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NAHOST/457: Gaza - Die Anstifter der Kriegsverbrechen wird man zur Verantwortung ziehen (EI)


The Electronic Intifada, 10. Januar 2009

Die Anstifter der Kriegsverbrechen wird man zur Verantwortung ziehen

Von Adri Nieuwhof und Daniel Machover


Israels Militäroffensive in Gaza findet unter der Verletzung fundamentaler Prinzipien des humanitären Völkerrechts (IHL) und erheblicher Mißachtung des Lebens von Zivilisten statt. Die erschreckend hohe Zahl toter und verwundeter Zivilisten und die weitreichende Zerstörung ziviler Gebäude spiegelt die im Widerspruch zum Recht stehende exzessive, unterschiedslose und in keinem Verhältnis stehende Anwendung von Gewalt auf Seiten Israels wider.

Nach zwei Wochen der israelischen Offensive erheben viele internationale Anwälte ihre Stimme, um Israels Aktionen in jeder Hinsicht zu verurteilen und stellen dabei Israels Anspruch infrage, in rechtmäßiger Selbstverteidigung zu handeln. Das heißt, schon bevor das Unrecht, mit dem Israel seine militärische Macht einsetzt, genauer untersucht wird, haben Anwälte, die das israelische Selbstverteidigungsargument bewerten, soviele Löcher darin gefunden wie in der Erde von Gaza: Die israelischen Aktionen wurden nicht als letztes Mittel ergriffen und nicht als die notwendige Antwort auf Angriffe unternommen. Bevor ein Staat überhaupt Gewalt zur Selbstverteidigung anwenden kann, muß ein bewaffneter Angriff erfolgt sein, auf den er antwortet, nachdem er keine andere erfolgversprechende Methode gefunden hat, Abhilfe zu schaffen oder Widerstand zu leisten.

Mit anderen Worten, Gewalt ist nur dann rechtmäßig, wenn friedliche Versuche, die bewaffneten Angriffe zurückzuweisen, entweder nicht funktioniert haben oder ganz eindeutig ohne Wirkung wären. Die Rechtfertigung, die Israel vorbringt, daß sein Ziel, "die Raketen, die von Gaza aus abgeschossen werden, zu stoppen" und Hamas einen "ernsthaften Schlag" zu versetzen, den Gebrauch von übermäßiger militärischer Gewalt erfordere, entbehrt der rechtlichen Grundlage. Gewalt wäre nicht nötig gewesen, hätte Israel sich am 19. Dezember einverstanden erklärt, alle Grenzübergänge nach Gaza zu öffnen und die unrechtmäßige Blockade aufzuheben.

Die Hamas hat den vereinbarten Waffenstillstand genauestens eingehalten bis zum 4. November, als Israel einen nicht provozierten Angriff im Gazastreifen durchführte und dabei sechs Menschen tötete. Der einfachste Weg für Israel, den Raketenbeschuß zu stoppen, wäre also gewesen, die Waffenruhe weiter einzuhalten und das Waffenstillstandsabkommen zu erneuern, das es am 4. November verletzt hat.

Aber die Gefahr durch Raketen, die nach Israel abgeschossen werden, kann keinesfalls die Militäraktionen, die schließlich seit dem 27. Dezember unternommen wurden, rechtfertigen: Zahlen, die die Menschenrechtsorganisation Al Haq am 8. Januar 2009 herausgegeben hat, deuten darauf hin, daß 80 Prozent der 671 getöteten Palästinenser, die bis dahin dokumentiert wurden, Zivilisten waren (547), davon 155 Kinder. Am Morgen des 9. Januar hatte sich laut Berichten von Al Jazeera die Zahl der palästinensischen Toten in Gaza auf 769 erhöht, 200 davon Kinder. Mehr als 3.121 Menschen sind zur gleichen Zeit verwundet worden. Wie konnte das geschehen?

Auch wenn Israel beansprucht, nach internationalem Kriegsrecht zu verfahren, liegt der ungeheuerliche Angriff auf Gaza auf einer Linie mit einer völlig anderen Methode der Kriegsführung. Mit der "Dahiyah-Doktrin" (benannt nach einem Gebiet in Beirut, das 2006 von Israel bombardiert wurde) eröffnete Anfang Oktober 2008 Major General Eisenkot, der frühere israelische Militärsekretär unter dem damaligen Premierminister Ehud Barak, daß die Armee unverhältnismäßige Gewalt ausüben werde "gegen jedes Dorf, von dem aus Schüsse auf Israel fallen, und damit enormen Schaden und Zerstörung verursachen werde. Aus unserer Sicht sind das Militärbasen. Dies ist kein Vorschlag. Dies ist ein Plan, der bereits authorisiert wurde."

