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NAHOST/677: Stamm und Staat im Jemen (inamo)


inamo Heft 62 - Berichte & Analysen - Sommer 2010
Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten

Stamm und Staat im Jemen: Rolle und Wandel

Von Sami Ghalib


Am 22. Mai vergangenen Jahres wählte Präsident Ali Abdallah Salih die 240 km südlich von Sanaa gelegene Stadt Ta'izz, um dort den 20. Jahrestag der Vereinigung des ehemals geteilten Jemen zu feiern. Die Botschaft, die er an diesem Ort an In- und Ausland richtete, lautete: Der jemenitische Einheitsstaat, der 1990 die beiden Staaten im Norden und Süden abgelöst hat, befinde sich nach wie vor in bester Verfassung und erfreue sich der Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung.


Ta'izz war in der von den Osmanen vorgenommenen administrativen Gliederung Hauptstadt eines Bezirks, der wiederum in Kreise unterteilt war. Der wichtigste unter diesen war die südlich in der Nähe von Aden gelegene Region der Hujjariyya. Nachdem Großbritannien im Januar 1839 Aden besetzt hatte, schloss die Hujjariyya ein kurzlebiges Freundschaftsabkommen mit der britischen Regierung. Daraufhin wurde Aden, die spätere Hauptstadt des Südjemens, anderthalb Jahrhunderte lang das Ziel von Zehntausenden Emigranten aus dem unteren Jemen und insbesondere aus der Hujjariyya. Sie flohen entweder vor der (zaiditischen) Zentralmacht, wie es in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts der Fall war, oder aus wirtschaftlichen Gründen, als Aden in den 30er, 40er und 50er Jahren aufblühte. Etwa 60 % der Bevölkerung Adens stammen aus den unteren Gebieten des Nordjemens, und auch Abd al-Fattah Isma'il, der dritte Präsident des unabhängigen Südjemens (von 1978 bis 1980) stammte aus der Hujjariyya.

Die Migrationsbewegungen nach Aden hatten weit reichende Folgen für den Norden: Sie trugen dazu bei, dass die Bewohner des unteren Jemens und der Tihama das 20. Jahrhundert lange vor den anderen Bewohnern des Nordjemens entdeckten. Dies wiederum hatte dann Auswirkungen in den 60er Jahren, als nach dem Sturz des zaiditischen Imamats Tausende junger Männer in die Armee der Jementischen Arabischen Republik eintraten. Viele andere ehemalige Emigranten nach Aden und nach Ostafrika schlossen sich in den 50er und 60er Jahren der von Ahmad Muhammad an-Nu'man gegründeten Oppositionsbewegung an. Auch letzterer stammte aus einer in der Hujjariyya einflussreichen Familie, und seine Anhänger - vielfach erfolgreiche Händler - machten sich progressive bürgerliche Ansichten zu eigen und gründeten später in nordjemenitischen Städten Schulen, Kindergärten und Kinos. Die meisten von ihnen unterstützten die Freien Offiziere, die am 26. September 1962 die Herrschaft des Imams beendeten.

Daraufhin wurde die erste arabische Republik auf der Arabischen Halbinsel errichtet - durch ein Bündnis aus Händlern, Intellektuellen und Politikern des unteren, schafiitischen Jemens und national gesinnten zaiditischen Offizieren aus dem oberen Jemen. Diesem Bündnis von zwei relativ modernistischen Gruppen, auf dem die Jemenitische Arabische Republik (JAR) von 1962 bis 1990 im Wesentlichen beruhen sollte, schlossen sich im Verlaufe der Revolution einige Sheikhs der Stammesföderationen der Hashid und Bakil an. Zu ihnen gehörten Sheikh Abdallah Bin Husain al-Ahmar, Oberhaupt der Hashid, und Sheikh Sinan Abu Lahum, einer der bedeutendsten Sheikhs der Bakil nach der Revolution.


