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NAHOST/632: Nahr al-Bared - Flüchtlingslager als Militärzone (inamo)


inamo Heft 60 - Berichte & Analysen - Winter 2009
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Nahr al-Bared: Flüchtlingslager als Militärzone

Von Ray Smith, Nahr al-Bared Camp


Zwei Jahre nach den bewaffneten Auseinandersetzungen im palästinensischen Flüchtlingslager Nahr al-Bared im Nordlibanon leben dessen Einwohner noch immer unter militärischer Belagerung. Nahr al-Bared wurde zum Prüfstein neuer Ansätze libanesischer Sicherheitspolitik gegenüber den Flüchtlingslagern.


Von Mai bis September 2007 war Nahr al-Bared Camp im Norden Libanons Schauplatz eines Krieges zwischen der militanten Gruppe Fatah al-Islam und der libanesischen Armee. Die 15-wöchigen Kämpfe hinterließen den offiziellen Teil des Flüchtlingslagers, das 'alte Camp', komplett verwüstet. Viele Häuser im angrenzenden 'neuen Camp' wurden ebenfalls zerstört.

Seit Oktober 2007 erlaubte die libanesische Armee den rund 30.000 Flüchtlingen schrittweise die Rückkehr in den äußeren Bereich von Nahr al-Bared. Dort warten sie nun in temporären Unterkünften, in Baracken und in halbzerstörten Häusern auf den Wiederaufbau des alten Camps. Nach mehreren Verzögerungen begann dieser Ende Juni. Im August sorgte Michel Aoun, der Führer der 'Freien Patriotischen Bewegung' per Einspruch beim libanesischen Obergericht für einen zweimonatigen Baustopp. Ende Oktober wurden die Bauarbeiten nun wieder aufgenommen.


Einlass nur mit Bewilligungen

In Nahr al-Bared beging die libanesische Armee einen Tabubruch: Das erste Mal seit dem Bürgerkrieg rückte sie in ein palästinensisches Flüchtlingslager vor. Nach dem Krieg zog sich das Militär schrittweise aus dem neuen Camp zurück und übergab die Häuser oder deren Ruinen ihren vormaligen Bewohnern. Nach wie vor besetzt die Armee aber noch das gesamte alte Camp und unterhält Checkpoints an allen Eingängen von Nahr al-Bared, während Stacheldraht, Betonmauern und andere Hindernisse das Lager gegen außen abschotten.

Die libanesische Armee kontrolliert den Zugang ins Camp durch ein striktes Bewilligungssystem. Dieses wird auf alle angewandt - auch auf die Einwohner von Nahr al-Bared. Während einer langen Zeit war es Mitarbeiter von internationalen NGOs oder Menschenrechtsorganisationen wie auch Journalistinnen und Journalisten nicht gestattet, das Camp zu betreten. Selbst heute, zwei Jahre nach dem Krieg, bekunden Medienschaffende oft Mühe, Bewilligungen zu erhalten. Jene, denen Einlass ins Flüchtlingslager gewährt wird, werden dann allerdings meist vom Armeegeheimdienst begleitet.

Scheich Ismail, der Imam der al-Quds-Moschee von Nahr al-Bared zieht zwei Papiere aus seinem Portemonnaie hervor und erklärt: "Schau, alle von uns haben eine Identitätskarte die überall akzeptiert wird. Wieso brauchen wir eine zusätzliche Bewilligung? Auf beiden Papieren stehen doch genau die gleichen Informationen!"

Othman Badr, ein Journalist und Sprecher des Einwohnerkomitees sagt, die meisten Flüchtlinge hätten kein Problem mit den Checkpoints an sich: "Das ist libanesischer Boden und der Staat hat ein Recht darauf, Checkpoints hinzustellen wo immer er will." Badr weist aber darauf hin, dass die Bewilligungen das Hauptproblem für die Einwohner von Nahr al-Bared seien und schimpft: "Es ist gegen sämtliche Menschenrechte, dass jemand eine Bewilligung braucht um nach Hause schlafen zu gehen oder Angehörige und Freunde einzuladen!"


