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NAHOST/541: 60 Jahre Nakba - Von ethnischer Säuberung zur Dekolonisierung? (inamo)


inamo Heft 57 - Berichte & Analysen - Sommer 2009
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

60 Jahre Nakba: Von ethnischer Säuberung zur Dekolonisierung?

Von Ali Fathollah-Nejad


Im Februar fand an der Londoner "School of Oriental and African Studies" (SOAS) eine internationale wissenschaftliche Tagung zum Nahostkonflikt statt. Unter dem Titel "Die 'Nakba': Sechzig Jahre Enteignung, sechzig Jahre Widerstand" diskutierten auf Einladung des "London Middle East Institute" über zwei Tage lang führende Wissenschaftler über die wenig beachtete palästinensische Geschichtserfahrung und Leidensgeschichte, die Geschichtsschreibung Palästinas und des Konfliktes mit Israel, sowie Facetten und Aussichten des nationalen Widerstands gegen die israelische Besatzung. Ebenso zur Sprache kamen der einen Monat zurückliegende israelische Waffengang in Gaza und Möglichkeiten und Wege einer gerechten Lösung des nun über sechs Dekaden schwelenden Konfliktes, dessen Beilegung allerorten als zentral für eine Befriedungsdynamik in der gesamten Region des sog. Nahen und Mittleren Ostens erachtet wird.

Die Eröffnungsrede hielt der an den Universitäten Oxford, Beirut und Harvard lehrende, mittlerweile emeritierte Historiker Walid Khalidi. Der Mitbegründer und Generalsekretär des "Institute for Palestine Studies" hob hervor, dass die Geschichte der Nakba - der palästinensischen "Katastrophe" - auf dem Ersten Zionistischen Kongress 1897 in Basel ihren Anfang nahm und mit dem 22-tägigen Angriff Israels auf Gaza zur Jahreswende 2008/2009 sein vorerst letztes Kapitel erreichte. Der in Jerusalem geborene palästinensische Nahostexperte verurteilte das Schweigen der britischen und amerikanischen Regierungen gegenüber der israelischen "Dampfwalze", die im "Gazaer Ghetto" ein "pogromähnliches Blutbad" angerichtet habe. Auch von anderen Referenten sollte Israels "Operation gegossenes Blei", welches mittlerweile Gegenstand von Untersuchungen seitens der UNO und verschiedener Anwaltsvereinigungen ist, noch scharfe Kritik ernten. Seit vielen Jahren setzt sich Khalidi für eine Zweistaatenlösung und friedliche Koexistenz zwischen Israelis und Palästinensern ein.[1]


Zionismus und imperiale Macht

Übereinstimmung herrschte unter den Teilnehmern der Tagung, dass es sich beim Zionismus um einen radikalen Nationalismus mit dem Ziel der Errichtung eines ausschließlich jüdischen, kolonialen Siedlerstaates handele. Der Zionismus sei ursprünglich ein säkularer Ethnonationalismus gewesen, erklärte Khalidi, der sich aus Jahrhunderten der Unterdrückung und Einschüchterung der Juden durch das christliche Europa gespeist habe. Die Genealogie und die Facetten der ideologischen Grundlegung des Staates Israel, der im letzten Jahr seine 60-jährige Existenz feierte, bildete eines der Kernthemen der Tagung. Zentrales Charakteristikum des Zionismus, so der Grundkonsens, sei die Abhängigkeit und Unterstützung durch einen imperialen Sponsor. Nach Ansicht des emeritierten Philosophen am Londoner Kings College Moshe Machover bildet es eine von drei strategischen Elementen zionistischer Politik. Das Bündnis mit einer imperialen, vorzugsweise der hegemonialen Macht, beinhalte allerdings ein quid pro quo. Denn indem der zionistischen Kolonisierung Schutz und Unterstützung gewährt werde, werde im Gegenzug die regionale Agenda des imperialen Sponsors vorangetrieben. Dies habe sich z.B. bei der Zerschlagung des säkularen arabischen Nationalismus im Sechstage-Krieg 1967 gezeigt. Daraus folgert Machover, dass es keine Lösung des Nahostkonfliktes innerhalb der "palästinensischen Box" geben könne.[2] Als weiteres strategisches Element des Zionismus sieht Machover die Art der Kolonisierung, die statt auf die Ausbeutung der Arbeitskraft, auf die ethnische Trennung von der autochthonen Bevölkerung zielt, was im Endeffekt zu separaten Volkswirtschaften führe. Das dritte Element schließlich bestehe in der Setzung realistischer mittelfristiger Ziele zur Erreichung und Aufrechthaltung einer Vormachtstellung des Zionismus bzw. Israels.

