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NAHOST/1025: Libyen - Einigung von Jadu, Hochlandbewohner sorgen für Rechtstaatlichkeit (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 7. Januar 2014

Libyen: Einigung von Jadu - Hochlandbewohner sorgen für Rechtstaatlichkeit

von Karlos Zurutuza


Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Milizenkommandeur Ziad Zabala (zweiter von rechts) mit drei Polizisten
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Jadu, Libyen. 7. Januar (IPS) - In dem Berberdorf Jadu in den libyschen Nafusa-Bergen kennen offensichtlich alle Bewohner die neuen Regelungen. "Jeder, der kein Milizionär oder Polizist ist, muss 500 Dinar Strafe zahlen, wenn er Waffen bei sich hat", erklärt Younis Walid, der in dem Ort etwa 150 Kilometer südwestlich der Hauptstadt Tripolis lebt.

"Bei einem zweiten Verstoß verdoppelt sich das Bußgeld, und beim dritten Mal kommt man ins Gefängnis", sagt der 21-jährige Student, der Artikel fünf des sogenannten Jadu-Entwurfs für eine nationale Einigung mit seinen Worten wiedergibt. Am 25. Oktober hatten sich die Einwohner des Dorfes mit den bahnbrechenden Regelungen einverstanden erklärt.

In sechs grundlegenden Artikeln ist festgelegt, wie in dem Gebiet Sicherheit gewährleistet werden kann. "Sie sind elementar", meint der Rechtsanwalt Shokri Agmar. "Das Machtvakuum, das nach dem Krieg entstanden ist, drängt das Land in Richtung Chaos."

Fast drei Jahre nach dem Sturz von Machthaber Muammar al-Gaddafi, der von 1969 bis 2011 über Libyen herrschte, steht noch immer kein Termin für die Wahl einer mit 60 Mitgliedern besetzten Verfassunggebenden Versammlung fest, die ein neues Grundgesetz für das Land ausarbeiten soll.


Ethnische Minderheiten außen vor

Vor allem die ethnischen Minderheiten in dem nordafrikanischen Land sehen der Versammlung, die irgendwann im ersten Quartal 2014 erstmals zusammentreten soll, mit verhaltenem Enthusiasmus entgegen. Die Amazigh, Tuareg und Tubu haben in dem Gremium insgesamt nur sechs Sitze erhalten.

Die neue Regierung hat unterdessen Mühe, mit den zahlreichen bewaffneten Gruppen fertig zu werden. Diese Milizen fühlen sich nur lokalen oder individuellen Interessen verpflichtet. Im vergangenen November erlebte Tripolis den größten Anstieg von Gewalt seit dem Ende des Bürgerkriegs 2011. Ein friedlicher Protest gegen die Straffreiheit für Milizen in der Hauptstadt schlug in gewaltsame Auseinandersetzungen um, bei denen Dutzende Menschen getötet und fast 500 verletzt wurden.

Die Nachbarn in Zitan, einer arabischen Enklave in dem von Berbern dominierten Gebiet, seien nur deshalb noch nicht angegriffen worden, weil man wisse, "dass auch wir über eine mächtige Miliz verfügen", meint Agmar. Ähnlich sei es auch in anderen Teilen des Landes. "Alle libyschen Milizen bereiten sich auf den Krieg vor."

Artikel 1 des Jadu-Entwurfs gewährt den lokalen Milizen offizielle Anerkennung als "den neben der Polizei wichtigsten Sicherheitskräften in dem Gebiet". Wie ein Polizist in Jadu erklärt, gibt es außer ihm 14 weitere Kollegen am Ort. "Wir arbeiten zu fünft in Schichten, können aber nur kleinere Probleme lösen. Um größere Bedrohungen anzugehen, fehlen uns die nötige Ausbildung und Ausrüstung. Gemäß der Einigung sollen wir Unterstützung von der lokalen Miliz erhalten." Der Polizist will zwar seinen Namen nicht offenlegen, lässt sich aber fotografieren.

Während die höherrangigen Mitglieder der Truppen des ehemaligen Regimes nach der Revolution entlassen wurden, erhalten Polizisten noch staatliche Bezüge. Und die Kommunikation mit den Milizen scheint reibungslos zu funktionieren.


