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NAHOST/1027: Lebensadern gekappt - Ägyptens Armee zerstört Tunnel zum Gazastreifen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 13. Januar 2014

Nahost: Lebensadern gekappt - Ägyptens Armee zerstört Tunnel zum Gazastreifen

von Khaled Alashqar


Bild: © Khaled Alashqar/IPS

Tunnel zum Gazastreifen von der ägyptischen Grenze aus gesehen
Bild: © Khaled Alashqar/IPS

Gaza-Stadt, 13. Januar (IPS) - Bis vor wenigen Monaten ging es an der Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen noch lebhaft zu. Durch Hunderte von Tunneln schafften Händler alle möglichen Güter - von Nahrungsmitteln über Elektrogeräte bis hin zu Baumaterialien - in das Palästinensergebiet. Doch damit ist es vorbei.

Die unterirdischen Schmuggelaktivitäten, die zwischen dem ägyptischen Sinai und Rafah im Gazastreifen abgewickelt wurden, fanden ein jähes Ende, als die Armee in Kairo die Macht übernahm. Die Tunnel und die darüber liegenden Häuser wurden mit der Begründung zerstört, sie stellten eine Sicherheitsgefahr dar.

Die etwa 1,7 Millionen Palästinenser im Gazastreifen haben seither ihre lebenswichtigen Verbindungen zur Außenwelt verloren. Auch Tausende Tunnelbetreiber, Händler und Arbeitskräfte wurden durch die Schließung der Tunnel hart getroffen.

"Einen solchen Druck seitens der ägyptischen Armee haben wir noch nie zu spüren bekommen", meint Abu Nabil aus dem Gazastreifen, der seinen richtigen Namen aus Sicherheitsgründen nicht nennen will. Seit 2007 verdiente er mit seinem Tunnel seinen Lebensunterhalt.


20.000 Menschen nach Tunnel-Zerstörung arbeitslos

Mehr als 90 Prozent der unterirdischen Gänge, die sich meist in privater Hand befanden, seien von dem ägyptischen Militär zerstört worden, berichtet Nabil. Damit sei der Handel komplett zum Erliegen gekommen. Nabil beschäftigte früher 20 Arbeiter, die die Waren in den Gazastreifen schafften. Mit ihnen haben nun insgesamt etwa 20.000 Menschen ihre Einnahmequellen verloren.

Die Tunnel verlaufen über eine Länge von acht Kilometern durch das Grenzgebiet. Auf palästinensischer Seite mussten sie von der im Gazastreifen regierenden radikal-islamischen Hamas genehmigt werden. Hamas-Sicherheitskräfte überwachten die Eingänge. Aber auf ägyptischer Seite hat die Armee des Nachbarlandes inzwischen eine Pufferzone von 500 Metern entlang der Grenze und Kontrollpunkte eingerichtet.

Die Tunnelbetreiber suchen nun verzweifelt nach Ausweichmöglichkeiten. Nabil etwa will seinen Tunnel verlängern und damit die Pufferzone umgehen. Doch die ägyptischen Behörden sind fest entschlossen, die unterirdischen Transportadern zu kappen. Diese seien schließlich auch dazu genutzt worden, Kämpfer und Mitglieder radikaler Gruppen einzuschmuggeln, die die nationale Sicherheit Ägyptens bedrohten, erläutert der ägyptische Militärsprecher Oberst Ahmed Mohammed. Daher müssten sie zerstört werden.

Doch Alaa Alrafati, der Wirtschaftsminister im Gazastreifen, gibt zu bedenken, dass die Schließung der Tunnel dem Palästinensergebiet monatliche Verluste in Höhe von rund 230 Millionen US-Dollar beschert. Etwa 1.000 Fabriken und Industrieeinheiten seien auf die geschmuggelten Rohstoffe angewiesen.

Alrafati ist der Meinung, dass beide Seiten zu einer zufriedenstellenden Einigung kommen sollten. "Die Regierung in Gaza-Stadt wäre ja bereit, alle Tunnel auf palästinensischer Seite zu schließen, wenn eine alternative Transportroute eingerichtet würde", meint er. Seine Regierung sei daran interessiert, "Beziehungen zu Ägypten aufzubauen".

Dass der Tunnel-Handel lange Zeit boomte, hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass er zunächst keinerlei Beschränkungen unterlag. Er ermöglichte der Bevölkerung im Gazastreifen, sich trotz der israelischen Belagerung des Palästinensergebiets mit Waren zu versorgen. Aus mehreren Untersuchungen geht hervor, dass der Handel einen Umfang von jährlich etwa einer Milliarde Dollar erreichte.


Bis zu 1.000 Tunnel seit 2007 gebaut

Sameer Abu-Mdalla, Dekan der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften an der Al-Azhar-Universität in Gaza-Stadt, berichtet, dass es bis 2005 etwa 60 Tunnel gegeben habe. Nach dem Beginn einer Blockade Israels im Jahr 2007 und der Schließung der Grenzübergänge sei die Zahl auf rund 1.000 angestiegen.

Mit Hilfe der Tunnel habe die Bevölkerung des Gazastreifens 60 Prozent ihrer Bedarfsartikel importieren können, erklärte er. Die Zerstörung der Anlagen drohe nun die Arbeitslosigkeit im Gazastreifen weiter in die Höhe zu treiben. Die Hamas-Regierung habe den Tunnel-Handel reglementiert und Steuern eingeführt. Der Handel trug seitdem etwa zu 15 Prozent zum Staatshaushalt des Gazastreifens bei.

Abu-Mdalla ist allerdings der Meinung, dass die Tunnel nicht zur Entwicklung des Gazastreifens beigetragen haben. Einzelpersonen seien die einzigen Nutznießer gewesen. Sie hätten die unterirdischen Gänge für ihre Geldwäscheaktivitäten missbraucht. Seitdem gebe es etwa 800 neue Millionäre.

Palästinensischen Extremisten wird vorgeworfen, Waffen für den Kampf gegen Israel durch die Tunnel in den Gazastreifen geschmuggelt zu haben. Zudem stehen Rauschgifthändler in Verdacht, ihre Drogen über die unterirdischen Verbindungswege in den dicht besiedelten Gazastreifen geschafft zu haben. (Ende/IPS/ck/2014)


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http://www.ipsnews.net/2014/01/gaza-loses-underground-lifeline/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2014