Diese durch Machover bestimmten Kernelemente der zionistischen Strategie finden sich ähnlich bei dem britisch-israelischen Oxford-Professor Avi Shlaim. Neben Ilan Pappé und Benny Morris gehörte der als Sohn jüdischer Eltern in Bagdad geborene und in Israel aufgewachsene Shlaim zu Israels wohl prominentesten New Historians, die in ihren Forschungsarbeiten den Gründungsmythos des "jüdischen Staates" massiv in Frage stellten.[3] In einem Vortrag, den Shlaim Mitte Mai d. J. in London hielt, stellte er drei Wesensmerkmale des Zionismus heraus: (1) Theodor Herzls Bestreben, für das eigene koloniale Projekt die Unterstützung einer Großmacht zu gewinnen, was vom Osmanischen wie vom Deutschen Reich abgelehnt, dann aber durch die damalige Weltmacht Großbritannien aufgegriffen und in einer Weise realisiert wurde, die mit der amerikanischen Politik unter George W. Bush ihren absoluten Höhepunkt erreichte; (2) den Zionismus als ein stets erfolgreiches PR-Produkt; (3) die im Gegensatz zur strategischen Ausrichtung zumeist subtile Natur seiner Taktiken.[4]


Balfour: Portal zur Katastrophe

Für Khalidi ist die vom damaligen britischen Außenminister verfasste und nach diesem benannte, lediglich 72 Wörter zählende Balfour-Deklaration von 1917 das "Portal zur Katastrophe" gewesen. An die Führer der Zionistischen Weltorganisation gerichtet, erklärte sich London damals als Mandatsmacht mit deren Zielen einverstanden, in Palästina eine "nationale Heimstätte" des jüdischen Volkes zu errichten, wobei die Rechte bestehender nicht-jüdischer Gemeinschaften gewahrt bleiben sollten. Die Konsequenzen dieser Erklärung stuft Shlaim als "revolutionär" ein: "The Balfour Declaration was not just crooked; it was a contradiction in terms. The national home it promised to the Jews was never clearly defined and there was no precedent for it in international law. On the other hand, it was arrogant, dismissive, and even racist, to refer to 90 per cent of the population as 'the non-Jewish communities in Palestine'. And it was the worst kind of imperial double standard, implying that there was one law for the Jews, and one law for everybody else."[5] Gemeinsam mit dem Sykes-Picot-Abkommen ein Jahr zuvor, der das westliche Asien - ein Gebiet zwischen dem östlichen Mittelmeer und Persien - in britische, französische und russische Einflussgebiete aufteilte, entfachte die "Erbsünde" der Balfour-Deklaration großen Widerstand über Palästina hinaus.[6]

In den späten 30er Jahren erlitt der wachsende Widerstand gegen die zionistische Kolonisation durch das brutale Eingreifen der Briten einen herben Rückschlag.[7] Die Ablehnung des UN-Teilungsplanes von 1947 durch die Araber wirkte - in den Worten Khalidis - als "grüne Ampel für die Reconquista" und als Auslöser für die Invasion palästinensischer Gebiete. Im Schlüsseljahr 1948 wurde die Hälfte der damals 1,2 Mio. Einwohner des britischen Mandatsgebietes Palästina vertrieben. Nicht zuletzt dank des Werkes von Ilan Pappé besteht mittlerweile Klarheit darüber, dass die Ereignisse, die der Staatsgründung Israels vorangingen, als "ethnische Säuberung" zu bewerten sind.[8] Der libanesisch-französische SOAS-Professor Gilbert Achcar gab jedoch zu bedenken, dass bis 1970 das haschemitische Königreich Jordanien - das er als imperiales Armeegebilde der USA bezeichnete - mehr Palästinenser tötete als Israel. Der renommierte Politologe sprach vom Dolchstoß arabischer Regime gegen die palästinensische Befreiungsbewegung.[9]


