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NAHOST/519: Offener Brief an die Regierung und das Volk von Spanien (Tlaxcala)


Tlaxcala - das Übersetzernetzwerk für sprachliche Vielfalt

Offener Brief an die Regierung und das Volk von Spanien

Sonnabend, 30. Mai 2009


Gaza - Palästina

Wir schreiben Ihnen als Palästinenser aus Gaza, um unserem Entsetzen über den Vorschlag des spanischen Parlaments Ausdruck zu verleihen, die universelle Rechtsprechung Spaniens, insbesondere in Hinsicht auf die Verletzung der internationalen Menschenrechte, einzuschränken. Der Vorschlag sieht vor, die existierenden Gesetze dahingehend zu ändern, daß Fälle nur dann verfolgt werden dürfen, wenn Spanier betroffen sind oder der Beschuldigte sich auf spanischem Boden befindet.

Am 22. Juli 2002, etwa um Mitternacht, warf ein Kampfjet der israelischen Luftwaffe eine 2.000-Pfund-Bombe auf das dichtbewohnte Viertel Draj in Gaza-Stadt ab. Das Hauptziel des Angriffs war das Wohnhaus der Familie von Salah Shehada, dem Kommandierenden des militärischen Arms der Hamas. Die Bombe tötete Shehada und dazu 17 Zivilisten, einschließlich seiner Frau und seiner Tochter, acht Kinder (darunter ein zwei Monate alter Säugling), zwei ältere Männer und zwei Frauen. Darüber hinaus wurden 77 Menschen verwundet, elf Häuser vollkommen zerstört und 32 Häuser beschädigt, was viele Familien obdachlos machte.

Die Regierung des Staates Israel bestätigte, sich der Tatsache voll bewußt gewesen zu sein, daß sich Shehadas Frau und Tochter "in dessen Nähe aufhielten, während der Mordanschlag stattfand ... und daß es keine Möglichkeit gegeben habe, die Operation ohne ihre Anwesenheit durchzuführen (1)." Die Praxis, Zivilisten mutwillig und absichtlich zu töten, veranschaulicht durch dieses Beispiel eines extra-legalen Mordanschlags, ist kein Einzelfall. Sie ist Bestandteil der anhaltenden und umfassenden Politik, uns Palästinenser im Gazastreifen zu drangsalieren und uns systematisch unser Recht auf Bewegungsfreiheit, Arbeit, medizinische Versorgung, Bildung, Lebensunterhalt und zunehmend auch auf unser Leben selbst zu nehmen.

Trotz des angeblichen, einseitigen Rückzugs aus dem Streifen erhält Israel die permanente militärische Präsenz in den Gewässern vor Gaza aufrecht und kontrolliert auf dem Land, in der Luft und auf dem Wasser, zusätzlich zu Bewegungen im Streifen, die Bewegung von Menschen und Gütern in den Streifen hinein, indem sie jeden unter Beschuß nimmt, der den vom israelischen Militär als "No Go"-Zone deklarierten Bereich betritt. Israel kontrolliert darüber hinaus nach wie vor die Einwohnerregistrierung in Gaza. Dennoch behauptet Israel, nicht mehr die Besatzungsmacht im Gazastreifen zu sein und nutzt diese Ausrede zusammen mit den Ergebnissen der demokratischen Wahlen von 2006, um seine Belagerungspolitik und die tödlichen Angriffe auf uns Zivilisten in Gaza zu intensivieren.

Am 29. Februar 2008 drohte uns Matan Vilnai, der Vizeverteidigungsminister des Staates Israel mit einer größeren Shoah (Holocaust) und hat Wort gehalten. Im Verlauf des darauf folgenden israelischen Militärangriffs auf den Gazastreifen im Februar 2008, "Operation Heißer Winter" genannt, tötete die israelische Besatzungsarmee 107 Palästinenser, darunter 64 Kinder. Die EU, Spanien eingeschlossen, hat nicht nur Abstand davon genommen, Maßnahmen gegen den Staat Israel wegen seiner Politik des Massenmordes zu ergreifen, sondern kündigte sogar an, die Beziehungen zum Staat Israel weiter zu vertiefen. Diese Ankündigung war das grüne Licht, das Israel brauchte, um seine Politik fortzusetzen und zu eskalieren, was im Januar 2009 in dem Überfall auf das belagerte Gaza gipfelte.

