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LATEINAMERIKA/1481: Brasilien wählt eine Präsidentin, aber welche Politik? (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Brasilien wählt eine Präsidentin, aber welche Politik?

von Yesko Quiroga
September 2014



• Am 5. Oktober 2014 werden in Brasilien die achten allgemeinen Wahlen seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1985 stattfinden. Fast 143 Millionen Wählerinnen und Wähler werden spätestens mit dem zweiten Wahlgang am 25. Oktober die voraussichtlich neue Präsidentin, 27 Landesregierungen und Landesparlamente, drei Viertel des Senats sowie die Zusammensetzung des gesamten Abgeordnetenhauses bestimmen.

• Die letzten 20 Jahre waren durch die Polarisierung zwischen der Arbeiterpartei (PT) und den Sozialdemokraten (PSDB) geprägt. Ein großer Teil der relativ jungen Bevölkerung kennt nur diese politische Konstellation, die auch die Wählerschaft in zwei sozioökonomische Schichten teilte: Je ärmer, desto eher ging die Stimme an den Kandidaten bzw. die Kandidatin der PT. Je wohlhabender, desto eher fiel die Entscheidung für die PSDB.

• Seit 2002 konnten für die Wahl von Luiz Inácio Lula da Silva und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff (PT) Mehrheiten mobilisiert werden. Diese wurden von einer Viel-Parteien-Koalition parlamentarisch gestützt wurden. Die PT selbst verfügt nur über 17 Prozent der Sitze im Abgeordnetenhaus.

• Die Wiederwahl von Rousseff schien relativ sicher, bis der Tod des Präsidentschaftskandidaten der sozialistischen Partei (PSB), Eduardo Campos, sieben Wochen vor den Wahlen zu einer überraschenden Veränderung der Kräfteverhältnisse führte.

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Die Rückkehr der Marina Silva

Eduardo Campos, Präsident der sozialistischen Partei PSB und Präsidentschaftskandidat einer Sechs-Parteien-Koalition kam Mitte August durch einen Flugzeugabsturz ums Leben. Campos - Enkel eines bekannten Politikers, Minister in der ersten Regierung von Lula da Silva und Gouverneur des Bundesstaates Pernambuco - war 2013 aus der Regierungskoalition ausgeschert, um seine eigenen Ambitionen zu verfolgen.

Wenige Monate zuvor war Marina Silva überraschend der PSB beigetreten und zur Vizepräsidentschaftskandidatin ernannt worden. Über 20 Jahre war Silva Mitglied der PT gewesen, war Gemeinderätin, Abgeordnete und Senatorin. 2003 übernahm sie in der Regierung Lula das Amt der Umweltministerin, von dem sie 2008 jedoch aufgrund politischer Differenzen zwischen der Wirtschaftspolitik und dem Umweltschutz zurücktrat. Anfang 2009 war sie schließlich auch aus der Partei ausgetreten. Bei den Präsidentschaftswahlen 2010 kandidierte sie für die grüne Partei PV und erhielt aus dem Stand rund 19 Prozent der Stimmen. Anfang 2013 gründete sie mit ihren Getreuen das sogenannte Nachhaltigkeitsnetzwerk (»Rede Sustentabilidade«), scheiterte für die Teilnahme an den Wahlen 2014 jedoch an der formellen Einschreibung der neuen Partei.

Nachdem Silva der PSB beigetreten war, versuchten Campos und sie sich als »dritten Weg« zur bisherigen Politik der PT und der PSDB zu positionieren, da diese nicht mehr die Kraft für Veränderungen aufbringen würden. Dabei war es gerade Campos, der diese Politik idealtypisch verkörperte - so war er mit seiner Partei selbst an den letzten drei Regierungen beteiligt und durch deren Erfolge politisch aufgestiegen. Zudem verfolgte auch er die traditionelle Strategie, pragmatisch statt programmatisch definierte Allianzen zu bilden, um Regierungsmehrheiten in der zersplitterten Parteienlandschaft herzustellen.

Nach Campos Tod wurde Marina Silva als neue Präsidentschaftskandidatin nominiert. Ihr gelang es, die angepriesene »neue Form der Politik« wesentlich überzeugender zu transportieren und sich in den Umfragen sofort an vorderster Stelle zu platzieren. Was für eine Politik von der Außenseiterin letztlich zu erwarten ist, bleibt trotz eines 250 Seiten langen Regierungsprogramms jedoch unklar.

Eine neue Politik?