Schafiiten und Zaiditen

Im Zuge der Entstehung des Staates von Imam Yahya (1917-1948) bildete sich die Armee des nordjemenitischen Staates auf konfessioneller und regionaler Grundlage heraus: Sie war im Grunde die Armee des zaiditischen Nordens, die Armee des haschemitischen Imams, die mit großer Härte die Stammes- und Volksaufstände im Süden und Osten unterdrückte. Wie seine Vorgänger stützte sich Imam Yahya auch auf die härtesten Kämpfer von Hashid und Bakil, deren Stammesgebiete sich im Norden und Osten von Sanaa befinden, als er in den ersten fünfzehn Jahren seiner Regentschaft seine Macht in den sich ihm widersetzenden Gebieten - vor allem in den schafiitischen Regionen im Süden und Osten - durchzusetzen versuchte.

Dass die Armee zum größten Teil aus Zaiditen bestand, hatte mehrere historische Ursachen und auch konfessionelle Gründe: Die zaiditischen Regionen erkannten die religiöse Legitimität der Herrschaft des Imams an und standen ihm daher loyal gegenüber. Erst in den 60er Jahren, den ersten Jahren der JAR, nahm die Armee einen jemenitisch-nationalen Charakter an, als sich Zehntausende junger Männer aus dem unteren Jemen, aus der Tihama, aus al-Baida und aus Ma'rib sowie aus Stämmen und Gebieten im Süden, vor allem aus Radfan, Dali' und Abyan, den Truppen der Nationalgarde anschlossen, die das neue Regime gegen die Streitkräfte des letzten Imams, al-Badr Bin Ahmad Bin Hamid al-Din (17.-26. September 1962) verteidigten. Doch die neuen Kräfte im Militär- und Sicherheitsapparat des republikanischen Regimes wurden weitgehend neutralisiert, nachdem die ägyptischen Truppen, welche die Republikaner unterstützt hatten, infolge der ägyptischen Niederlage im Sechstagekrieg von 1967 abzogen. Etwas später, im August 1968, nach den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen radikalen und moderaten Republikanern - in mancher Hinsicht auch ein Krieg zwischen Schafiiten und Zaiditen - wurden sie vollends verdrängt.


Nord- und Südjemen

Als der spätere und um Modernisierung bemühte Präsident Ibrahim al-Hamdi (13. Juni 1974 - 11. Oktober 1977) durch einige Reformen versuchte, die Risse in der nationalen Einheit der Nordjemeniten zu kitten, verbündeten sich die wichtigsten Sheikhs des Norden mit dem saudischen Königsreich gegen ihn. Während eines blutigen Putsches wurde er ermordet; seine wichtigsten Anhänger wurden eliminiert. Al-Hamdi hatte die Anführer der Hashid und Bakil nicht nur mit seinen Reformen gegen sich aufgebracht, sondern auch mit der Einstellung von staatlichen Zuwendungen an die Sheikhs. Den Memoiren von Sheikh Sinan Abu Lahum zufolge floss etwa ein Drittel des Staatbudgets in die Taschen der großen Sheikhs.

Angesichts ihrer Marginalisierung und ihres Ausschlusses von der Macht in der JAR suchte die Bevölkerung des unteren Jemen eine Alternative in der Volksdemokratischen Republik Jemen (VDRJ, 30. November 1967 - 22. Mai 1990), wo ein progressives, sozialistisches Regime die Einheit mit dem Norden auf fortschrittlichen Grundlagen anstrebte. Aus der Ferne erschien es als Regime mit nationaler Struktur und nationalen Inhalten. Zudem stammten zahlreiche seiner Führungsfiguren aus dem Norden. Während der Staat im Nordjemen aus einem religiös-zaiditischen Kern entstanden war und einen tribal-regionalen Charakter angenommen hatte, basierte der Staat im Südjemen auf progressiven Grundlagen mit modernen Elementen, die die britische Besatzung vor allem in der Stadt Aden hinterlassen hatte. Allerdings griff die National Liberation Front (NLF) unter der Führung von Qahtan ash-Sha'bi - der Ende 1967 erster südjemenitischer Präsident wurde -, in der ideologischen und politischen Auseinandersetzung auf rigorose Methoden der Repression zurück, um ihre Macht zu etablieren und ein zentralistisches System durchzusetzen, das die Grundlagen der von den Briten im Süden gebildeten Föderation von Emiraten zerstörte.