Gefahren auf den Straßen

Kommandeur Ziad Zabala kommt am Vormittag auf einen Kaffee vorbei. "Zum Glück ist Jadu einer der ruhigsten Orte in Libyen", sagt er und zeigt auf einer Landkarte Ausweichstraßen, die Einheimische nehmen, um halbwegs sicher nach Tripolis zu kommen. "Hier sind die Leute friedlich, aber wir müssen aufpassen und Aggressionen unserer Nachbarn in Zintan oder weiter unten im Tal verhindern."

Zabala berichtet, dass niemand die Straße nimmt, die direkt nach Jadu hinaufführt. "Man verliert wahrscheinlich sein Auto, wenn man wagt, dieses Territorium zu durchqueren", sagt der Paramilitär. Neben ihm sitzt Milizenchef Yousif Said, der bekräftigt, dass seine Truppe "unabhängig vom libyschen Innenministerium" ist. Aus dieser Sicht scheinen sich auch andere staatliche Institutionen in einer rechtlichen Grauzone zu befinden.

"In Jadu gibt es keine Gefängnisse. Deshalb haben wir uns mit der Haftanstalt in Gheryan, 60 Kilometer südöstlich von Tripolis, darauf verständigt, dass sie unsere Gefangenen bis zu deren Gerichtsverfanren aufnimmt", sagt Said.

Laut einem im Oktober veröffentlichten Bericht der Vereinten Nationen sitzen allerdings etwa 8.000 Menschen ohne formelle Anklage in Haft. Sie werden demnach verdächtigt, auf der Seite von Gaddafis Truppen im Bürgerkrieg gekämpft zu haben. Weitere Personen würden von lokalen Milizen unter Bedingungen festgehalten, die schlimmer seien als die in den offiziellen Gefängnissen.


Dorfälteste regeln Rechtsstreitigkeiten

In Artikel 4 des Jadu-Entwurfs werden die Familien ehemaliger Häftlinge, die nach dem Krieg entkamen, aufgefordert, diese Verwandten an die lokalen Behörden zu überstellen. Artikel 3 gibt den Dorfältesten volle Handhabe bei der Regelung von Streitigkeiten am Ort. "Diese Gruppe mit acht gewählten Mitgliedern erhält von jeher Unterstützung aus der Dorfgemeinschaft", erklärt Agmar. "Bei allen rechtlichen Auseinandersetzungen bitten die Leute die Ältesten um Hilfe. An die Behörden würden sie sich niemals wenden."

Nach den Zusammenstößen im vergangenen November habe Jadu zwischen Tripolis und Misrata vermittelt, berichtet er. Dies habe dazu geführt, dass sich die Misrata-Milizen nach und nach aus der Hauptstadt zurückgezogen hätten.

Justizbeamte am Bezirksgericht in Jadu weigerten sich dagegen, mit IPS über das Abkommen zu sprechen. In einem leeren Korridor, an dessen Wänden Fotos von Toten der Revolution hängen, erklärt Agmar, dass in dem Entwurf die Bezirksgerichte zwar nicht explizit berücksichtigt, aber auch nicht abgelehnt würden. "Man weiß es doch nie. Sollte in diesem Land jemals wieder alles normal laufen, wird es vielleicht notwendig, die Gerichte mit einzuschließen."

Zurzeit ist es schwierig zu beurteilen, welches Problem in Libyen am dringendsten gelöst werden muss. Der Lehrer Faizal Egira kritisiert, dass er im Monat nur 600 Dinar verdient, während ein Milizionär 1.000 Dinar erhält. Der 50-Jährige, der in den Streik getreten ist, sieht die Einigung von Jadu lediglich als Ausgangsbasis und nicht als endgültige Lösung.

Die Berberin Asma Bibn, die für eine Nichtregierungsorganisation arbeitet, rechnet kaum mit einer zeitnahen Verbesserung der politischen Lage in Libyen. "Jede Stadt und jedes Dorf in Libyen hat seine eigenen Regeln. Jadu unterscheidet sich nur darin, dass es die Regeln zu Papier gebracht hat." (Ende/IPS/ck/2014)


Link:

http://www.ipsnews.net/2014/01/libyan-highlanders-enforce-rule-law/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2014