Marina Silva hat sich in wichtigen Politikfeldern weniger mit Neuerungen als mit Hybridlösungen zwischen die beiden Blöcke von PT und PSDB gestellt. Während sie in der Sozialpolitik und bei Fragen der Beteiligung den traditionellen Forderungen der PT nahesteht, vertritt sie in der Wirtschaftspolitik eher den wirtschaftsliberalen Kurs der PSDB - teilweise auch auf Kosten ihrer bisherigen Positionen in Bezug auf Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Ihre Wirtschaftsberaterinnen und Berater arbeiteten bereits mit dem ehemaligen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso (1995-2002) zusammen, dessen wirtschaftliche Leitlinien wieder strikt verfolgt werden sollen: Anti-Inflationspolitik, Zinsanpassungen und Austerität hätten dann wieder Priorität vor Beschäftigung und Einkommenswachstum. Staatsinterventionismus wie auch der Staatsapparat sollen reduziert werden, und die angekündigte Steuerreform rekurriert stärker auf Vereinfachung und Unternehmensentlastung als auf Steuergerechtigkeit. Ihr Vizepräsidentschaftskandidat bildet dabei die Brücke zur Agrarwirtschaft, die der Kandidatin traditionell kritisch gegenübersteht. Genetisch modifiziertes Saatgut, die früher heftig kritisierten Staudammprojekte sowie das Waldgesetz scheinen nun kein Problem mehr.

Zur Koordinierung ihres Regierungsprogrammes stehen Silva zwei Vertreter der brasilianischen Geld-Elite zur Seite. Gewerkschaften tauchen in ihrem Umfeld so gut wie nicht auf. Arbeitsmarktpolitik und Industriepolitik haben nur wenig Raum gegenüber der Handelspolitik und einer Reduktion protektionistischer Instrumente.

Ihre Mitgliedschaft in einer der größten evangelikalen Kirchen der Pfingstbewegung (Assamblie of God) erklärt ihre konservativen Positionen, insbesondere in Bezug auf Schwangerschaftsabbruch und die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften, aber auch bei Fragen embryonaler Stammzellenforschung oder der Drogenpolitik. Gerade die großen evangelikalen Kirchen lehnen die PT für ihre Positionen in diesen Fragen vehement ab. Generell kann sich aber kein Präsidentschaftskandidat bzw. -kandidatin offen gegen die Kirchen stellen.

Für die Umsetzung von Regierungsvorhaben im Kongress wird Silvas Regierungskoalition bei Weitem zu klein und somit von der Unterstützung anderer Parteien abhängig sein. Den hierfür notwendigen politischen Handel des Gebens und Nehmens hat Silva jedoch bisher abgelehnt. In Fragen der Umsetzbarkeit ihrer Vorhaben werden politische und gesellschaftliche Widersprüche sowie Machtstrukturen zugunsten einer Zusammenarbeit der »Besten« - gleich welcher politischen und sozialen Herkunft - ausgeblendet. So sollten sich Lula und Cardoso ihrem Projekt ebenso anschließen wie die Unternehmerinnen und Unternehmer, das Agrarbusiness, Umweltaktivistinnen und - aktivisten, Millionärinnen und Millionäre sowie die führenden Köpfe der Gewerkschaften und sozialen Bewegungen.

Hinter ihrer »neuen Form der Politik«, mit der die für Brasilien schädliche Polarisierung zwischen den Blöcken aufgehoben werden soll, stehen jedoch viele der bekannten Mechanismen: Silva versteht Parteien als Vehikel für Kandidaturen und nicht als programmatischen Rahmen. Gleichzeitig geht ihre Koalition in den Bundesländern ebenso pragmatische Koalitionen mit den Gegnern der nationalen Ebene ein. Machtgruppen aus Wirtschaft und Kirche konnten Einfluss auf das Regierungsprogramm nehmen und ihr professioneller und streng personalisierter Wahlkampfauftritt funktioniert genauso wie bei den anderen Parteien. Silva ist vor allem ihr eigenes Programm.

Mit Erfolg hat sie nicht nur den Lagerwahlkampf zwischen den Koalitionen um PT und PSDB aufgebrochen, sondern auch die Präferenzen der Wählerinnen und Wähler in Bewegung gebracht. Silva hat Chancen, die Wahlen zu gewinnen. Hierfür gibt es im Wesentlichen drei Gründe, die sowohl in ihrer Person als auch in der politischen Konjunktur verankert sind:

• Marina Silvas politisches und privates Leben gleicht dem Lulas: Aus ärmsten Verhältnissen stammend, gelang beiden trotz widriger Umstände nicht nur der gesellschaftliche Aufstieg, sondern auch der Aufbau einer hohen politischen Glaubwürdigkeit.