Geschichtsschreibung

Auch in Israel seien diese Fakten unstreitig, betonte der mittlerweile an der University of Exeter lehrende Pappé. Die zwanzig letzten an israelischen Universitäten durchgeführten Promotionen behandelten allesamt Enteignung, Folter, usw. Aus diesem Nachwuchs würden "professionelle Historiker", erklärte er, die Schulbücher konzipieren und somit künftig das Geschichtsbild in Politik, Journalismus und Wissenschaft bestimmen werden. Auffällig sei jedoch die Tendenz, die genannten Vorgänge positiv zu bewerten. Die Aussage einiger Hauptwerke des akademischen Mainstreams Israels "Wir werden gewinnen" sei "schiere Propaganda", das zionistische Narrativ sei "manipuliert und fabriziert", so Pappé. Israel sei ein "kolonialer Siedlerstaat", der Zionismus ein koloniales Projekt. Dies habe dazu geführt, dass Palästina zu einer "Nicht-Existenz" geschrumpft sei. Er folgerte daraus, dass Palästina in der Geschichtsschreibung als Einheit zu behandeln sei.

Großen Zuspruch fand Pappés Feststellung, in der Beschreibung historischer Prozesse müsse das Augenmerk auf "Fakten" ("Real History") gelegt werden. Viele seiner Kollegen begnügten sich noch damit, das Augenmerk auf die "diplomatischen Anstrengungen" im sog. "Friedensprozess" zu richten. Der politikwissenschaftliche Ansatz, sich primär mit Prozessen zu befassen, tendiere dazu, "Gräueltaten zu enthumanisieren" und die Frage nach den Schuldigen - "Wer tat oder entschied, wann zu morden sei? " - aus dem Blick zu verlieren. Widerspruch meldete der an der Birzeit-Universität in Ramallah tätige Geschichtsprofessor Roger Heacock an, der die Bedeutung eines auf Prozesse gerichteten Blickwinkels hervorhob. In seinem Vortrag "Steine, Kugeln, Wahlurnen - Intifada: Ein unvollendetes Drama" argumentierte er, dass die letzten zwei Jahrzehnte als eine "einzige Intifada" zu betrachten seien, die aufgrund verschiedenartiger Herausforderungen unterschiedliche politische, organisatorische und ideologische Schwerpunkte im Kampf um Selbstbestimmung aufweise. Heacock unterschied dabei drei Phasen: deren erste vom nationalen Kampf ab Dezember 1987 (sog. "erste Intifada") und der Konsolidierung mit der Unterzeichnung des Oslo-Vertrags im August 1993 bestimmt war; ihr folgte als zweite Phase ein nationaler und sozialer Kampf im Zuge der "Al-Aqsa- bzw. Zweiten Intifada" ab September 2000 sowie eine erneute Konsolidierung zwischen dem Tod Yassir Arafats (November 2004) und dem Januar des Jahres 2006. Die "dritte Phase der Intifada" schließlich sei durch einen nationalen, gesellschaftlichen und politischen Kampf seit dem Hamas-Wahlsieg im Februar 2006 gekennzeichnet. Daraus ergeben sich für die gegenwärtige Phase neue Herausforderungen: die Bedenken arabischer Regime gegen gesellschaftliche Veränderungen, der Widerstand Israels gegen die nationalen Bestrebungen der Palästinenser und die zumindest vorerst vorherrschende Ablehnung der USA gegenüber dem Islamismus.


