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NAHOST/462: Gaza - Die humanitäre Krise verschärft sich, während die IOF ihre Angriffe verstärkt (Al Mezan)


Al Mezan Center for Human Rights / Al Mezan-Zentrum für Menschenrechte

Pressemitteilung vom 13. Januar 2009

Die humanitäre Krise verschärft sich, während die IOF ihre Angriffe intensiviert:
Tausende Bewohner Gazas isoliert bei Mangel an Nahrung, Strom, medizinischer Versorgung und Wasser


13 Uhr Gaza-Zeit (12 Uhr MEZ)

Montagnacht und am heutigen Tag hat es im Zuge der Gewalt der vergangenen Woche seitens der israelischen Besatzungsarmee (IOF) im Gazastreifen eine gravierende Eskalation gegeben. Seit gestern 22 Uhr hat die IOF ihre Bodenoffensive sowie die Angriffe aus der Luft und von See intensiviert. Die IOF drang weiter in West-Beit Lahia und Jabalia sowie in die nördlichen, östlichen und südlichen Vororte von Gaza-Stadt ein. Mitarbeiter des Al Mezan-Zentrums, die in der Nähe dieser Gebiete wohnen, erlebten als Augenzeugen den dortigen Einsatz weißer Phosphorbomben, eine Tatsache, die bereits durch Besuche in Krankenhäusern und Gespräche mit Opfern bestätigt wurde.

Die Anzahl der Opfer und die Menge des zerstörten Eigentums in Gaza ist ebenfalls infolge der IOF-Angriffe gestiegen. Nach Beobachtungen des Al Mezan-Zentrums tötete die IOF in der vergangenen Nacht und heute um 13 Uhr insgesamt 59 Palästinenser. Fünf davon waren Kinder und fünf Frauen. Weitere 302 Menschen wurden verletzt, davon 94 Kinder und 35 Frauen.

Der sorgfältigen Überprüfung durch Al Mezan zufolge hat die IOF seit dem Beginn ihrer Operation "Gegossenes Blei" am 27. Dezember 2009 mindestens 935 Palästinenser im Gazastreifen getötet.

Diese Zahl beinhaltet mindestens 191 Kinder und 66 Frauen. Sie umfaßt allein jene, die Al Mezan verifiziert und gegengeprüft hat. Das Zentrum schätzt, daß zwischen 200 und 245 Kinder getötet wurden. Viele von ihnen liegen noch unter dem Schutt von Häusern, die sich in Gebieten befinden, in denen die IOF noch operiert. Bei sieben Menschen, die von der IOF getötet wurden, handelt es sich um die Besatzung von Rettungswagen, die starben, als sie versuchten, die Opfer von IOF-Angriffen zu erreichen. Die Zahl schließt zudem drei Journalisten und Dutzende ältere Menschen mit ein. Zusammen mit den Betroffenen, die in diese Meldung aufgenommen wurden, schätzt Al Mezan, daß mindestens 80-85% der Opfer zivile Nicht-Kombattanten sind.

Die IOF hat darüber hinaus die Angriffe auf medizinische Rettungsteams fortgesetzt. In der letzten Nacht wurde bei dem Angriff auf ein solches Team ein Arzt getötet und ein Ambulanzfahrer verletzt.

Am 12. Januar 2009, um etwa 16.17 Uhr, feuerte ein IOF-Flugzeug eine Rakete auf den Hammouda-und-Banna-Apartmentkomplex, der sich in der Region Az-Zarqaa in Jabalia-Stadt befindet. Während die Bewohner der Anlage nach den ersten Angriffen versuchten, die Wohnungen zu räumen, feuerte die IOF mehrere Bomben auf den Turm, tötete in dem Zuge den 18jährigen Ayat Kamal Al-Banna und verwundete vier weitere Menschen, einschließlich zweier Kinder. Als dann die Rettungswagen um schätzungsweise 16.22 Uhr am Ort der Angriffe ankamen, um die Opfer aufzunehmen, schoß die IOF mehrere Raketen auf sie ab und traf einen Ambulanzwagen. Dadurch wurde der 28jährige Arzt Issa Abdul-Rahim Saleh getötet, der 25jährige Rettungsfahrer Ahmed Abdul-Bari verletzt. Die Bombenangriffe auf dieselbe Apartmentanlage gingen weiter und töteten Ferial Kamal Al-Banna, eine 23jährige Frau, und Mustafa Al-Basha, einen 20jährigen Mann. Weitere fünf Menschen wurden verwundet.

Mit diesem Angriff auf den Rettungswagen ist die Zahl der durch die IOF getöteten medizinischen Helfer auf sieben gestiegen. Weitere fünf wurden verwundet, von dreien heißt es, daß sie schwere Verletzungen davongetragen haben.

In der Zwischenzeit haben sich die humanitären Bedingungen für hunderttausende Menschen kontinuierlich verschlechtert. Unter ganz besonders unerträglichen Bedingungen leiden jene Tausende von Bewohnern des Gazastreifens, die in Gebieten wohnen, in denen die IOF operiert. Sie sind vollkommen isoliert und ohne jeglichen Nachschub. Al Mezan ist nach Aussagen von Überlebenden, denen es gelungen ist, diese Gebiete zu verlassen, der Überzeugung, daß nach dem Ende der jetzigen Invasion Berichte über bitterste Not und den Verlust an Menschenleben durch Nahrungsmangel zutagekommen werden. Eine unbekannte Anzahl von Menschen liegt schon seit einigen Tagen unter dem Schutt ihrer Häuser, besonders in den östlichen Bezirken von Gaza-Stadt und Jabalia und in den Nordwestregionen von Beit Lahia. Al Mezan war nicht in der Lage, in diese Gebiete vorzudringen. Die IOF hat auch internationalen humanitären Organisationen den Zugang dorthin verwehrt, obwohl es dringend erforderlich wäre, Mitarbeiter und Ausrüstung in diese Gebiete zu bringen, um nach Toten und Verwundeten zu suchen.