Die 1,5 Millionen Palästinenser im belagerten Gazastreifen, bei denen es sich zu 80 Prozent um Flüchtlinge handelt, die 1948 durch zionistische Truppen aus ihren Häusern vertrieben wurden, hat man 22 Tage lang dem unerbittlichen israelischen Terror ausgesetzt. In einer Wiederholung der Geschehnisse vom 22. Juli 2002 bombardierten in dieser Zeit israelische Kampfflugzeuge systematisch Wohngebiete und machten ganze Stadtviertel und lebenswichtige zivile Infrastruktur dem Erdboden gleich - einschließlich einer Reihe von der UN betriebener Einrichtungen, in denen Zivilisten Zuflucht gesucht hatten. Internationale Menschenrechtsorganisationen fordern nun eine Untersuchung des israelischen Angriffs auf Gaza, bei dem die israelische Besatzungsarmee 1.440 Palästinenser tötete, davon 431 Kinder, und 5380 verletzte, wegen Kriegsverbrechen.

Die Entscheidung von Richter Fernando Andreu vom Spanischen Nationalen Gerichtshof (Audencia Nacional) mit den Ermittlungen zu den Ereignissen rund um die al-Daraj-Bombardierung vom Juli 2002 fortzufahren, war für uns dieser Tage ein Hoffnungsschimmer. Wir sehen diese Entscheidung als Ausdruck des Versprechens und des Engagements Europas für das Prinzip, bei ethnischer Säuberung "nie wieder" schweigend danebenzustehen. Wir hoffen, daß dies zur Abschreckung potentieller Kriegsverbrecher dienen wird.

Wenn die Resolution des Spanischen Parlaments, die die Regierung dazu auffordert, Spaniens universelle gerichtliche Zuständigkeitsmechanismen zu beschränken, angenommen wird, hat das die fortgesetzte Straffreiheit für Kriegsverbrecher und für die Beteiligung an künftigen Kriegsverbrechen, einschließlich kollektiver Bestrafung und des gegen uns, die zivile Bevölkerung des Gazastreifens, gerichteten Genozids, zur Folge.

Unterzeichnet von:
- The One Democratic State Group - Gaza
   (Gruppe für den ungeteilten demokratischen Staat - Gaza)
- University Teachers' Association in Palestine - Gaza
   (Vereinigung der Universitätslehrer in Palästina - Gaza)
- Palestinian Student's Campaign for the Academic Boycott of Israel
   (Kampagne palästinensischer Studenten für den akademischen Boykott Israels)
- Arab Cultural Forum - Gaza (Arabisches Kulturform - Gaza)
- Al-Quds Bank for Culture and Information Society
   (Al-Kuds Bank für Kultur und Informationsgesellschaft)
- Society Friends for Rehabilitation of Visually Impaired
   (Gesellschaft der Freunde für die Rehabilitation sehgeschädigter Menschen)


Übersetzung aus dem Englischen:
Redaktion Schattenblick

(1) Pressemitteilung des Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte / Palestinian Center for Human Rights:
PCHR Submits Lawsuit against Israeli Officials via Spanish National Court, Ref: 57/2008, Date: 25 June 2008
http://www.pchrgaza.org/files/PressR/English/2008/60-2008.html

Englische und spanische Version:
International Soldarity Movement
http://palsolidarity.org/2009/06/6920

URL dieses Artikels auf Tlaxcala:
http://www.tlaxcala.es/detail_campagne2.asp?ref_campagne=10&lg=en


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Quelle:
Tlaxcala - das Übersetzernetzwerk für sprachliche Vielfalt
E-Mail: tlaxcala@tlaxcala.es
Internet: www.tlaxcala.es

übersetzt vom und veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juni 2009