliche Kontrollinstanz für Transparenz zu sorgen und darüber zu wachen, dass staatliche Institutionen sich an die Gesetze halten. Darüber hinaus hat der Rat die Fakultät, Personen für die Besetzung von öffentlichen Ämtern vorzuschlagen. Parteien hingegen dürfen in diesem Rat nicht vertreten sein. Somit ist der Rat auch der Versuch Parteistrukturen zu zerschlagen. Alberto Acosta, einst Präsident der verfassungsgebenden Versammlung und heute einer der schärfsten Kritiker des Regierungsstils Rafael Correas, sieht in diesem Rat zwar einen legitimen und guten Ansatz um Bürgerbeteiligung zu organisieren, in der Praxis aber, und wegen der immer stärker werdenden Polarisierung und Zuspitzung auf den Präsidenten, bleibt er ohne Wirkung.


Ausblick

Den politischen Wandel, den Evo Morales und Rafael Correa seit ihren Wahlen zum Präsidenten und der Einberufung von verfassungsgebenden Versammlungen jeweils angestoßen haben, war als grundlegende Transformation des demokratischen Systems konzipiert. Unbestritten ist, dass die Veränderungen im politischen Prozess weitreichend und progressiv waren. Doch häufig sind den Versprechen und der Rhetorik keine Taten gefolgt. Der Euphorie über die Veränderungen ist Ernüchterung gefolgt. Beide Präsidenten scheinen die Polarisierung als politische Strategie entdeckt zu haben. Zur Machtsicherung und zur Bekämpfung all jener, die sie als politische Feinde und als Feinde der Revolution identifizieren, sind sie bereit, auf äußerst fragwürdige Maßnahmen zurückzugreifen. Dabei sind ehemalige Weggefährten und Unterstützer der Bewegung trotz allem nach wie vor von der Wichtigkeit und Notwendigkeit der neuen Verfassungen überzeugt. Die Präsidenten aber scheinen mit ihrem Versprechen für mehr Partizipation durch mehr Demokratie zu scheitern. Sollte es den politischen Bewegungen MAS und Alianza País nicht gelingen, auf demokratischem Wege die diversen Interessen in der Bevölkerung zu aggregieren und in reale Politik umzuwandeln, so wird wohl der angestoßene Transformationsprozess schon bald wieder ins Stocken geraten.

(1) Bewegung zum Sozialismus - Politisches Instrument für die Souveränität der Völker.


Stephan Reichert ist Politikwissenschaftler und im Referat Lateinamerika und Karibik der Friedrich-Ebert-Stiftung zuständig für die Länder Bolivien, Ecuador, Peru und Venezuela.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2011, Heft 185, Seite 30-34
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. November 2011