Infolge dieser Politik wanderten zahlreiche lokale Emire und Sultane in den Nordjemen, nach Saudi-Arabien und in den Golf aus. Zugleich flohen Tausende von Kämpfern und Anhängern jenes Flügels der antikolonialen Bewegung im Süden, der in den Auseinandersetzungen mit der NLF kurz vor der Unabhängigkeit unterlag, in den Norden. Und auch viele Kader der ehemaligen Liga der Söhne Südarabiens - ein reformistischer Block, der die intellektuelle Elite der südlichen Stämme vereinte und großen Einfluss im Hadramaut, in Lahij und in Shabwa ausübte - sahen sich zur Auswanderung gezwungen.

Die Führung der NLF wurde zu jener Zeit von ruralen Akteuren beherrscht, die zum Teil eine feindselige Haltung gegenüber den urbanen Eliten hegten, da diese jahrzehntelang mit den Briten zusammengearbeitet hatten. Aden, damals die modernste und vielfältigste Stadt auf der Arabischen Halbinsel, erschien den vom Lande kommenden Kämpfern der NLF als Verkörperung dessen, was sie als die kolonialistischen Pläne der Engländer zur Zerstörung der arabischen Identität der Stadt bezeichneten. Dieses von einer rural-revolutionären Romantik inspirierte Cliché zog unweigerlich direkte und indirekte Formen der Exklusion gegenüber den Bewohnern der Stadt nach sich. Daher kann man die Eliten in Aden als die ersten Opfer der Revolution betrachten.


Überlagerung von Ideologie und Regionalismus

Darüber hinaus führte das neue Regime eine umfangreiche Säuberungsaktion innerhalb der Armee durch, die die Briten aus Angehörigen verschiedener Stämmen und Gebiete im "arabischen Süden" aufgebaut hatten. Opfer dieser Säuberung wurden die Awaliq-Stämme (aus Shabwa und Abyan), die großen Einfluss in der Armee hatten, sowie einige militärische Führungskräfte aus Mudiya (Abyan). Diese Entwicklungen stärkten im Militär und im Sicherheitsapparat des neuen Staates den Einfluss einiger der NLF besonders nahe stehender Regionen wie Dali', Radfan und Dathina.

Der ideologische und totalitäre Charakter des im Süden herrschenden Regimes und die Orientierung seiner neuen Elite auf eine Vereinigung mit dem Norden trugen in den ersten zwei Jahrzehnten der südlichen Republik dazu bei, die regionalistischen Tendenzen einzudämmen. Zuweilen wurden regionale und tribale Kalküle durch die Decke der Ideologie verhüllt, wie auch die regionalistischen Divergenzen zwischen den Führern des Südens von ihren Einheitsbestrebungen überdeckt wurden. Doch die ideologische Hülle zerriss am 13. Januar 1986, als der Konflikt zwischen Präsident Ali Nasser Muhammad und seinen Gegnern innerhalb der Jemenitischen Sozialistischen Partei (JSP) einen offen regionalistischen Charakter annahm - zwischen Abyan und Shabwa auf der einen Seite und Lahij auf der anderen Seite. Mit anderen Worten: Der ideologische Konflikt im Zentralkomitee der JSP zwischen dem moderaten linken Flügel, vertreten durch Ali Nasser Muhammad und die mit ihm verbündeten marxistischen Linken und progressiven Baathisten, und dem linksradikalen Flügel, vertreten durch Abd al-Fattah Ismail (aus Ta'izz), Ali Antar, Salih Muslih Qasim, Ali Sha'i' Hadi (aus Dali' und Lahij) und Ali Salim al-Bidh (Hadramaut), wurde als regionalistischer Konflikt ausgetragen zwischen Abyan und Shabwa, die Präsident Ali Nasser zur Seite standen, und Lahij und den Nordjemeniten, die Abd al-Fattah Ismail und Ali Antar unterstützten. Der Konflikt wurde zehn Tage nach seinem Ausbruch mit dem Sieg des radikalen Flügels (bzw. den Kämpfern aus Lahij, vor allem aus Dali' und Radfan) besiegelt. Präsident Ali Nasser und etwa 30.000 seiner Kämpfer zogen sich in den Nordjemen zurück. Den politischen Organen der Staatsmacht, deren Zusammensetzung weitgehend der tribalen und regionalen Fragmentierung der Bevölkerung entsprach, war es nicht gelungen, die von Akteuren aus Dali, Radfan, Abyan und Shabwa dominierte Armee daran zu hindem, die politische Auseinandersetzung auf dem Schlachtfeld zu entscheiden.


