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LATEINAMERIKA/1414: Brasilien - Immobilienspekulation im Vorfeld der Fußball-WM, Tausende vertrieben (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 24. Mai 2013

Brasilien: Immobilienspekulation im Vorfeld der Fußball-WM - Tausende aus Häusern vertrieben

von Fabiola Ortiz



Rio de Janeiro, 24. Mai (IPS) - Während sich Brasilien darauf vorbereitet, 2014 die Fußball-WM und zwei Jahre später die Olympischen Spiele auszurichten, kommt es hinter den Kulissen zu Menschenrechtsverstößen und autoritären Interventionen der Behörden. Fast 30.000 Brasilianer sahen sich gezwungen, ihre Wohnungen zu räumen, wie das 'Volkskomitee Weltmeisterschaft und Olympiade Rio' in einem neuen Bericht feststellt. Der Nichtregierungsorganisation gehören etwa 50 soziale Bewegungen, Gewerkschaften und Wissenschaftler an.

Dem am 15. Mai veröffentlichten Report 'Großveranstaltungen und Menschenrechtsverletzungen in Rio de Janeiro' zufolge mussten allein in der Zuckerhut-Metropole, wo in drei Jahren der Startschuss für die Olympiade fällt, etwa 3.000 Familien umziehen. Weiteren 7.800 Familien steht ein ähnliches Schicksal bevor.

Die Vertreibung Tausender Menschen und die Privatisierung öffentlicher Plätze sind demnach die Kehrseite der Sportprojekte in dem größten lateinamerikanischen Land. Im Juni 2014 wird in zwölf Städten Brasiliens die Fußball-Weltmeisterschaft ausgetragen. "Unsere Befürchtungen haben sich bestätigt. Die Vorteile, die so groß angepriesen werden, haben in Wirklichkeit eine Kehrseite. Dahinter verbirgt sich eine elitäre Gesellschaft, in der Diskriminierung und Ungleichheit vorherrschen", sagt der Soziologe und Stadtplaner Orlando Alves dos Santos Jr., der die Studie koordiniert hat.

Nach Ansicht des Wissenschaftlers am Observatorium der Metropolen und am Institut für Stadtplanung der Bundesuniversität von Rio de Janeiro sind die Millionen-Investitionen, die unter dem Deckmantel der Vorbereitungen auf die Sportereignisse getätigt werden, in Wirklichkeit Teil einer großen städtebaulichen Reform.


Behörden wird gewaltsames Vorgehen vorgeworfen

Der Report hebt hervor, dass die Veränderungen die soziale Ausgrenzung in den Städten enorm vorantreiben. "Wir zeigen, dass Menschen aus den für Investoren interessanten Zonen umgesiedelt werden. Diese Gebiete befinden sich im Zentrum, Süden und Norden von Rio de Janeiro, wo die Immobilienpreise stark gestiegen sind", sagt dos Santos Jr. Er wirft den Behörden vor, die betroffenen Familien nicht informiert zu haben, mit Gewalt vorgegangen zu sein und die Menschenrechte verletzt zu haben. "Was in dieser Stadt vor sich geht, ist sehr schlimm."

Christopher Gaffney, ein Experte aus den USA für Sportpolitik und Sicherheitsmaßnahmen bei Großereignissen, sieht die Vertreibungen und die Privatisierungen öffentlicher Plätze als Versagen der Demokratie in dem Land mit mehr als 195 Millionen Einwohnern.

"Diese Politik ist ein großer Rückschritt. Daran zeigen sich eine Umkehrung von Werten und die Abschaffung der Rolle der Regierung als Garant wesentlicher Dienstleistungen für die Bürger wie Wohnen und Kultur. Vertreibungen sind klare Verstöße gegen das Recht auf Wohnung."

Gaffney, der dem Volkskomitee angehört, kritisiert, dass der Vertreibung Tausender Familien kein schlüssiges Kriterium zugrundeliege. Diejenigen, die davon betroffen seien, klagten über einen Mangel an Dialog, Transparenz und Information.

"Es gibt Fälle von Familien, die ihre Häuser räumen mussten und noch nicht einmal genug Zeit hatten, ihren Besitz mitzunehmen. Mit anderen wurde über den Auszug verhandelt, während die Bulldozer schon bereitstanden. Das erzeugt enormen psychologischen Druck."

Wie Gaffney erklärt, wurde nur wenigen Familien eine angemessene Ersatzwohnung zugewiesen. Die Behörden zahlten zwar Entschädigungen, doch reichten diese nicht aus, um ein neues Heim zu kaufen. Andere Familien konnten nur unter der Auflage in eine neue Wohnung ziehen, dass der Haushaltsvorstand eine Arbeit im formalen Sektor und ein Bankkonto hatte. Viele waren aber nicht in der Lage, diese Bedingungen zu erfüllen.

Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro dazu führen werden, dass die Stadt "noch ungleicher wird, Tausende Familien ausgegrenzt und ganze Viertel zerstört werden. Die meisten Vorteile des Projekts werden wenigen wirtschaftlich und sozial Privilegierten zugutekommen."


Budget inzwischen fast verdoppelt

Einer der Hauptkritikpunkte ist, dass die öffentlichen Plätze im Wert von Millionen US-Dollar zu Privateigentum erklärt werden. In Rio de Janeiro werden Sportstätten wie das legendäre Maracaná-Stadion renoviert, hinzukommen zahlreiche Infrastruktur- und Transportprojekte. Das anfängliche Budget für Investitionen in der Stadt für die bevorstehenden Ereignisse ist inzwischen um 95 Prozent gestiegen - von zunächst 1,1 Milliarden auf nun 2,1 Milliarden Dollar. Etwa ein Viertel des Betrags entfällt auf den Bau und die Instandsetzung von Stadien.

Das Maracaná-Stadion, wo das Endspiel der Fußball-WM und die Eröffnungszeremonie der Olympiade stattfinden werden, steht im Fokus der Kontroverse, weil es für 35 Jahre an ein privates Konsortium verpachtet wurde. Die Kosten für die Arbeiten sind von ursprünglich 370 Millionen auf 600 Millionen Dollar gestiegen. (Ende/IPS/ck/2013)


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http://www.apublica.org/wp-content/uploads/2012/09/dossic3aa-megaeventos-e-violac3a7c3b5es-dos-direitos-humanos-no-rio-de-janeiro.pdf
http://web.observatoriodasmetropoles.net/projetomegaeventos/
http://www.ipsnews.net/2013/05/official-bullying-lurks-behind-prep-for-olympics-in-brazil/
http://ipsnoticias.net/redir.php?idnews=102850

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IPS-Tagesdienst vom 24. Mai 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Mai 2013