Hinter Israels Kriegen

Der wohl bekannteste Referent war Norman Finkelstein. Der in New York aufgewachsene Sohn von Holocaust-Überlebenden gilt als der schärfste Kritiker Israelischer Regierungspolitik, weshalb ihm durch Agitation zionistischer Kreise in den USA ein ihm zugesprochener Lehrstuhl an der Chicagoer DePaul University verwehrt blieb. Nach seiner Ansicht dienten die von Israel geführten Kriege vor allem dem Zweck, die "Abschreckungsfähigkeit" (deterrence capacity) Israels (wieder-) herzustellen. Der Gaza-Krieg mit dem Morden von Zivilisten sei ein Paradebeispiel dafür, so Finkelstein. In seinem Vortrag dekonstruierte er die in Bestsellern anzutreffenden Darstellungen des Sechstage-Kriegs vom Juni 1967. Die konventionelle Erzählung verzerre zentrale Aspekte der Vorbereitung und des Verlaufs der Kämpfe. So habe Israel bereits zu dem Zeitpunkt, als der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser seine Truppen im Sinai mobilisierte, vorgehabt, Syrien zu überfallen; Nasser habe keine Blockade in der Meerenge von Tiran durchgesetzt; weder Damaskus noch Kairo hätten beabsichtigt, Israel anzugreifen; im Gegensatz zu Tel Aviv sei Kairo bestrebt gewesen, den Konflikt auf diplomatischem Wege beizulegen. Israel habe zudem in der militärischen Auseinandersetzung die Chance gesehen, durch die Einnahme des Westjordanlandes, des Gaza-Streifens, der Golan-Höhen und der Sinai-Halbinsel seine Grenzen zu "korrigieren", so der jüdisch-amerikanische Politologe. Zum Motiv des israelischen Angriffs zitierte Finkelstein die Befürchtung des israelischen Generals und späteren Ministerpräsidenten Ariel Sharon, dass "wir unsere Abschreckungsfähigkeit verlieren, unsere Hauptwaffe, die Angst vor uns". Dementsprechend diene das offizielle Narrativ der Stärkung des Selbstbildes Israels als eines stets sich verteidigenden und ums Uberleben kämpfenden Staates.[10] Im gleichen Sinne hatte schon Khalidi in seiner Keynote Speech die "arabische Gefahr" gegenüber Israel als Mythos bezeichnet.

Gilbert Achcar machte ergänzend darauf aufmerksam, dass die US-Nahostpolitik, die gegen den panarabischen Nationalismus des nasseristischen Ägypten und des baathistischen Syrien gerichtet war, ein weiteres Element des arabisch-israelischen Sechstage-Krieges bildete. Der jüngste Gaza-Feldzug, so Achcar weiter, sei der gleichen Logik gefolgt, unliebsame Kräfte zu beseitigen, und sei damit auch als Teil der anti-iranischen Anstrengungen der USA zu deuten. Der Guardian-Kolumnist und -Mitherausgeber Seumas Milne griff die von Kritikern der israelischen Regierungspolitik immer wieder gestellte Frage auf, weshalb nicht blutigere Konflikte wie jene im Kongo oder in Sri Lanka im Zentrum der Aufmerksamkeit lägen. Die Einzigartigkeit des Nahostkonfliktes, so der ehemalige Economist-Journalist Milne, bestehe in der Tatsache, dass Israels Verbündeter das "US-Imperium" sei. Er sah im Öl den Grund für die unvollständige Dekolonisierung der Region, deren Diktaturen mit amerikanischer Unterstützung am Leben gehalten würden, widersprach jedoch der Ansicht, dass Israel ein bloßes Marionettenregime sei, da es auch gegen US-Interessen handele. Vielmehr sei Israel, wie auch Saudi-Arabien, ein "strategischer Alliierter" der USA.