Alte Konfliktmuster nach der Vereinigung

Zweifellos stärkte der Machtkampf im Südjemen die Position des Nordjemens, und mit der Forderung nach einer Vereinigung des Jemens übte der nordjemenitische Präsident Ali Abdallah Salih, der sich der Unterstützung des regionalen und arabischen Umfelds (und insbesondere des nach einer arabischen Führungsrolle trachtenden Saddam Hussein) erfreute, Druck gegenüber der politischen Führung des Südens aus.

Am 22. Mai 1990 wurde die jemenitische Einheit unter Zustimmung des regionalen und arabischen Umfeldes sowie des Westens hergestellt. Ali Abdallah Salih wurde damit zum ersten Herrscher der Neuzeit, dessen Macht sich über den historischen Jemen, d.h. Nord- und Südjemen, erstreckte. Gleichwohl erwies sich auch das romantisch-sentimentale Bild am 22. Mai lediglich als nationaler Deckmantel für eine neue Runde im regionalistischen und tribalistischen Konflikt. In den folgenden drei Jahren stärkte Präsident Salih die Präsenz der Stämme im Süden und unterstützte und finanzierte die Gegner des sozialistischen Regimes. Im Gegenzug versuchte die JSP einige in Opposition zu Salih stehende Stämme im Norden zu stärken, und in den Jahren 1993 und 1994 trug der Vizepräsident des Einheitsstaats Ali Salim al-Bidh zur Finanzierung von Stammeskonferenzen der Bakil bei. Als sich schließlich der Konflikt zwischen Salih und seinem sozialistischen Stellvertreter al-Bidh zuspitzte, griffen beide Seiten auf die altbewährten Mittel zurück, darunter die tribale und regionale Mobilisierung. So führte Salih den 1994 ausbrechenden Bürgerkrieg mit militärischen Einheiten aus dem Norden, die zudem von den 1986 in den Norden geflüchteten Truppen des ehemaligen südjemenitischen Präsidenten Ali Nasir Muhammad und von Stammesmilizen unterstützt wurden. In einer seiner wesentlichen Dimensionen war dieser im Namen der Einheit geführte Krieg also ein reiner Stammeskrieg oder auch ein Krieg des zaiditischen Nordens gegen den schafiitischen Süden.

In den Augen der Südjemeniten war das Zentrum der Macht in Nordjemen trotz der weitgehenden Veränderungen in Struktur und Wertorientierung zaiditisch geblieben. Das Zaiditische hat hier allerdings eher einen geographischen als einen konfessionellen oder auf die religiöse Herrschaftslegitimierung abhebenden Bezug, wie es in den letzten fünf Jahrhunderten der Fall war. Dieser Umstand sorgte sowohl unter arabischen wie auch unter westlichen Forschern für Verwirrung. Sie wurde noch größer, als im Norden der Krieg zwischen Präsident Salih und den in Sa'dah, der geographischen Hochburg der zaiditischen Imame und ihrer religiösen Gelehrten, verschanzten Huthis ausbrach. Ohne die Konflikte im Nord- und Südjemen übermäßig zu verallgemeinern oder zu vereinfachen, kann man sagen, dass sich im Konflikt von Sa'dah die Legitimitätskrise des auf den Trümmern der Herrschaft der Imame aufgebauten Regimes im Nordjemen zeigt. Die am 26. September 1962 proklamierte Republik hat innerhalb von vier Jahrzehnten ihre revolutionäre Legitimität verbraucht, ohne eine alternative Legitimität zu entwickeln. Die Machtbefugnisse, über die schließlich Präsident Salih verfügte, ähneln oder übersteigen sogar die Machtbefugnisse der zaiditischen Imame. Allerdings ist der Präsident der Republik kein Hashemit (also von der Familie des Propheten Muhammad abstammend), sondern nur ein Angehöriger des Stammes der Hashid, der über die Armee an die Macht kam.

