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LATEINAMERIKA/1660: Mexiko - Der "Benzinpreiscoup" und die Proteste (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Mexiko
Der "Benzinpreiscoup" und die Proteste

Von Luis Hernández Navarro


(Mexiko-Stadt, 10. Januar 2017, la jornada) - Das Bild ist tausendfach als ein Symbol für die aktuelle Situation wiedergegeben worden. Am Ausgang eines von einer proletenhaften Menschenmasse geplünderten Kaufhauses trägt ein junger Mann einen riesigen neuen Bildschirm auf seinen Schultern. Mit diesem Bildschirm wird die Last aufgerechnet, zu den Armen in einem Land zu gehören, in dem diese Eigenschaft nicht nur eine materielle Tragödie sondern das Sinnbild einer sozialen Niederlage ist. An endlose Konsumfeierei gewöhnt, prahlen die Gebieter*innen des Geldes vorbehaltlos mit ihrem Vermögen. Ohne jede Scham stellen sie ihren Luxus zur Schau, als materielles Sinnbild für ihren Erfolg im Leben. Und die Parias ohne Eintrittskarte zum Schauspiel der Verschwendung schauen aus ihren bescheidenen Behausungen durch das Fernsehglas auf Prunk und Üppigkeit der Mächtigen. Bis sie die Gelegenheit haben, Revanche zu nehmen.

Mit diesem Bildschirm hat sein neuer Besitzer die Illusion, sich erfolgreich in das Bankett der Reichen eingeschleust zu haben. Als Raubgut, zwei oder dreimal größer als die fast zehn Millionen Fernseher, die die Bundesregierung unter dem Vorwand des Wechsels vom Analog- zum Digitalfernsehen in 2015 verschenkte, verpflichtet sein neuer Vermögensgegenstand aber im Gegensatz zu den Geschenken während der Wahlen 2015 weder seine Stimme noch seine Loyalität. Dieser Fernseher ist zudem seine persönliche Entschädigung angesichts des nicht enden wollenden Raubes der Politiker*innen. Wenn die ehemaligen Gouverneure von Veracruz, Chihuahua, Quintana Roo, Coahuila und Nuevo León den öffentlichen Haushalt ausraubten ohne dafür irgendeine Strafe zu erleiden, warum sich nicht einen Vermögensgegenstand aneignen, ohne dafür bezahlen zu müssen? Diesen Bildschirm bekam der junge Mann, indem er das Gesetz brach. Aber machen das etwa die da Oben nicht so? Er nahm ihn an sich, einen Glücksfall und seinen Wagemut ausnutzend, in einem Akt, der jahrelang angestaute Wut und Rachsucht ausdrückte. Der "Benzinpreiscoup" brachte diese mit einem Schlag zum Vorschein.


Soziale Revolte oder Schockdoktrin?

Dies ist eine Erklärung für die Welle von Plünderungen, die mehrere Regionen des Landes erschüttert hat, beispielsweise die Bundesstaaten Mexiko, Veracruz, Hidalgo und Nuevo León. Es gibt jedoch auch Zweifel an dieser Version und ein anderes Erklärungsangebot: Ein Komplott. Der Raub, sagen einige, wurden von staatlichen Funktionär*innen als Teil einer Variante der "Schockdoktrin" organisiert, um das Eingreifen der Sicherheitskräfte gegen diejenigen zu rechtfertigen, die gegen die Benzinpreiserhöhungen aufbegehren, und so die Proteste der Bevölkerung zu entmutigen. Diese Strategie der Angst kombiniert Desinformation in den sozialen Netzwerken, öffentliche Aufrufe, Kaufhäuser zu stürmen, fehlenden Schutz der öffentlichen Sicherheitskräfte für Geschäfte mit Bevölkerungsgruppen, denen V-Männer und Polizisten Geld und Straffreiheit bei diesen Attacken anbieten, sowie Provokationen durch Gruppen wie Antorcha Campesina.