• Der Tod Campos' wurde mit einer massiven Berichterstattung emotional aufgeladen und konnte für die neue Präsidentschaftskandidatin politisch nutzbar gemacht werden.

• In der brasilianischen Bevölkerung ist in einem relativ kurzen Zeitraum der massive Wunsch nach politischem Wandel entstanden, der vor allem im sozialen Wandel der letzten Dekade begründet liegt und gegen die bestehende Regierung kanalisiert werden konnte.

Zwölf Jahre PT: Weiter so mit Dilma Rousseff?

Die Entwicklungserfolge der letzten Dekade stellen für die erneute Kandidatur Dilma Rousseffs kein Heimspiel mehr dar. Zwar wirken die bedeutenden sozioökonomischen Trends, die nach der Wahl von Lula im Jahr 2002 in Gang gesetzt wurden bis heute fort, garantieren unter der neuen politischen Konstellation jedoch keinen Wahlerfolg mehr. Weder der Regierung noch der PT ist es gelungen, in der Gesellschaft ein auf dem bisherigen Fortschritt aufbauendes positives Narrativ zu verankern. Im Gegenteil ist die Stimmung schlechter als die Lage und richtet sich vehement gegen Regierung und PT.

Nicht zuletzt ist dies der politisch motivierten Inszenierung von Problemlagen sowie der Verallgemeinerung konjunktureller Phänomene geschuldet, die im Vorfeld der Wahlen propagiert wurden. Die großen Medienkonzerne haben hierbei klare Präferenzen: Die Konvergenz zwischen dem Wahlkampf der Opposition und der medialen Berichterstattung führte zu einer erfolgreichen Beeinflussung der Erwartungen im In- und Ausland, wofür auch die Fußballweltmeisterschaft instrumentalisiert wurde. So ist es wesentlich besser als bei den letzten Wahlen gelungen, die öffentliche Meinung mit der Perzeption einer bevorstehenden Krise aufgrund von Regierungsversagen zu beeinflussen und die Notwendigkeit eines politischen Wandels in der öffentlichen Meinung zu prägen.

Der Wunsch nach Wandel ist jedoch nicht nur ein Konstrukt. Ohne die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Dekade wäre der Stimmungsumschwung nie so eindeutig ausgefallen. Die soziale Mobilität ging sowohl mit einem Wertewandel als auch mit neuen gesellschaftlichen Erwartungen und konkreten Ansprüchen an den Staat einher, denen dieser unter den gegebenen Ausgangsbedingungen, den finanziellen Spielräumen sowie den existierenden Machtverhältnissen nicht gerecht werden konnte.

Dies ist einer der ursächlichen Gründe für die großen Demonstrationen im Jahr 2013. Der durch steigende Beschäftigung und Einkommen ausgelöste soziale Fortschritt hat Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer überhaupt erst in die Lage versetzt, für eine Verbesserung der Lebensqualität einzutreten. Denn trotz der wichtigen Entwicklungsfortschritte sind die Lebensrealitäten eines Großteils der brasilianischen Bevölkerung weiterhin prekär. Gefordert werden breitere und qualitativ hochwertige öffentliche Dienstleistungen für die Mehrheit der Bevölkerung, deren sozialer Aufstieg von besserer Bildung, sicheren Arbeitsplätzen, einem funktionierenden Gesundheitssektor und bezahlbarem Nahverkehr abhängt. Diese wachsende soziale Gruppe einer »neuen Schicht von Arbeiterinnen und Arbeitern« - hierunter besonders junge Menschen - vergleicht die Situation nicht mehr mit der vor zehn Jahren, sondern fordert Lösungen für die Defizite von heute. Sie lehnen dabei nicht nur die Parteien insgesamt ab, sondern verstehen ihren sozialen Aufstieg auch nicht als Resultat politischer Veränderungen.

Alle Parteien und Gewerkschaften haben diese Entwicklungen nicht erkannt und wurden von der Wucht der Demonstrationen Mitte 2013 überrascht. Vor allem die PT leidet darunter. Einerseits wurden ihre Erfolge der letzten Dekade von der Bevölkerung bereits als selbstverständlich absorbiert: Arbeitslosigkeit und Hunger - die Hauptthemen des Wahlkampfes von 2002 - sind als mobilisierende Faktoren verschwunden; ebenso wie die Verringerung der Armut, die Fortschritte beim Ausbau des Sozialstaates oder die Erhöhung der Einkommen für die untersten gesellschaftlichen Gruppen. Im Vordergrund stehen nun Mängel, für welche die Bundesebene mitunter gar nicht verantwortlich ist - etwa die intransparente Privatisierung des Nahverkehrs in den Metropolen, die lange vor der Regierungsübernahme durch Lula erfolgte.

