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NAHOST/469: Israels "Dahiya Doktrin" trifft Gaza (Jonathan Cook)


Israels "Dahiya Doktrin" trifft Gaza

Von Jonathan Cook, Auslandskorrespondent - 18. Januar 2009


In den letzten Tagen bevor Israel eine einseitige Waffenruhe für den Gazastreifen ausrief, um der künftigen Obama-Administration keine Schwierigkeiten zu machen, verstärkte es seine Offensive. Die Truppen rückten weiter nach Gaza-Stadt hinein, intensivierten das Artilleriefeuer und machten Tausende mehr Menschen obdachlos.

Die israelische Militärstrategie für Gaza und auch das, was offizielle Vertreter den "finalen Akt" nannten, folgte damit einer Vorlage, die während des Libanon-Kriegs vor über zwei Jahren entwickelt wurde.

Damals zerstörte Israel durch einen Monat intensiver Luftangriffe weite Bereiche der libanesischen Infrastruktur.(1) Auch in den letzten Stunden des Krieges, während der abschließenden Verhandlungen über einen Waffenstillstand, feuerte Israel mehr als eine Million Clusterbomben über dem Libanon ab in der Hoffnung, die Region so unbewohnbar wie möglich zu machen.

In ähnlicher Weise setzte Israel nun die Zerstörung des Gazastreifens bis zum letzten Moment mit unverminderter Härte fort, obwohl Berichten der israelischen Medien zufolge der Luftwaffe bereits in den ersten Tagen der Kämpfe der - wie sie es nannten - "Vorrat an Hamas-Zielen" ausging.

Das Militär umging das Problem, indem es die Definition für die der Hamas zugehörigen Gebäude erweiterte. Oder, wie man von ranghoher Seite erklärte: "Hamas hat viele Aspekte, und wir versuchen, dem ganzen Spektrum einen Schlag zu versetzen, weil alles miteinander verbunden ist und alles den Terrorismus gegen Israel unterstützt."(2)

Das schloß Moscheen, Universitäten, die meisten Regierungsgebäude, die Gerichte, 25 Schulen, 20 Ambulanzwagen und eine Reihe von Krankenhäusern sowie Brücken, Straßen, 10 Kraftwerke, die Kanalisation und 1.500 Fabriken, Werkstätten und Läden mit ein.

Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in Ramallah schätzen den Schaden zur Zeit auf 1.9 Milliarden US-Dollar und weisen darauf hin, daß mindestens 21.000 Wohnhäuser repariert oder neu gebaut werden müssen, was 100.000 Palästinenser erneut zu Flüchtlingen macht. Darüber hinaus wurden 80 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Infrastruktur und Ernte zerstört. Die PA beschreibt ihre eigene Schätzung als "zurückhaltend."

Nichts von all dem wird Israel bereuen. Die allgemeine Verwüstung war genaugenommen, weit entfernt von einem unglückseligen Kollateralschaden, das unerklärte Ziel der Offensive. Israels Ziel war die politische wie militärische Schwächung der Hamas durch eine weitreichende Zerstörung der Infrastruktur und der Wirtschaft im Gazastreifen.

Dieses Vorgehen ist als "Dahiya Doktrin" bekanntgeworden (3), benannt nach einem Beiruter Vorort, der während des israelischen Angriffs auf den Libanon im Sommer 2006 nahezu dem Erdboden gleich gemacht wurde. Diese Doktrin fand sich zusammengefaßt in einer Redewendung des damaligen israelischen Generalstabschefs Dan Halutz. Er konstatierte, die Bombardierung des Libanon werde "die Uhren 20 Jahre zurückstellen".

Diese Haltung fand am ersten Tag der Gaza-Offensive ihr Echo in den Worten von Yoav Galant, dem kommandierenden Offizier im Süden Israels: Das Ziel, so sagte er, sei, "Gaza Jahrzehnte in die Vergangenheit zu schicken".

Im Vorfeld dieser kurzen Verlautbarungen hatte Gadi Eisenkot, der Leiter des israelischen Kommandos Nord, im Oktober die praktischen Seiten dieser Strategie erläutert:

"What happened in the Dahiya quarter of Beirut in 2006 will happen in every village from which Israel is fired on. We will apply disproportionate force on it and cause great damage and destruction there. From our standpoint, these are not civilian villages, they are military bases. This is not a recommendation. This is a plan."

["Was mit Beiruts Dahiya-Viertel geschehen ist, wird mit jedem Dorf geschehen, von dem aus Schüsse auf Israel fallen. Wir werden unverhältnismäßige Gewalt anwenden und enormen Schaden und Zerstörung dort verursachen. Aus unserer Sicht sind das keine Dörfer mit Zivilisten, das sind Militärbasen. Dies ist kein Vorschlag. Dies ist ein Plan."]

In dem Interview sprach General Eisenkot über die nächste Runde der Kampfhandlungen gegen die Hizbollah. Dennoch war die Doktrin auch für den Einsatz in Gaza gedacht.

Gabriel Siboni, ein Colonel der Reserve, legte das neue "Sicherheitskonzept" in einem Artikel dar, den das Institut für Nationale Sicherheitsstudien an der Universität Tel Aviv (4) zwei Monate vor dem Überfall auf Gaza veröffentlichte. Mit konventionellen Militärstrategien der Kriegführung gegen Staaten und Armeen, schrieb er, seien subnationale Widerstandsbewegungen wie die Hizbollah und die Hamas, die tief in der Bevölkerung verwurzelt sind, nicht zu besiegen.

