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NAHOST/1012: Türkei - Angst vor Bomben, Krieg in Syrien holt Afghanen im kurdischen Grenzgebiet ein (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 30. September 2013

Türkei: Angst vor Bomben - Krieg in Syrien holt Afghanen im kurdischen Grenzgebiet ein

von Karlos Zurutuza


Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Afghanen in der türkischen Kleinstadt Ceylanpinar
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Ceylanpinar, Türkei, 30. September (IPS) - In der Abenddämmerung, wenn die Schießereien heftiger werden, laufen die Menschen in Ceylanpinar schnell nach Hause. Das Gefühl der Angst, das sich dann in der Kleinstadt 800 Kilometer südöstlich von Ankara breitmacht, kennt Sha Mehmed nur allzu gut. Er war erst elf, als er sein Heimatdorf in Afghanistan verließ. Seitdem lebt er hier im türkisch-syrischen Grenzgebiet.

"Wir sind sehr beunruhigt, weil ganz in der Nähe schon drei Bomben eingeschlagen sind", erzählt der 42-Jährige, der in Baglan, 200 Kilometer nördlich von Kabul, geboren wurde. Seit 1982 ist Ceylanpinar sein Zuhause. Durch den Bürgerkrieg in Syrien wird die Stadt stärker in Mitleidenschaft gezogen als andere Orte in der Türkei.

Auf der anderen Seite der Grenze liegt Ras al-Ayn. Beide Städte sind so voneinander abgeschieden, als würde zwischen ihnen die Berliner Mauer verlaufen. Statt einer Mauer gibt es hier eine Eisenbahnstrecke, die auf beiden Seiten hinter Stacheldraht liegt. Entlang dieser Linie verläuft die 1921 festgelegte Grenze zwischen Syrien und der Türkei. Sie hat lokale Familien, kurdische ebenso wie arabische, auseinandergerissen, die den Preis für die Zugverbindung zwischen Berlin und Bagdad bezahlten.

Heute wird Ceylanpinar von verirrten Gewehrkugeln und Bomben von jenseits der Grenze heimgesucht. "Ich war erst drei, als wir hierher kamen", berichtet Yadigar Arzupinar. Der gebürtige Afghane kann sich zwar kaum noch an sein Heimatland erinnern, weiß aber genau, wie sich seine etwa 2.000 Landsleute ansiedelten. "1982 reiste Kenan Evren, ein Putsch-General und ehemaliger türkischer Staatschef, in offizieller Mission nach Afghanistan. Gleich nach seiner Rückkehr in die Türkei ließ er hier 300 Häuser für unsere Familien bauen", berichtet er.


Abwanderung nach Istanbul

Mangelnde Chancen in der Region und der nahe Bürgerkrieg in Syrien haben jedoch etliche Nachbarn veranlasst, nach Istanbul oder in die wichtigste Touristenstadt Antalya, 500 Kilometer südwestlich von Ankara, zu ziehen. Sie ließen einen Haufen grauer, schmuckloser Baracken entlang unbefestigter Straßen zurück.

"Möge Gott alle diejenigen verfluchen, die Krieg führen", meint die 75-jährige Gulshan, die aus Kundus, 230 Kilometer nördlich von Kabul stammt. "Stimmt es, dass die Türkei Al Qaeda dabei hilft, auf der anderen Seite zu kämpfen?", fragt sie und greift damit ein Gerücht auf, das seit Monaten durch Ceylanpinar geistert.

Dass das Leben in der Grenzstadt durch den Krieg jenseits der Bahnstrecke erheblich erschwert wird, liegt auf der Hand. Ismail Arslan, der Bürgermeister von Ceylanpinar und Mitglied eines mächtigen Bündnisses aus türkischen Kurden, zeigt sich über die aktuelle Lage "tief besorgt". "Bislang sind bereits vier Einwohner der Stadt getötet und mehr als 40 verletzt worden", sagt er. "Wir raten den Leuten zu Hause zu bleiben, wenn die Kämpfe zu heftig werden. Mehrere Menschen sind aber in den eigenen vier Wänden von Kugeln getroffen worden."

Wie Arslan erklärt, schmuggelt die türkische Regierung tatsächlich islamische Kämpfer über die Grenze nach Syrien. "In dem Gebiet wimmelt es inzwischen von Dschihadisten. Von der Türkei erhalten sie logistische Unterstützung. Verletzte werden von türkischen Krankenwagen in die Hospitäler gebracht." Ankara wolle damit die syrischen Kurden daran hindern, Kontrolle über ihr Territorium zu gewinnen, meint Arslan.

Seit Beginn der Unruhen in Syrien im März 2011 nehmen die etwa drei Millionen Kurden in der Türkei eine neutrale Position ein. Sie distanzieren sich gleichermaßen vom Assad-Regime in Damaskus und von der bewaffneten Opposition und kämpfen stattdessen um die Vorherrschaft in den Gebieten, in denen sie besonders zahlreich vertreten sind.


Türkische Regierung gegen Kurden-Staat in Syrien

Laut dem Distriktgouverneur Musa Ceri, der der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) angehört, freut sich die Türkei keineswegs darauf, dass syrische Kurden an der Grenze zur Türkei eine autonome Region ähnlich der im Nordirak errichten. Die Anschuldigungen des Bürgermeisters bestreitet er aber vehement. "So etwas würde meine Regierung nie tun", beteuert er.

Mit Arslan stimmt er aber darin überein, dass die Afghanen in der Stadt friedliche und hart arbeitende Menschen seien. Die übrige Bevölkerung habe niemals Grund zur Klage gehabt. Manche Afghanen haben in der neuen Heimat geheiratet. "Mein Vater ist Afghane und meine Mutter Kurdin. Zu Hause sprechen wir hauptsächlich usbekisch", berichtet Emirhan Celikale, der zwischen 20 und 30 Jahre alt ist.

Die gesamte afghanische Gemeinde in Ceylanpinar stammt ursprünglich aus Usbekistan. Sie bilden nach den Paschtunen und Tadschiken die drittgrößte Volksgruppe in Afghanistan. Aufgrund ihrer gemeinsamen Herkunft aus Zentralasien können sich Türken und Usbeken untereinander verständigen. Das hat den Zuwanderern die Integration in der Türkei erleichtert.


Afghanen wollen nicht mehr in Heimat zurück

Abdullah Önder, der einen hellblauen Turban und einen langen weißen Bart trägt, kam im Alter von 27 Jahren mit seiner Frau nach Ceylanpinar. "Vorher lebten wir an der Grenze zu Tadschikistan in einem schönen Steinhaus an einem Fluss", erzählt der Besitzer eines kleinen Krämerladens. "Von dort aus zogen wir nach Helmand, 731 Kilometer südwestlich von Kabul, und dann weiter in den Iran. Dort lebte ich mit meiner Frau über ein Jahr, bevor wir schließlich hierhin kamen."

Önder will aber nicht zurück nach Afghanistan. "Ich werde hier sterben", ist er überzeugt, und fragt, während er die Fensterläden seines kleinen Ladens herunterzieht. "Haben Sie etwa gesehen, dass sich in Afghanistan irgendetwas verbessert hat?" (Ende/IPS/ck/2013)


Link:

http://www.ipsnews.net/2013/09/its-afghanistan-again-in-a-turkish-town/

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IPS-Tagesdienst vom 30. September 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Oktober 2013