Behinderung des ökonomischen Neustarts

Im Gegensatz zu anderen Flüchtlingslagern im Libanon war Nahr al-Bared einst ein blühendes regionales Handelszentrum, welches mit billigen Preisen und anderen Vorteilen libanesische Kunden anzog. Diese konnten das Camp frei betreten. Nach dem Krieg begannen die Flüchtlinge sofort damit, am Rande des Camps Geschäfte aufzubauen. Der eingeschränkte Zugang ins Camp behindert jedoch die wirtschaftliche Wiederbelebung von Nahr al-Bared massiv.

Am Eingang des Flüchtlingslagers führt Mohammad Hamed ein kleines Restaurant. Er klagt über mangelnde Kundschaft: "Das Problem ist, dass wir kaum mehr Kunden von außerhalb des Camps haben. Das Geld, welches die Leute hier ausgeben, zirkuliert nur innerhalb des Flüchtlingslagers. Deshalb haben wir kaum ein Einkommen." Hamed sagt, er mache zwar täglich rund 35 Dollar Umsatz, verdiene daran aber bloß etwas mehr als 5 Dollar.

Abu Ali Mawed, der das lokale Händlerkomitee präsidiert, betrachtet die Belagerung des Flüchtlingslagers als Haupthindernis für den wirtschaftlichen Neuanfang von Nahr al-Bared: "Das Camp ist eine geschlossene Militärzone. Unsere Nachbarn können es nicht betreten. Wie soll sich die Wirtschaft unter diesen Bedingungen denn entwickeln können?" Er betont, dass all die wirtschaftlichen Aufbau-Projekte internationaler Organisationen zum Scheitern verurteilt sind.

Mitte Oktober verkündete die libanesische Armee, fortan libanesische Bürger auch ohne Spezialbewilligungen nach Nahr al-Bared hereinzulassen. Geändert hat dies aber nichts, wie eine Umfrage unter den Händlern zeigt. Nasr Nassar, der Gas in Flaschen abfüllt und verkauft, weist auf bleibende Probleme hin: "Libanesische Kunden kommen nicht ins Flüchtlingslager, weil sie an den Checkpoints aufgehalten, durchsucht und ausgefragt werden." Die Abschaffung der Bewilligungspflicht für Libanesen entpuppt sich bislang als reines Medienmanöver seitens der libanesischen Armee.

Als im Januar 2009 das libanesische Kabinett Pläne der Armee zum Bau zweier Militärbasen unmittelbar an der Küste von Nahr al-Bared guthieß, verfasste das Einwohnerkomitee einen offenen Brief an die libanesische Regierung: "Wieso werden wir mit Militärbasen belohnt, nachdem unsere Häuser zerstört wurden und unser Hab und Gut verloren ging in einem Krieg, mit dem wir nichts zu tun hatten?" Othman Badr vom Komitee ergänzt, dass ein Wohngebiet wie Nahr al-Bared zweifellos die falsche Umgebung für eine Militärbasis sei, weil Zivilisten Risiken ausgesetzt würden. Er weist auf Libanons mehr als 200 Kilometerlange Küste hin und fragt: "Wieso in aller Welt müssen sie diese Armeebasis gerade in Nahr al-Bared hinstellen? Gibt es wirklich keine andere geeignete Stelle an Libanons Küste?"


Wiederherstellung libanesischer Souveränität

Nach dem massiven Protest wurde es zwar leiser um die Pläne, aufgegeben wurden sie aber nicht. Die libanesische Regierung hat indes klargemacht, dass sie ihre Sicherheitskräfte auch nach dem Wiederaufbau nicht aus dem Camp abziehen wird. Der ehemalige Ministerpräsident Fouad Siniora erwähnte wiederholt, dass Nahr al-Bared zum Vorbild für die anderen palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon werde. Der Versuch, libanesisches Land 'zurückzuerobern' bedeutet, dass das Camp fortan unter libanesischer Souveränität stehen und die libanesische Polizei in Nahr al-Bared stationiert sein wird. Dieses Vorhaben wird seitens der Palästinenser und der PLO heftig bekämpft.