In einem Bericht für das Institut für Nationale Sicherheit an der Universität Tel Aviv, unterstützte Colonel (Res.) Gabriel Siboni Eisenkots Erklärung. Die Antwort auf das, was Israel als Raketen- und Missile-Bedrohung aus Syrien, dem Libanon und dem Gazastreifen beschreibt, meint er, ist ein "unverhältnismäßiger Schlag mitten in den schwachen Punkt des Feindes, bei dem die Bemühungen, die Abschußbasen zu beschädigen, zweitrangig sind."

Es ist offensichtlich, daß die Dahiyah-Doktrin, die darauf basiert als Antwort auf Raketen- und Missile-Angriffe unverhältnismäßige Gewalt anzuwenden, das IHL verletzt. Es überrascht deshalb auch nicht, wenn sich herausstellt, daß Israel sich nicht an die grundlegende Definition des "militärischen Kämpfers" und des "Zivilisten" hält und nicht zwischen einem militärischen Ziel und der Zivilbevölkerung unterscheidet. Eines der ersten Angriffsziele Israels in Gaza am 27. Dezember war eine Abschlußzeremonie von Polizeianwärtern, die von der Hamas-Regierung angestellt waren. Polizeistationen sind zivile Gebäude und Polizisten und Vollzugsbeamte unter internationalem Recht als Zivilisten klassifiziert. Sie zum Ziel zu machen, obgleich sie nicht in eine Militäraktion eingebunden sind, ist rechtswidrig. Israel hat keine Beweise dafür vorgelegt, daß sich die Polizeianwärter darauf vorbereiteten, während oder nach der Abschlußzeremonie Raketen abzuschießen, also waren es Zivilisten und scheinen Opfer eines vorsätzlichen Kriegsverbrechens geworden zu sein.

Israel bezeichnet unbeirrbar zivile Gebäude als "legitime militärische Ziele", die keine andere Regierung auf der Welt erfolgreich als solche definieren könnte. Polizeistationen, Moscheen, Universitätsgebäude, Lager mit medizinischen Gütern, Regierungseinrichtungen, Hühnerfarmen und Schulen werden nicht einfach dadurch militärische Ziele, daß man sie Hamas-Infrastruktur nennt.

Bereits am ersten Tag der sorgfältig geplanten israelischen Militäroperation in Gaza veröffentlichte der UNO-Sonderberichterstatter für Menschenrechte in den besetzten Gebieten, Richard Falk, eine Erklärung, die die schweren Verletzungen des IHL, wie es in den Genfer Konventionen festgelegt ist, darlegt und erwähnte dabei: kollektive Bestrafung, den Angriff auf Zivilisten und die unverhältnismäßige militärische Reaktion. Er merkte an: "Ganz sicher sind die Raketenangriffe auf zivile Ziele in Israel rechtswidrig. Aber aus dieser Rechtswidrigkeit ergibt sich für Israel keine Berechtigung - weder als Besatzungsmacht noch als souveräner Staat - internationales Recht zu verletzen und Kriegsverbrechen zu begehen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit." Falk erinnerte alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen daran, daß die UNO an ihre Verpflichtung gebunden ist, jede Zivilbevölkerung unter Schutz zu nehmen, an der massive Verletzungen des humanitären Völkerrechts begangen werden.

Es tauchen auch Hinweise auf den Einsatz illegaler Waffen auf, mit Berichten und Bildern, die "verräterische [Phosphor] Bomben zeigen ... die Tentakel dichten weißen Rauchs ausbreiten, die das Vordringen der Truppen decken." Ein israelischer Sicherheitsexperte erklärte: "Diese Explosionen sehen fantastisch aus und produzieren eine große Menge Rauch, der den Feind blind macht, so daß unsere Truppen reingehen können." Phosphorverbrennungen über die Luft können bei jedem schwerste Verwundungen verursachen, der davon betroffen ist. Israel hat zugegeben, während der Angriffe auf den Libanon 2006 weißen Phosphor verwendet zu haben.

Das Genfer Abkommen von 1980 verbietet den Einsatz von weißem Phosphor als Kriegswaffe in zivilen Gebieten, aber es gibt unter internationalem Recht kein generelles Verbot, ihn als Rauchschild oder zur Beleuchtung zu verwenden. Dennoch wurde Charles Heyman, ein Militärexperte und ehemaliger Major der britischen Armee von der Times am 5. Januar 2009 mit folgenden Worten zitiert: "Wenn jemand absichtlich weißen Phosphor auf eine Menschenmenge schießt, endet er in Den Haag. Weißer Phosphor ist auch eine Terrorwaffe. Die herabfallenden Phosphortropfen fangen an zu brennen, wenn sie mit der Haut in Berührung kommen."