Rolle und Identität(en) der Hamas

Im Panel zur Geschichte des palästinensischen nationalen Befreiungskampfes machte der renommierte palästinensische Literaturwissenschaftler Bashir Abu-Manneh deutlich, dass die Hamas im Januar 2006 wegen des Kampfes gegen Israel und nicht etwa aufgrund ihrer religiös-reaktionären gesellschafts-politischen Vision gewählt wurde - eine Einschätzung, die von Khaled Hroub, einem führenden Experten der Hamas und Gruppierungen des "politischen Islam bzw. Islamismus", bestätigt wurde." Der in Cambridge moderne Nahostgeschichte lehrende Publizist und Medienwissenschaftler betonte, dass das Paradigma des Widerstands für den Erfolg der Hamas - i.Ü. ein Akronym für "Islamische Widerstandsbewegung" - zentral sei und überdies ihre viel diskutierte Charta keine Rolle mehr spiele. Er kam zu dem Schluss, dass eine Fortsetzung des Widerstands der Hamas bei Wahlen eine wachsende Legitimität verschaffen werde. Die ebenfalls in Cambridge lehrende Lori Allen dokumentierte anhand von Wahlkampfvideos von Hamas und Fatah eine erbittert geführte Auseinandersetzung über das Thema Aufrichtigkeit: Nichtsdestotrotz herrsche aufgrund der Übereinkunft über gemeinsame Prinzipien eine gewisse Einigkeit, betonte die amerikanische Anthropologin.

In seinem Vortrag wies Gilbert Achcar auf die Unterschiede der beiden Widerstandsorganisationen Hamas und Hizbullah hin. Der Kampf der Hamas sei eine Kombination zwischen dem Widerstand gegen die israelische Besatzung und dem Versuch, auf einen islamischen Staat hinzuarbeiten, wobei "despotische Neigungen" nicht zu übersehen seien. Hingegen sei sich die Hizbullah aufgrund des diversen Charakters der libanesischen Gesellschaft der Unmöglichkeit bewusst, einen "Gottesstaat" zu errichten und integriere sich dementsprechend in das plurale politische System des Landes. Doch sei es unter Hamas zu keiner Islamisierung Palästinas gekommen, so Heacock, der anderthalb Jahre unter Hamas-Herrschaft lebte. Nur die islamische Kultur spiele eine Rolle.


Die Wunden Gazas

Der in Großbritannien tätige plastische Chirurg Dr. Ghassan Abu-Sittah, der während der Ersten und Zweiten Intifada in Palästina und im Südlibanon sowie 1991 im Irak Verletzte behandelt hatte und während der jüngsten israelischen Militäraktion mit seiner Kollegin Dr. See Ang in den Gaza-Streifen reisen konnte, demonstrierte in seinem Vortrag über "Die Wunden Gazas" anhand von Fotos die Folgen des Einsatzes von Phosphor, Vakuum-, Mikrowellen- und Cluster-Bomben durch die israelische Armee gegen die zivile Bevölkerung. Nach seinen Angaben kamen 1430 Menschen im Gaza-Streifen zu Tode - er sprach hier von "individuellen Hinrichtungen", die im Gegensatz zum Bombenteppich à la Vietnam stünden -, 600 davon waren unter 18 Jahre. Zudem erlitten 5420 Personen Verletzungen. Auch zeigte er Bilder von Kindes-Exekutionen, Angriffen auf das UN-Gelände, auf Krankenhäuser und auf Schulen, darunter die amerikanische. All dies führe vor Augen, so Abu-Sittah, dass keinerlei rote Linien existierten. Er plädierte dafür, dass die Schuldigen für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden müssten. Darüber hinaus berichtete er, dass Ärzten die Einreise nach Gaza verwehrt wurde, dass das Gesundheitsministerium in Ramallah (Westjordanland) die Einreise von Ärzten blockierte, während die ägyptische Regierung den Grenzübergang in Rafah sperrte. Bei der Errichtung der Infrastruktur zur Versorgung Hilfsbedürftiger habe sich die Hamas als weit effizienter erwiesen, als es die Fatah - die er mit dem Vichy-Regime verglich - je gewesen sei. Er warnte schließlich vor der extremen Schutzlosigkeit der Bevölkerung Gazas im Falle eines weiteren israelischen Angriffs. Angesichts der humanitären Katastrophe in Gaza kritisierte Finkelstein scharf die Passivität der Menschrechtsorganisationen Human Rights Watch und Amnesty International. Zu deren Verlautbarungen fragte er, was es angesichts des von Israel angekündigten Massakers zu "untersuchen" gäbe. Achcar bezeichnete Ägypten und Israel als "Wächter des Konzentrationslagers von Gaza".