In den sozialen Netzwerken sind eine Menge Zeugenaussagen und Belege verbreitet worden, die diese Hypothese zu untermauern scheinen, vor allem in den Bundesstaaten Mexiko und Puebla. In mehr als einem Video sind raubende Polizisten zu sehen. Hat diese Strategie Erfolg gehabt? Ja und Nein. Ja, weil in verschiedenen Bevölkerungsteilen ein Klima von Schrecken und Ungewissheit geschaffen wurde, das ihre Beteiligung an Protesten verhindert hat. Ja, weil Gruppen des Privatsektors, die sich anfänglich gegen den "Benzinpreiscoup" stellten, nun ein hartes Durchgreifen fordern, um die Proteste zu beruhigen. Nein, weil die soziale Unzufriedenheit sich trotzdem weiter ausbreitet und kurzfristig keine Abschwächung in Sicht ist. Das Verhältnis der Zahl der Proteste zu den Plünderungen ist nach journalistischen Zählungen mindestens Fünf zu Eins. Die Plünderungen haben sich ausgeweitet, möglicherweise über die Kontrolle ihrer hypothetischen Schirmherren hinaus: laut Handelskammerverband Concanaco sind 800 Geschäfte betroffen.


800 Geschäfte geplündert

Sind die Überfälle auf große Kaufhäuser und Supermärkte also orchestrierte Aktionen von Regierungsakteur*innen oder Ausdruck sozialer Wut? Sehr wahrscheinlich beides. Selbst wenn sie in einem ersten Moment aus irgendwelchen Machtzirkeln angestiftet wurden, sind sie ebenfalls Ausdruck echter und angestauter sozialer Unzufriedenheit. Die Plünderung ist das sichtbarste Antlitz des derzeitigen Bevölkerungsaufruhrs, aber nicht das einzige. Im ganzen Land sind Versammlungen, Demonstrationen, freie Durchfahrt an den Autobahn-Mautstellen sowie Blockaden von Tankstellen, Fernstraßen, Bahnstrecken und Pemex-Komplexen organisiert worden. Ausdruck der Solidarität gibt es reichlich. Die LKW-Fahrer*innen, die in Chihuahua den Verkehr blockieren, sagen halb im Scherz, halb im Ernst, nie hätte sie so gut gegessen wie jetzt aufgrund der Unterstützung aus der Bevölkerung: Fleisch zum Frühstück, Mittagessen und Abendbrot.

Die Protest gegen den Benzinpreiscoup ist beispiellos, allgemein, amorph, spontan, ohne klare Richtung und ohne organisatorischen Fixpunkt. In der Praxis handelt es sich um zahlreiche regionale Proteste, jeder unterscheidet sich vom anderen. Unter den Unzufriedenen sind ganz vorne die LKW-, Bus- und Taxifahrer*innen, alle die, deren Arbeit direkt mit dem Treibstoffverbrauch zu tun hat. Sie haben viele der Straßenblockaden organisiert und einen hohen Preis bezahlt. Nicht wenige sind verhaftet. Aber an den Protestaktionen nehmen auch große Landwirtschaftsproduzent*innen, Kleinbäuer*innen, engagierte Bürger*innen, Hausfrauen, Akademiker*innen, Priester und Lehrer*innen teil. Der "Benzinpreiscoup" traf einen Teil der prekären Mittelschicht und trieb sie auf die öffentlichen Plätze. Die beeindruckende Demonstration in Monterrey legt davon ein Zeugnis ab.


Die Mächtigen sind uneins

Der Block, der die Macht innehat, ist zerbrochen. Die Gouverneur*innen von Sonora, Chihuahua und Tamaulipas fordern, die Benzinpreiserhöhung zu überdenken. Der Gouverneur von Jalisco ging noch einen Schritt weiter und vereinbarte einen Pakt mit Enrique Alfaro [oppositioneller Bürgermeister der Millionenstadt Guadalajara] und seiner Partei Movimiento Ciudadano. Noch deutlicher äußerte sich die Mexikanische Bischofskonferenz. Und das I-Tüpfelchen, das diesen Bruch in der Machtelite verdeutlicht, war die Ablehnung des von Präsident Peña Nieto vorgeschlagenen Wirtschaftspaktes durch den Unternehmerdachverband Coparmex.

Verwirrt hinkt ein bedeutender Teil der traditionellen sozialen und politischen Führungen der Opposition den Ereignissen hinterher. Ihre Verblüffung geht Hand in Hand mit der Unfähigkeit der Regierung, zu verstehen, was vor sich geht. In der Hitze des Gefechtes sind neue lokale Führungsrollen eingenommen worden. Die Demonstrationen am vergangenen 7. Januar in mindestens 25 Bundesstaaten scheinen ein Indikator für den sich ausweitenden landesweiten Protest zu sein. Der Forderung nach der Benzinpreissenkung folgte der Ruf nach dem Rücktritt des Präsidenten. Diese Demonstrationen verschiedener Größenordnung könnten ein Wendepunkt in der Fähigkeit sein, Gegenwehr zu organisieren.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2017

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