Sowohl in der JAR als auch später im jemenitischen Einheitsstaat konzentrierte sich die Macht zunehmend in den Händen von Präsident Salih sowie seiner Söhne und Verwandten. Damit vermochte es die Staatsmacht aber nicht, eine nationale Integration zu verwirklichen. Im Süden kamen vielmehr wieder separatistische Bestrebungen an die Oberfläche, im Norden manifestierten sich konfessionelle Tendenzen, und in der Landesmitte traten regionalistische Strömungen auf. Der Krieg in Sa'dah nahm schließlich deshalb einen konfessionellen und ethnischen Charakter an, weil der "zaiditische Präsident" sich aus rein politischen Gründen mit den Salafisten im Norden verbündet hatte, um der Welle der zaiditischen Wiederbelebung zu begegnen, die sich in Gestalt der Huthi-Bewegung und anderen zaiditischen Gruppierungen in Sa'dah, Sanaa, Amran und Dhamar zeigte.

In den Gebieten des unteren Jemens und des Südjemens erscheint der Konflikt im zaiditischen Norden gleichwohl lediglich als innere Auseinandersetzung zwischen divergierenden Parteien der herrschenden zaiditischen Institution, als innerzaiditischer Konflikt. Dies ist sicher eine verkürzte Sicht der Dinge, deren Ursachen hier nicht analysiert werden können, doch sie hat deutliche Auswirkungen. So gab es bereits im Dezember 1992 nach einer Erhöhung der Preise für Grundnahrungsmittel heftige Massenproteste in fast allen Gebieten des Jemens, und dabei wurden in den Gouvernoraten Ta'izz und Ibb - in der Mitte des unteren Jemens gelegen - auch Stimmen laut, die das Ende der politischen Vorherrschaft der Zaiditen forderten. Und auch wenige Monate nachdem Mitte 2007 die friedlichen Proteste im Süden ausgebrochen waren, skandierten einige Demonstranten Losungen, die zur Verjagung der Zaiditen aus dem Süden aufriefen. Gerade die Internetseiten der Bewegung des Südens verdeutlichen, welch große Rolle die mündlich überlieferte Geschichte im politischen Bewusstsein der Südaktivisten spielt: Der gegenwärtige Konflikt erscheint dort als eine neue Runde in der Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern der Unabhängigkeit des Südens und den zaiditischen Eroberern aus dem Norden.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum das Regime von Präsident Salih die Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der jemenitischen Einheit in die schafiitischen Hochburgen Ta'izz und Ibb verlegte: Die Südaktivisten sollten der konfessionellen und regionalistischen Karte beraubt werden, und den schafiitischen Bewohnern der beiden Gouvernorate Ta'izz und Ibb wollte man sagen, dass es sich um einen Nord-Süd-Konflikt und nicht um einen zaiditisch-schafiitischen Konflikt handele.


Die Stämme im Süden

Einer heute weit verbreiteten Auffassung zufolge ist die tribale Struktur im Nordjemen nach wie vor intakt, während sie infolge der sozialistischen Umgestaltungen im Südjemen ausgelöscht worden sei. Die jüngsten Entwicklungen im Südjemen widerlegen jedoch diese Verallgemeinerung. In Wirklichkeit ist der Tribalismus im Süden sehr präsent, auch wenn dies unter der Rhetorik der vorgebrachten Forderungen verborgen bleibt. Der Konflikt zwischen dem Regime Salihs und den Gruppierungen der Bewegung des Südens nimmt in mehreren Regionen deutlich tribale Züge an. So sind jene Regionen, die von den Folgen des Bürgerkrieges 1994 besonders stark betroffen sind, am stärksten an der Protestbewegung beteiligt. In Dali' zum Beispiel, wo Tausende Männer, vor allem aus dem Stammesgebiet der Sha'iri, unmittelbar nach Ende des Krieges 1994 aus der Armee und dem Sicherheitsapparat entlassen worden waren, erhielt die Bewegung des Südens von Anfang an großen Zuspruch. Bereits vor und nach der Unabhängigkeit des Südjemens hatten Angehörige des Sha'iri-Stammes ein großes öffentliches Gewicht; sie gehörten zu den Kämpfern der NLF und besetzten später hohe Posten in der Armee des neuen Staates.