Die libanesische Absicht, das Camp zu kontrollieren, ist verknüpft mit dem Thema der palästinensischen Waffen. Die meisten palästinensischen Organisationen sind außerhalb der Flüchtlingslager längst nicht mehr militärisch präsent. Innerhalb der Camps aber wird die Entwaffnung eindeutig abgelehnt. Angesichts der konfliktreichen palästinensischen Geschichte im Libanon werden Waffen als unabdingbare Instrumente zum Schutz der Camps betrachtet. Ein Report der International Crisis Group vom Februar 2009 weist auf die Bedeutung des libanesischen Pilotprojektes hin: "Nahr al-Bared wurde zu einem Testfall dafür, wie gut der Libanon die Sicherheitsverantwortung in den Camps wahrnehmen kann."


Langfristige Ansiedlung im Libanon?

Die totale Zerstörung ihres Camps, die Plünderung und das Abbrennen ihrer Häuser, zahlreiche gewalttätige Übergriffe libanesischer Soldaten an den Checkpoints und in Haft, Einschüchterung durch den Armeegeheimdienst, Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und die Belagerung des Camps haben den Flüchtlingen bislang keinen vertrauenerweckenden Eindruck vom libanesischen Sicherheitsapparat gegeben. Die Flüchtlinge verweisen indes auf die langfristige Ansiedlung der Palästinenser im Libanon. Deren Ablehnung ist einer der raren Punkte, in welchem alle libanesischen Parteien bislang einig waren.

Nidal Abdelal, ein lokaler Aktivist der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP), weist auf die eigentliche Frage hinsichtlich des Wiederaufbaus von Nahr al-Bared und des absehbaren Lebens unter libanesischer Sicherheitsobhut hin: "Wird es zu einem Projekt der dauerhaften Ansiedlung der Palästinenser, um ihr Rückkehrrecht nach Palästina abzuschaffen? Die Frage ist, unter welchen politischen Bedingungen das Camp wieder aufgebaut wird." Die Einwohner von Nahr al-Bared fürchten, dass der Wiederaufbau zum Experiment für ihre langfristige Ansiedlung im Libanon wird. Der Vorgeschmack darauf lässt sie mit wenig Optimismus in die Zukunft blicken.


Ray Smith ist freischaffender Journalist und Aktivist beim autonomen Medienkollektiv 'a-films', welches seit mehr als zwei Jahren die Entwicklungen in Nahr al-Bared dokumentiert: http://a-films.blogspot.com


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Nahr al-Bared


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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 60, Winter 2009

Gastkommentar
- Es geht um antiislamischen Rassismus, nicht um Minarette, von Sabine Schiffer

US-Nahostpolitik
- Obamas Nahostpolitik - Haben die USA aus Camp David gelernt? Von Ivesa Lübben

Israel
- Ultranationalistische Kriegsdienstverweigerer, von Shraga Elam

Libanon
- Nahr al-Bared: Flüchtlingslager als Militärzone, von Ray Smith

Afghanistan
- Frieden schaffen mit immer mehr Waffen, von Matin Baraki

Neue arabische Literatur
- Inhaltsverzeichnis Literatur

Wirtschaftskommentar
- Gib mir Freiheit...oder einen Einkaufstag: Jenin als Modell..., von Jonathan Cook

Zeitensprung
- 13. Februar 1960 - Frankreichs strahlendes Erbe in der Sahara, von Werner Ruf

Ex Libris
Thomas Jäger, Henrike Viehrig (Hg.): Die amerikanische Regierung gegen die Weltöffentlichkeit, von Sabine Schiffer
Aktuelle Publikationen zu bioethischen Themen im Islam, von Nils Fischer
Avraham Burg: Hitler besiegen, von Tamar Amar-Dahl

Nachrichten//Ticker//


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Quelle:
INAMO Nr. 60, Jahrgang 15, Winter 2009, Seite 9 - 10
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. März 2010