In seiner Funktion als Operationsleiter der UN-Agentur für palästinesische Flüchtlinge (UNRWA) in Gaza, erzählte John Ging der BBC am 6. Januar, daß die Lage in Gaza grauenhaft ist, weil eine Militäroperation in dichtbesiedeltem Gebiet durchgeführt wird. Die Bevölkerung ist verängstigt, es gibt keinen Ort in Gaza, an dem man sicher ist. Eine Million Menschen haben keinen Strom, 750.000 kein Wasser, und alle leiden unter Nahrungsmittelmangel. Lastwagen mit Lebensmitteln treffen, erheblich behindert durch die israelische Militäraktion, nur vereinzelt bei den Verteilungszentren der UNRWA ein. Eltern müssen das Haus verlassen, um Lebensmittel aus den Zentren abzuholen und laufen damit Gefahr, in die Schußlinie zu geraten. Vor kurzem hatte ein Angriff auf einen UN-Konvoi mit Nachschub von der Grenze nach Gaza, Verletzte zur Folge. Alle Konvois zum Hauptgrenzübergang, der dafür genutzt wird, humanitäre Güter nach Gaza zu bringen, wurden nach dem Zwischenfall aufgeschoben.

Ging erinnerte die Völkergemeinschaft außerdem an ihre Verantwortung zum Schutz ziviler Bevölkerungsgruppen. Und daß man sie dafür zur Rechenschaft ziehen werde, falls sie versage. Alle Staaten haben eine unabhängige Verpflichtung, jede zivile Bevölkerung zu schützen, die mit einer massiven Verletzung des IHL konfrontiert ist.

Die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, die auch Unterzeichner der Genfer Konvention sind, haben diese Pflicht schon dadurch verletzt, daß sie, wie unlängst am 27. Dezember, die Resolution unter Kapitel VII der UN-Charta nicht verabschiedeten, in der von Israel verlangt werden sollte, sämtliche Militäraktionen im und um den Gazastreifen einzustellen. Jeder weitere Tag ohne Resolution des UN-Sicherheitsrates bei gleichzeitiger unweigerlicher Zunahme der absichtlichen Tötungen und massiven Zerstörungen, hat den Verdacht einer kriminellen Mittäterschaft der US- und VK-Administration bei den israelischen Kriegsverbrechen noch verstärkt, da diese Veto-Staaten nicht bereit waren, ein Ende der Gewalt zu fordern.

Der UN-Sicherheitsrat wartete mit seiner Resolution im August 1990 auch nicht, bis sich der Irak darauf vorbereiten konnte, als er unter ebenso klarer Mißachtung internationalen Rechts in Kuwait einfiel. Worauf wartet nun der UN-Sicherheitsrat seit dem 27. Dezember? Für die Annahme einer Resolution, die die rechtliche Grundlage schafft, von Israel als einem UN-Mitgliedstaat die Einstellung der Gewalthandlungen zu fordern, sind weder die israelische Zustimmung noch Bedingungen für eine Waffenruhe erforderlich. Der UN-Sicherheitsrat benötigte fast 14 Tage, um eine Resolution zu verabschieden, "die zu einer sofortigen, dauerhaften und vollkommen respektierten Waffenruhe aufruft [d.h. nicht "fordert"] und deren Dringlichkeit unterstreicht, um einen vollständigen Rückzug der israelischen Kräfte aus Gaza zu gewährleisten". Die Vereinigten Staaten geben ihrem Verbündeten Rückendeckung und enthalten sich selbst der Stimme. Eine Welle der Zerstörung erschüttert seither den Gazastreifen, ungeachtet einer vom UN-Sicherheitsrat verabschiedeten Resolution, die eine "sofortige Waffenruhe" verlangt. Jeder Übergriff seit dieser Aufforderung zum unmittelbaren Waffenstillstand kann als Übertritt des internationalen Rechts aufgefaßt werden.

Wer auf bevölkerte Gebiete mit dieser Art von Gewalt einschlägt, wie sie von Israel eingesetzt wird, handelt nicht in Übereinstimmung mit dem üblichen Verständnis des Kriegsrechts. Israels Handlungen sind demzufolge Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Anwälte der "Lawyers for Palestinian Human Rights" [Anwälte für palästinensische Menschenrechte] in Großbritannien und anderen Ländern wurden damit beauftragt, diese der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit Beschuldigten sowie jene Gruppierungen zur Verantwortung zu ziehen, die sich der Beihilfe oder Unterstützung dieser Verbrechen schuldig gemacht haben.


Adri Nieuwhof ist ein Berater und Menschenrechtler, der in der Schweiz lebt, und Daniel Machover ist Anwalt und Mitbegründer der "Lawyers for Palestinian Human Rights" in Großbritannien.



Übersetzung aus dem Englischen:
Redaktion Schattenblick

Originalfassung des Berichts:

http://electronicintifada.net/v2/article10159.shtml


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Quelle:
The Electronic Intifada, 10. Januar 2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2009