Im Gegensatz zu Dali' erscheint das Gebiet der Awaliq relativ ruhig. Während der Stamm in der sozialistischen Ära von der Macht ausgeschlossen blieb, wurde er in das gegenwärtige System einbezogen, indem mehrere seiner Angehörigen wichtige Posten in den militärischen und zivilen Institutionen bekamen. Zu ihnen gehört auch Ali Mujawar, der derzeitige Ministerpräsident. Die Söhne wichtiger Sheikhs des Stammes erhielten diverse Privilegien wie finanzielle Zuwendungen oder hohe Verwaltungsposten, ohne für diese die notwendigen Kompetenzen zu besitzen. Da der Stamm der Awaliq von seiner geographischen Ausdehnung und der Zahl seiner Angehörigen her zu den wichtigsten tribalen Kräften im Süden gehört, wurde er von den Machtinhabern in Sanaa gezielt in das Regime kooptiert, und so verwundert es nicht, dass sich der Stamm der Bewegung des Südens nicht angeschlossen hat.

Ähnlich schwach blieb die Bewegung des Südens in den meisten Kreisen der sich von Lahij bis Abyan erstreckenden Region Yafi', wo sich die Sheikhs bis auf wenige Ausnahmen neutral gegenüber den jüngsten Entwicklungen verhielten. Die Unterschiedlichkeit der Lage in den Stammesgebieten von Awaliq und Yafi' auf der einen Seite und von Dali, Radfan und in den meisten Kreisen von Lahij und Abyan auf der anderen Seite lässt den Schluss zu, dass die Stämme im Süden nach wie vor über einen starken Zusammenhalt verfügen. Ihre wichtigsten Sheikhs übernehmen zum Teil genau dieselbe Rolle von lokalen Vertretern der Zentralgewalt wie die Stammesführer im Nordjemen.


Drei Modi im Verhältnis von Stamm und Staat

In den letzten drei Jahrhunderten nahm das Verhältnis von Stamm und Staat drei Modi an:

1. Ein Staat neben dem Staat. Bereits im 18. Jahrhundert führte die tribale Revolte gegen die Macht der zaiditischen Imame zur Gründung eines unabhängigen Emirats in Lahij und Yafi'. Nachdem die Engländer Aden besetzt hatten, schlossen sie Protektoratsabkommen mit den Emiraten und Sultanaten in Lahej, Abyan, Shabwa und Hadramaut. Die Sheikhs und Sultane des Südens zogen also das Bündnis mit den Engländern einem Beitritt zum Staat von Imam Yahya vor.

2. In den 60er und 70er Jahren dominierte im Nordjemen der Modus des Staates im Staat. Infolge des Bürgerkriegs in den 60er Jahren verfügten die Stammesführer über einen großen Einfluss im nordjemenitischen Staat. Sie hatten während des Krieges Ägypten wie Saudi-Arabien, die ihren Konflikt auch auf jemenitischem Territorium austrugen, gezwungen, sie für ihre jeweilige Loyalität mit Geld und Waffen auszustatten. Mitte der Siebziger scheiterte Präsident al-Hamdi dann, der Existenz tribaler Kleinstaaten innerhalb des Staates ein Ende zu setzen, weil sich Saudi-Arabien gegen sein Projekt stellte, einen Bürgerstaat anstelle des Privilegienstaates aufzubauen.

3. In den 80er und 90er Jahren wurde die Lage noch gravierender, als das Verhältnis von Staat und Stamm eine in der modernen Geschichte völlig neue Form annahm: Aus der Sicht der meisten Jemeniten bestand der Staat schließlich nur noch aus dem Stamm des Präsidenten. Darauf sind die meisten Stammesrevolten im Osten, Süden und Norden zurückzuführen. Das feindselige Verhalten dieser Stämme gegenüber den Erscheinungsformen des modernen Staates entspringt ihrer Überzeugung, dass der jemenitische Staat lediglich eine Fassade für die vom Präsidenten und seinem Clan monopolisierte Macht ist. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends haben sich viele Werte und Bräuche der jemenitischen Stämme geändert. Alte Tabus wurden gebrochen, und Hunderte von ausländischen Touristen wurden von Stammeskriegern entführt, die auf diese gewaltsame Weise ihren Anteil an den vom Stamm des Präsidenten usurpierten Staatsressourcen einforderten.