Stattdessen war es die Absicht, "unverhältnismäßige Gewalt" anzuwenden und dabei "in einem solchen Ausmaß Schäden zu verursachen und zu bestrafen, daß ein langer und teurer Wiederaufbauprozeß erforderlich wird".

Als Hauptziele für die israelische Aggression machte Siboni "Entscheidungsträger und die Machteliten" aus, einschließlich der "wirtschaftlichen Interessen und der Zentren der zivilen Macht, die die [Feind-] Organisation unterstützen."

Das beste, was Israel sich gegen die Hamas und die Hizbollah erhoffen könne, räumte Siboni ein, sei ein Waffenstillstand mit besseren Bedingungen für Israel sowie der Aufschub der nächsten Konfrontation, während "der Feind sich in einem teuren, langandauernden Wiederaufbauprozeß verausgabt".

Was den langwierigen Wiederaufbau Gazas betrifft, so hofft Israel, nicht den gleichen Fehler zu machen wie mit dem Libanon. Damals gelang es der Hizbollah, unterstützt durch iranische Gelder, weiteren Rückhalt in der Bevölkerung zu gewinnen, da sie zügig den Wiederaufbau libanesischer Wohnhäuser zu finanzieren begann, die Israel zerstört hatte.

Laut israelischen Medien hat das Außenministerium bereits eine Arbeitsgruppe für "den Tag danach" zusammengestellt, um sicherzugehen, daß weder der Hamas, noch dem Iran der Verdienst für den Wiederaufbau in Gaza zukommt.

Israel will, daß gesamte Hilfe entweder über die Palästinensische Autonomiebehörde oder über internationale Gremien kanalisiert wird. Ein integraler Bestandteil dieser Strategie ist die Abriegelung Gazas, indem man den Schmuggel durch die Tunnel unter der ägyptischen Grenze verhindert.

Zur großen Zufriedenheit Israels, wird der Wiederaufbau Gazas wohl noch langsamer vonstatten gehen, als ursprünglich erwartet wurde.

Diplomaten weisen darauf hin, daß westliche Hilfe, die der Palästinensischen Autonomiebehörde zufließt, wenig bewirken wird, wenn Israel die Blockade beibehält und die Einfuhr von Stahl, Zement und Geld beschränkt.

Darüber hinaus wird berichtet, daß internationale Geldgeber es müde sind, Bauprojekte in Gaza zu finanzieren, nur um zuzusehen, wie Israel diese kurze Zeit später wieder zerstört.

Mit keinem geringen Maß an Wut faßte der norwegische Außenminister Jonas Gahr Stoere letzte Woche die allgemeine Sicht der Geber zusammen:

"Shall we give once more for the construction of something which is being destroyed, re-constructed and destroyed?"

["Sollen wir noch einmal in den Wiederaufbau von etwas investieren, das zerstört, wieder aufgebaut und erneut zerstört wird?"]


(1) ai-Bericht: Israel/Lebanon
Deliberate destruction or "collateral damage"? Israeli attacks on civilian infrastructure
Amnesty International - August 2006 - AI Index: MDE 18/007/2006
http://www.amnesty.org/en/library/asset/MDE18/007/2006/en/dom- MDE180072006en.html

(2) Washington Post / December 30, 2008: Israel vows 'all-out war' on Hamas
http://www.boston.com/news/world/middleeast/articles/2008/12/30/israel_vows_all_out_war_on_hamas/

(3) Maj. Gen. Gadi Eizenkot in einem Gespräch mit "Yediot Ahronot daily", Israel
AOL / The Associated Press - October 03, 2008 15:30:07 - "Israeli general warns Hezbollah of harsh response"
http://www.aol.in/news-story/israeli-general-warns-hezbollah-of-harsh- response/2008100315270001200455

(4) Institute of National Security Studies (INSS), Tel Aviv University
Disproportionate Force: Israel's Concept of Response in Light of the Second Lebanon War
INSS Insight No. 74, October 2, 2008
http://www.inss.org.il/publications.php?cat=25&incat=0&read=2222


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Über den Autor:
Jonathan Cook ist der einzige westliche Journalist, der in Nazareth lebt, der Hauptstadt der palästinensischen Minderheit in Israel. Er war zuvor Mitarbeiter bei den Zeitungen The Guardian und Observer und hat über den israelisch-palästinensichen Konflikt auch für die Times, Le Monde diplomatique, die International Herald Tribune, Al-Ahram Weekly, Counterpunch und Aljazeera.net geschrieben. Er ist Autor von "Blood and Religion" (2006) und von "Israel and the Clash of Civilisations" (2008).

Sein neuestes Buch "Disappearing Palestine: Israel's Experiments in Human Despair" ist im Oktober 2008 bei Zed Books in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten erschienen. Weitere Informationen zum Buch unter:
http://www.jkcook.net/DisappearingPalestine.htm

Weitere Texte von Jonathan Cook findet man auf seiner Website unter:
http://www.jkcook.net/


Übersetzung aus dem Englischen:
Redaktion Schattenblick

Englischer Originaltext:
The Electronic Intifada - 20. Januar 2009
http://electronicintifada.net/v2/article10224.shtml


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Quelle:
© Jonathan Cook, 18. Januar 2009
mit freundlicher Genehmigung des Autors
Internet: www.jkcook.net


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Januar 2009