Zudem sind Regierung und PT nach zwölf Jahren Teil eines politischen Systems geworden, das schnelleren Fortschritten - wie sie derzeit von der Bevölkerung eingefordert werden - eher entgegenwirkt und für dessen notwendige Reform nie eine Mehrheit gefunden wurde. So kommt auch das von Regierung und PT vorgeschlagene Plebiszit über eine Veränderung der Verfassung, das nach den Protesten von 2013 auch von zahlreichen Sozialorganisationen gefordert wird, nicht voran.

Ein politisches System ohne Glaubwürdigkeit

Für die Mehrzahl der Parteien steht nicht das Programm oder die Identität im Vordergrund, sondern ausschließlich der Zugang zu Machtpositionen, die für die Zustimmung zu Regierungsinitiativen verhandelt werden. Das von der brasilianischen Politikwissenschaft als »Koalitionspräsidentialismus« gekennzeichnete System erzwingt widersprüchliche Allianzen zwischen den Parteien, bei denen es weniger um die großen Themen der Nation als vielmehr um einen opportunistisch wahrgenommenen Handel geht.

Hierzu trägt auch die im Wahlgesetz verankerte private Finanzierung von Wahlkämpfen bei, in der nicht nur die oftmals niedrige Qualität der brasilianischen Politik, sondern auch Korruption, Klientelismus und politische Einflussnahme der Eliten ihren Ursprung haben. Überparteiliche Gruppen von Parlamentariern und Parlamentarierinnen lancieren, stoppen oder verändern oftmals wirksame Gesetzesinitiativen der Parteifraktionen oder der Regierung. Ebenso bestimmt die Finanzierung vieler Kandidaturen durch Unternehmen die Zugehörigkeit zu diesen Interessenvertretungen im Parlament, etwa im Bereich der Landwirtschaft, des Bausektors, des Großhandels oder der Kirchen.

Es wird daher immer schwieriger, die Unterschiede zwischen den Blöcken noch auszumachen. Vor allem auf die progressiven Parteien wirkt sich dieses im System angelegte Glaubwürdigkeitsproblem negativ aus, da sie zwar grundlegende Veränderungen anstreben, für eine Regierungsfähigkeit aber genau jene Allianzen eingehen müssen, die auf einen Status quo hinwirken.

Die Wirtschaft spielt auf Wechsel

In den letzten vier Jahren lagen die Wachstumsraten deutlich unter denen der Vorjahre. Für 2014 ist ein Wachstum von unter einem Prozent zu erwarten. Hierfür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Zum einen sind die Effekte der internationalen Finanzkrise auch in Brasilien zu spüren; zum anderen durchläuft die brasilianische Industrie eine Krise, die in erster Linie dem überbewerteten Wechselkurs sowie der Hochzinspolitik des Landes geschuldet ist. Alle industriepolitischen Anstrengungen der Regierung Rousseff konnten die negativen Auswirkungen der bereits unter der Regierung von Fernando Henrique Cardoso gesetzten Geld- und Währungspolitik nicht ausgleichen. Mehr noch: Der bisher einzige Versuch der letzten 20 Jahre, die Zinsen zwischen 2012 und 2013 auf ein vertretbares Niveau zu senken, scheiterte letztlich an den mächtigen Interessen derer, die dadurch beeinträchtigt worden wären.

Ein wichtiger Teil der Wirtschaft setzt daher eindeutig gegen die Regierung. Hier wiederholt sich ein ähnliches Muster wie bei der ersten Wahl Lulas, als bereits der bevorstehende Untergang der brasilianischen Wirtschaft vorhergesagt worden war. Die Tatsache, dass die Gewinne in der letzten Dekade immens gewesen sind, ändert daran nur wenig. Der Kurs des Ibovespa, des führenden brasilianischen Aktienindex, korreliert eindeutig mit den Umfragewerten. Jeder Fall der Präsidentschaftskandidatin Rousseff in den Umfragen wird von einem Anstieg des Index begleitet und umgekehrt.

Wer wird Präsidentin? Umfragen und Chancen

Die Nominierung von Silva hat die politische Konjunktur im Land gründlich verändert. Kurz vor den Wahlen kann nicht vorhergesagt werden, welche der beiden Frauen die zukünftige Präsidentin Brasiliens sein wird. Aus dem ersten Wahlgang wird Dilma Rousseff voraussichtlich mit 36 bis 39 Prozent vor Marina Silva mit 28 bis 33 Prozent hervorgehen. Aécio Neves (PSDP) liegt mit etwa 15 Prozent auf dem dritten Platz. Zum ersten Mal seit 1995 würde die PSDB es damit nicht schaffen, ihren Kandidaten in den zweiten Wahlgang zu bringen. Die Partei der brasilianischen Eliten, mit ihren Hochburgen im Südosten und Süden des Landes, hat durch die lange Zeit in der Opposition und Abspaltungen an Substanz verloren. Aécio Neves, Enkel des Ex-Präsidenten Tancredo Neves, verkörpert mit seinem durchaus sympathischen Auftritt letztlich dennoch die traditionelle Politik Brasiliens.