Die ehemalige PLO-Vertreterin und jetzige Dozentin an der Universität Oxford Karma Nabulsi hatte nach dem Feldzug Gaza besucht und verglich die Situation mit jener im Libanon 1982 nach der damaligen israelischen Invasion. Nach ihren Beobachtungen waren sich die Einwohner von Gaza dessen bewusst, dass sie selbst das Ziel der Angriffe zu Land, von der See und aus der Luft waren, denen sie sich nackt und schutzlos ausgeliefert fühlten.[12] Zugleich sei es den Bewohnern klar gewesen, dass die Hamas dagegen Widerstand leistete.

Ilan Pappé erinnerte daran, dass sich seine 2005 ausgesprochene Befürchtung, die israelischen Streitkräfte hätten sich aus dem Gaza-Streifen nur zurückgezogen, um das Feld für eine ethnische Säuberung zu bereiten, als korrekt erwiesen hat. Tel Aviv habe zunächst gemeint, Gaza von außen kontrollieren zu können, und nicht mit einer Regierung dort gerechnet, die sich jeglicher Kollaboration verweigert und sogar Widerstand leistet. Israel habe eine Eskalationsstrategie verfolgt und massiv getötet. Die in Gaza nun begangenen Hinrichtungen seien jedoch nichts Neues, auch 1948 ereilte Palästinenser, die mit einem Alter von mehr als zehn Jahren als "erwachsen" eingestuft wurden, dasselbe Schicksal. Zwar sprach Pappé von einer "ethnischen Säuberung" in Gaza, bezweifelte aber, dass es sich um einen Genozid gehandelt habe.

Dem widersprach der an der Birzeit-Universität lehrende Saleh Abdel-Jawad. Der Historiker und Politologe verwies auf die in der Genozidkonvention enthaltene Definition von Völkermord als "Handlung, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören", namentlich in der Form von: "a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Verursachung von schwerem körperlichem und seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen [...]".[13] Danach handele es sich bei dem jüngsten israelischen Angriff eindeutig um einen "Soziozid", welches rechtlich schwerer wiege als Apartheid. An die überwältigende Unterstützung für den Feldzug gegen den Gazastreifen erinnernd, sagte Pappé, der durchschnittliche Israeli wolle, dass die Armee den "Job zu Ende bringe". Israel bewege sich somit auf dem Weg von der ethnischen Säuberung hin zum Genozid.


Besatzungsende oder Eskalation?

Für Musa Budeiri von der Birzeit-Universität, der in seinem Vortrag den Widerstand unter Aspekten der Klassenthematik untersuchte, setzt eine gerechte Lösung für die einheimische Bevölkerung Palästinas voraus, dass die Idee eines Nationalstaates überwunden wird und an seine Stelle post- bzw. nicht-nationale Konzepte treten. Als Beispiel führte der Politologe die Vorstellungen arabischer und jüdischer Kommunisten an, die den Aufstieg oder Untergang nationaler Einheiten keineswegs ausschließen. Es sei nicht möglich, Palästina ohne seine "natürliche Umwelt", d.h. die östliche arabische Welt, zu erfassen. Bei dem Palästina-Konflikt handele es sich somit letztlich um eine arabisch-israelische Angelegenheit, deren Lösung nicht in "absoluter Gerechtigkeit", sondern nur in einem "working arrangement" für all jene bestehen könne, die in dem Gebiet des ehemaligen Palästina leben. Es bedürfe, mit anderen Worten, einer Lösung auf regionaler Ebene, um die gegenwärtige Ordnung zu ersetzen.