Heute hat Al Mezan Daten des kommunalen Wasserwerks an der Küste von Gaza erhalten, die zeigen daß die israelischen Angriffe schwerwiegende Schäden am Wasser- und Abwasserleitungsnetz verursacht haben, die das Werk nicht in der Lage ist zu beheben. Dadurch erhalten 295.000 Menschen in Gaza überhaupt kein Wasser mehr, während die meisten Menschen schon deswegen keinen Zugang zu Wasser haben, weil es an Strom fehlt. Darüber hinaus berichtet das Werk, daß die Hauptkläranlage nicht arbeitet. Insbesondere sehen sich hierdurch Tausende von Menschen der Gefahr schwerer Überflutungen ausgesetzt, weil die Kapazität des Klärwerks im Norden von Gaza der Menge nicht gewachsen ist. Und dies obwohl man sich mehrfach mit der Bitte an einflußreiche internationale Parteien gewendet hat, dem Werk den Zugang zu den Bereichen zu ermöglichen, die dringend einer Reparatur bedürfen.

Auf der Grundlage seiner Beobachtungen und Erhebungen macht das Al Mezan-Zentrum erneut geltend, daß die IOF regelmäßig Taten begangen hat, die sehr wohl als Kriegsverbrechen definiert werden können, insbesondere indem sie mit Beginn ihrer Operation "Gegossenes Blei" in Gaza absichtlich Zivilisten und zivile Objekte unter Beschuß genommen hat. Al Mezan ist der Überzeugung, daß ein solches Verhalten unmöglich hätte solange fortgeführt werden können, wenn die internationale Gemeinschaft eine entschiedenere Haltung gegen diesen Umgang mit Zivilisten eingenommen hätte. Während Hunderte von Zivilisten dem Tod und Elend ausgesetzt wurden, initiierte die internationale Gemeinschaft eine langwierige Debatte über die politischen Aspekte der aktuellen Krise. Der Befolgung internationalen Rechts und dem Schutz von Zivilisten hätte demgegenüber absoluter Vorrang gebührt.

Aus diesem Grund ruft das Al Mezan-Zentrum den UN-Generalsekretär mit äußerster Dringlichkeit dazu auf, sich auf den Schutz von Zivilisten zu konzentrieren, die die Hauptopfer der Verstöße Israels gegen internationales Recht sind. Politische Debatten können warten, das Leben von Zivilisten hingegen kann man nicht ersetzen. Die Vereinten Nationen sind dazu aufgerufen, unverzüglich den Zugang zu den Toten, den Verwundeten und den Überlebenden in den Gebieten unter israelischer Invasion im Osten von Gaza-Stadt und im Nordwesten von Beit Lahia zu ermöglichen; ein Unternehmen, das nicht gelingen kann ohne den Einsatz von schwerem Gerät zur Rettung verschütteter Menschen.

Aus dem Ausmaß der gewaltsamen Vertreibungen im gesamten Gazastreifen schließt das Al Mezan-Zentrum, auch wenn es nicht in der Lage ist, die genaue Zahl der vertriebenen Personen zu nennen, daß lediglich 10% dieser Menschen in den UN-Schutzräumen Zuflucht gefunden haben. Die Mehrzahl der vertriebenen Menschen hat es vorgezogen, bei ihren Verwandten und/oder Freunden unterzukommen.

Das Al Mezan-Zentrum fordert, weitere Notunterkünfte für Vertriebene einzurichten und bekanntzumachen. Es hat festgestellt, daß die Unterkünfte überfüllt sind, was die Verhältnisse dort schwierig macht und Menschen, die einen Zufluchtsort benötigen, davon abhält diese aufzusuchen.

Das Al Mezan-Zentrum ruft erneut die Hohen Vertragsparteien der Vierten Genfer Konvention von 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten dazu auf, ihrer gesetzlichen und moralischen Verantwortung gerecht zu werden und ihren eigenen Verpflichtungen unter Artikel 1 nachzukommen, indem sie selbst das Abkommen einhalten und seine Einhaltung durchsetzen.

Das Zentrum rät zu weltweiten Aktionen gegen diese Verletzung internationalen Rechts und ruft Zivilgesellschaften in aller Welt dazu auf, mehr Druck auf ihre Regierungen auszuüben, in Übereinstimmung mit den geltenden Menschenrechten und humanitären Verpflichtungen zu handeln, die das internationale Recht vorschreibt.


Anmerkungen der Redaktion Schattenblick:

Das Al Mezan-Zentrum für Menschenrechte ist eine Nichtregierungsorganisation mit Sitz im palästinensischen Flüchtlingslager Jabalia im Gaza-Streifen.


Übersetzung aus dem Englischen:
Redaktion Schattenblick

Englischer Originaltext:
http://www.mezan.org/site_en/press_room/press_detail.php?id=952


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Quelle:
Pressemitteilung 14/2009 vom 13.01.2009
Al Mezan Center for Human Rights /
Al Mezan-Zentrum für Menschenrechte
Palästina - Gazastreifen
Büro Jabalia: Telefon: ++972-(0)8-2453555, Fax: ++972-(0)8-2453554
Büro Gaza: Telefax: ++972-(0)8-2820447
Büro Rafah: Telefax: ++972-(0)8-2137120
Internet: http://www.mezan.org/site_en/index.php


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Januar 2009