Im zweiten Wahlgang liegen Silva und Rousseff Kopf an Kopf. Eventuelle Skandale - ob konstruiert oder nicht - könnten ebenso entscheidend werden wie die fünf bis sieben Prozent an Unentschiedenen in der Bevölkerung. Marina Silva baut darauf, im zweiten Wahlgang einen wichtigen Teil der Stimmen der PSDB-Wählerschaft zu erhalten, aus deren Sicht sie das kleinere Übel darstellt. Dennoch bestehen Widersprüche, sodass Wanderungen der Wählerinnen und Wähler noch im letzten Moment möglich sind. Dafür ist vor allem entscheidend, ob Silva in der Lage sein wird, die Segmente der Wählerinnen und Wähler anzuziehen, die sich mit ihrem diffusen Wunsch nach Wandel von den beiden großen Blöcken nicht (mehr) vertreten fühlen. Die Glaubwürdigkeit ihres Diskurses der Nachhaltigkeit sowie ihres Versprechens einer neuen Politik wird dabei durch die von Campos zuvor eingegangenen politischen Abkommen mit Parteien und diversen Wirtschaftssektoren auf die Probe gestellt. Die Änderung politischer Positionen zugunsten von Interessengruppen verstärken diese Zweifel.

Dilma Roussef ist derzeit weit von ihrer komfortablen Lage im Jahr 2010 entfernt. Lula beendete sein Amt damals mit einer extrem hohen Popularität und konnte diese auf Rousseff übertragen. Nun geht es um jede einzelne Stimme. Dabei besitzt die PT den Vorteil, als einzige Partei über eine aktive Mitgliedschaft sowie eine organisatorische Struktur zu verfügen, die bis hinunter auf die Stadtteilebene im ganzen Land reicht. Bereits mehrmals gelang es der Partei, das Ruder noch im letzten Moment herumzureißen. Aufgrund des negativen Klimas wird es die PT in diesen Wahlen aber wesentlich schwerer haben, Stimmen über ihr eigenes Potenzial von etwa 30 Prozent hinaus zu mobilisieren.

Lula hatte Stimmen jenseits des Potenzials der PT nicht nur durch die Allianzen angezogen, die er letztlich mit ehemaligen politischen Gegnern einging, sondern vor allem durch seine Fähigkeit, Brücken zu bauen. Dilma Rousseff konnte zur eigenen Partei nie eine so affektive Beziehung aufbauen und - im Gegensatz zu Lula - auch nicht die Herzen der Brasilianerinnen und Brasilianer erobern. Das so oft eingeforderte Auftreten als »effizienter Verwalter« bringt in Brasilien nicht unbedingt die Stimmen der Wählerinnen und Wähler, und es erleichtert auch nicht die Beziehungen zum Parlament. Dennoch steht eindeutig auf ihrer Habenseite, dass sie der unter Lula einsetzenden sozialen Mobilität trotz negativer wirtschaftlicher Entwicklung Kontinuität gegeben hat. Daher wird sie in den ärmsten Regionen die meisten Stimmen erhalten. Die Wahlen 2014 dürften daher auch die letzten werden, die nach dem bisherigen Schema und mit dem gleichen Diskurs eventuell noch gewonnen werden könnten. Innerhalb der PT bedarf es sowohl einer programmatischen Erneuerung als auch der Wiederherstellung der für den Aufstieg der Partei so wichtigen Allianzen mit sozialen Organisationen und der Lebenswelt der heutigen Jugend. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Die PT ist eine der wenigen Parteien, die über Strukturen, eine Debattenkultur und das nötige Personal für einen solchen Wandlungsprozess verfügt.

Eine neue Regierung unter Rousseff wird - trotz aller Abhängigkeit von den heterogenen Parlamentsallianzen - Wege finden müssen, um eine Reform des politischen Systems umzusetzen und verschiedene makroökonomische Variablen zu verändern. Nur so lassen sich die Forderungen einer ausdifferenzierten Gesellschaft erfüllen, deren Lebensstandard zwar gestiegen, für die Wohlstand aber weiterhin eine entfernte Größe ist.


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Yesko Quiroga ist Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Brasilien.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2014