Einmütigkeit bestand darin, dass auch der palästinensische Widerstand sich in diese Richtung weiterentwickeln müsse. Abu-Manneh schlug eine radikal-säkulare Alternative zu Fatah und Hamas vor, als deren primäre Aufgabe er sah, auf das Ende der Okkupation hinzuarbeiten. Ein "Politizid" - ein politischer Selbstmord - müsse jedoch unter allen Umständen verhindert werden. Hroub bemerkte dazu, dass sich die Hamas zu einer gesamt-palästinensischen nationalen Bewegung entwickelt hätte, nun aber linke und säkulare Kräfte integrieren und auch ihre Charta ändern müsse. Dem stimmte auch Abu-Sittah mit der Forderung zu, dass die Palästinenser die Hamas in eine breite Koalition treiben müssten. Nabulsi forderte eine Mobilisierung in der Region für Gerechtigkeit und gegen Unrecht, welche sich zwar nicht für die Hamas einsetzt, aber auch nicht in Opposition zu ihr steht.

Die Besonderheit des palästinensischen Kampfes innerhalb nationaler Befreiungsbewegungen, stellte u.a. Achcar heraus. Man habe es mit einem "fragmentierten", d.h. geographisch zerrissenen, Volk zu tun. Dies könne dazu führen, dass sich die palästinensische Bevölkerungsmehrheit in Jordanien gegen die dortige - künstlich auf eine beduinische Identität gegründete - Monarchie auflehnt. Desgleichen sei absehbar, dass die Palästinenser im Libanon die dort gegen sie praktizierte Apartheid bekämpfen werden.

Die iranisch-amerikanische SOAS-Politologin Laleh Khalili befasste sich mit der vielfach kritisierten Weigerung der britischen BBC einen Werbespot zu humanitärer Hilfe für die Notleidenden in Gaza zu senden. Sie vertrat die Meinung, dass die Medien sich gegenüber mächtigen Staaten und privaten Interessen verpflichtet hätten. Infolgedessen werde kaum über die im Nahen und Mittleren Osten zu beobachtenden "Okkupationen, Unterdrückungen und Enteignungen" berichtet. Die Macht der zionistischen Lobby werde jedoch trotz ihrer obsessiven Art überbewertet.

Finkelstein strich heraus, dass in der Folge des Gaza-Feldzugs die westliche öffentliche Meinung sich nun zuungunsten Israels entwickelt habe. Man müsse die Bevölkerungen der westlichen Länder dazu bringen, in Einklang mit diesem Meinungsumschwung, auf die israelische Regierung mit dem Ziel einzuwirken, den internationalen Konsens zur Schaffung von zwei Staaten in den Grenzen von 1967 mit Jerusalem als geteilter Hauptstadt zu akzeptieren. Was die Art und Weise des Widerstands anbelangt, so Finkelstein, stehe es einzig den Palästinensern zu, darüber zu entscheiden. Er glaube jedoch, dass die Zeit für großangelegte gewaltfreie Aktionen gekommen sei. So regte er unter Beteiligung von Persönlichkeiten wie der ehemaligen UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Mary Robinson oder dem vormaligen US-Präsidenten Jimmy Carter einen Marsch von einer halben Million Palästinensern zu einem israelischen Checkpoint an, um der Welt das Unrecht und die Ausweglosigkeit der bestehenden Situation vor Augen zu führen.

Ahmad Sa'di von der israelischen Ben-Gurion-Universität im Negev, einer der wenigen Palästinenser, die trotz der Diskriminierung palästinensischer Wissenschaftler an israelischen Hochschulen tätig sind, erinnerte an die von Außenminister Avigdor Lieberman wiederholt ins Spiel gebrachte Idee eines "Transfers" arabischer Israelis und gab zu bedenken, dass solch ein Plan von den meisten Israelis unterstützt wird. Dies beweise nur, so Milne, dass der palästinensische Widerstand gegen den Imperialismus auf globaler Ebene zu führen sei, denn Israel werde als ein europäisch-weißer "kolonialer Siedlerstaat" empfunden und die Präsenz von Ex-Kolonisierten im Westen werde die politischen Machtverhältnisse zugunsten der Palästinenser verschieben. So sieht denn auch Finkelstein keinen Grund defätistisch zu sein, denn dank der sich ändernden öffentlichen Meinung bestehe nun eine reale Chance für das Ende der Besatzung.


Der Autor Ali Fathollah-Nejad ist Politologe.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Khalidi, "Toward Peace in the Holy Land", Foreign Affairs, Jg. 66, Nr.4 (Frühjahr 1988). S.771-89.