Im Süden vermischen sich tribale mit politischen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren. Der Stamm-als-Staat erscheint nunmehr als der beste Weg für jene, die ihren Anteil an den Ressourcen zu erhöhen trachten. Der jemenitische Präsident Ali Abdallah Salih brachte dies in seiner spontanen Art ebenfalls zum Ausdruck, als er auf einer Versammlung in Hadramaut erklärte, es seien jene, die ihre Privilegien oder Posten verloren hätten, die sich nun zu politischen Aktivisten und Anhängern der Bewegung des Südens gewandelt hätten. Salih spielte damit auf eine bemerkenswerte Entwicklung an, die sich in der zweiten Hälfte des Jahres 2009 innerhalb der Bewegung des Südens vollzogen hat, als sich ihr nämlich Dutzende seiner ehemaligen südlichen Verbündeten anschlossen, darunter Stammesführer und ehemalige Verantwortliche in Regierung und Armee.


Sami Ghalib, Journalist bei der jemenitischen Wochenzeitung an-Nida'. Aus dem Arabischen von Magda Barakat. Redaktionelle Bearbeitung von Lutz Rogler.


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Inhaltsverzeichnis - inamo Nr. 62, Sommer 2010

Gastkommentar
- Ein halbgarer Konsens: Afghanistans Friedensjirga, von Thomas Ruttig

Jemen
Am Anfang war der Stamm, von Elham Manea
Wer ist wirklich Zaidit? Identifikation und Spaltung anhand der politischen und religiösen Geschichte, von Damaris Pottek
Auszug der Gläubigen - Der Huthi-Konflikt im Norden des Jemen, von Marieke Brandt
Stamm und Staat im Jemen: Rolle und Wandel, von Sami Ghalib
Der jemenitische Bürgerkrieg 1994, von Horst Kopp
Jemen versus Südarabien?
Zur Entwicklung der Bewegung des Südens, von Lutz Rogler
Geschlechter und Generationen - eine Debatte, von Elham Manea/Anna Würth
Wasser im Jemen: Konflikte und Kooperationen, von Gerhard Lichtenthaeler
Al-Qaida, Sezessionsbewegung, Huthis: eine "Achse des Bösen"?, von Mareike Transfeld
Spezialeinsätze im Jemen, von Sheila Carapico

Palästina/Israel
Die Preisgabe palästinensischer Rechte als Sprache des "Friedens", von Joseph Massad
Sand im Getriebe des jüdischen "Volkes",
Einige politische Überlegungen zur Sand-Debatte, von Shraga Elam
Israels Alternative zur Zwei-Staaten-Lösung, von Alexander Rüsche

Antisemitismus-Debatte
- War das die Debatte zur "Holocaust-Religion"?, von Shraga Elam

Libanon
- Hizbullah-Israel: Gleichgewicht des Schreckens?, von Manuel Samir Sakmani

Sudan
- Der Sudan nach den Wahlen, von Roman Deckert

Philosophie
- Zum Tod von Muhammad Abid al-Jabiri, von Lutz Rogler

Wirtschaftskommentar
- Desertec - Strom aus der Wüste, von Edgar Göll

Zeitensprung
- 24. April 1915 Deportation der armenischen Intellektuellen aus Istanbul, von Corry Guttstadt

Jemen Literatur
- Wajdi al-Ahdal: Schriftsteller im Fadenkreuz der Justiz
- Auszüge aus: Die Menschwerdung der Würmer, von Wajdi al-Ahdal

Ex mediis

//Ticker//


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Quelle:
INAMO Nr. 62, Jahrgang 16, Sommer 2010, Seite 18 - 21
Berichte & Analysen zu Politik und Gesellschaft des Nahen und
Mittleren Ostens
Herausgeber: Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. August 2010