[2] http://marxists.anu.edn.au/history/etol/writers/machover/2006/11/isr-pal-d.html.

[3] Über Morris Umorientierung ins rechte Lager, siehe inamo 49, Frühjahr 2007, S. 321.

[4] Shlaim [Prof. für Internationale Beziehungen, Oxford University], "The History and the Historiography of the Arab-Israeli Conflict", Vortrag auf Einladung von 'Friends of Le Munde Diplomatique'. London, 11.05.2009.

[5] Vgl. Avi Shlaim, "The Balfour Declaration and its Consequences", in: Wm. Roger Louis (Hg.), Yet More Adventures with Britannia: Personalities, Politics and Culture in Britain, London: I.B. Tauris 2005, S. 251-70.

[6] Ebd.

[7] Shlaim 2009.

[8] Vgl. Pappé, The Ethnic Cleansing of Palestine, Oneworld Publications 2006.

[9] Vgl. Achcar, Eastern Cauldron, New York: Monthly Review Press 2004.

[10] U.a. Finkelstein: Antisemitismus als politische Waffe: Israel, Amerika und der Missbrauch der Geschichte, Piper 2006. 2009 erscheint A Farewell to Israel: The Coming Break-Up of American Zionism.

[11] Vgl. Hroub, Hamas: Die islamische Bewegung in Palästina, Heidelberg: Palmyra 2008; (Hg.) Political Islam: Context versus Ideology, London: Saqi 2009 (i.E.).

[12] Vgl. Nabulsi, "Land, Sea, Sky: All Will Kill You", The Guardian, 03.01.2009.

[13] Zit. n. "Übereinkommen vom 9. Dezember 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes", Website der Schweizer Bundesregierung.


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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 57, Sommer 2009

Gastkommentar - Ein Turban tragender Militärdiktator: absurd, aber..., von Bahman Nirumand

Sudan
- Bilanz: 20 Jahr unter al-Bashir, von Mohamed Mahmoud
- Machtstrukturen und politische Lager, von Annette Weber
- Vier Jahr nach dem Comprehensive Peace Agreement (CPA), von Maria Peters
- Wahlen 2010, von Roman Deckert
- Unter einem Genozid interessiert Darfur nicht! Von Julie Flint und Alex de Waal
- Der Internationale Strafgerichtshof und Darfur: Wie störend ist Gerechtigkeit?,
   von Annette Weber und Denis M. Tull
- Eine Kritik am Haftbefehl gegen Omar al-Bashir, von Alex de Waal
- Warum nutzt der Sudan nicht sein Entwicklungspotenzial? Von Anja Dargatz
- Ausdruck des Wandels: Die Beziehungen China - Sudan, von Daniel Large

Iran
- 30 Jahr Islamische Revolution: Fortschritt, Rückschritt, Stillstand,
   von Mohssen Massarrat
- Youtubing Teheran. Für eine Ethik des Betrachtens, von Patricia Edema

Libanon
- Hisbullah nach Doha: Neue Ära? Neue Politik? Von Manuel Samir Sakmani

Israel/Palästina
- Israel, Südafrika und Apartheid, von John Dugard
- 60 Jahre Nakba: Von ethnischer Säuberung zur Dekolonisierung?
   Von Ali Fathollah-Nejad

Wirtschaftskommentar
- Konjunkturspritze aus dem Morgenland, von Barik Schuber

Zeitensprung
- Juli 1908: Konstitutionelle Revolution im Osmanischen Reich, von Vangelis Kechriotis

Literatur
- Zwischen Politik und Zimtaroma: Die Autorin Samar Yasbek, von Amall Breijawi-Mousa
- Lehm, von Samar Yazbek
- Der Andere, von Hamid Fadlallah
- Fertiges Szenario, von Mahmud Darwish

Ex Libris
- Johannes M. Becker, Herbert Wulf (Hg.), Zerstörter Irak - Zukunft des Irak,
   von Werner Ruf

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Quelle:
INAMO Nr. 57, Jahrgang 15, Sommer 2009, Seite 56 - 60
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. September 2009