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NAHOST/877: Libyen - Kontroverse über Einführung und Ausrichtung der Scharia in Post-Gaddafi-Zeit (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. November 2011

Libyen: Kontroverse über Einführung und Ausrichtung der Scharia in Post-Gaddafi-Zeit

von Karlos Zurutuza

Muslime beten auf dem Märtyrer-Platz in Tripolis - Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Muslime beten auf dem Märtyrer-Platz in Tripolis
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Tripolis, 17. November (IPS) - In Libyen haben die Pläne der Übergangsregierung, die islamische Rechtsprechung (Scharia) einzuführen, eine landesweite Kontroverse ausgelöst. Während Frauen, Nichtgläubige und ethnische Amasigh gegen das Vorhaben sind, diskutieren die Befürworter über die künftige Ausrichtung der Scharia in der Post-Gaddafi-Zeit.

"Die Scharia bedeutet, in vollständiger Harmonie mit Gott zu leben. Und das ist für einen Moslem die natürlichste Sache der Welt", meint Ibrahim Maschdub, der Imam der Al-Garamaldi-Moschee in der Altstadt von Tripolis. Doch tut er sich schwer mit Antworten auf konkrete Fragen, etwa ob Frauen nach einer Einführung der islamischen Rechtsprechung ihr Haar bedecken müssen, Auto fahren dürfen oder Dieben die Hand abgehackt werden soll.

"Das ist das eigentliche Problem bei der Auseinandersetzung für oder gegen die Einführung der Scharia", meint der 23-jährige Wail Mohammed in einem nahe gelegenen Kaffee-Shop. "Jeder hat eine Meinung, doch keiner weiß, worüber er eigentlich redet. Um welche Art Scharia geht es hier eigentlich? Um die, die in Pakistan oder um die, die in Indonesien oder im Iran praktiziert wird?"


Breiter Rückhalt für liberale Form des Islam

Politische Führungspersönlichkeiten wie Scheich Omar Muchtar, die militärische Autorität in der ehemaligen Gaddafi-Hochbug Bani Walid, haben ihre Wahl bereits getroffen. "Alle Libyer wollen eine Scharia, wie sie in Katar oder den Vereinten Arabischen Emiraten (VAE) anzutreffen ist. Sie gibt uns den Zusammenhalt, den das Land nach dem Krieg so sehr braucht", meint Muchtar im Gespräch mit IPS.

Sicherlich genießt die in Katar praktizierte Form der Scharia in Libyen den breitesten Rückhalt. In beiden Golfstaaten dürfen Frauen Auto fahren, und der Genuss von Alkohol wird bis zu einem gewissen Grad toleriert. Dennoch gibt es viele Libyer, die eine aus dem Koran hergeleitete Verfassung generell ablehnen.

"Die NTC kriminalisiert diejenigen unter uns, die nicht religiös sind", meint Abdullah Slitani, ein prominenter Anwalt, der in Gargaresch südwestlich der libyschen Hauptstadt eine Kanzlei betreibt. "Ihre Mitglieder machen den Menschen weis, dass eine nicht-islamische Verfassung die Ausübung des islamischen Glaubens verbietet und Prostitution fördert. Das ist nun wirklich hanebüchen."

Es sind aber nicht nur Atheisten oder Agnostiker wie Slitani, die sich eine Trennung zwischen Kirche und Staat wünschen. Der Moslem Fathi Busachar leitet den Libyschen Amasigh-Kongress, der die Interessen der größten libyschen Minderheit vertritt. Die Amasigh-Volksgruppe stellt zehn Prozent der sechs Millionen Libyer.

"Die Trennung zwischen Politik und Religion ist entscheidend, um einen demokratischen Staat aufzubauen. Doch davon scheint die neue libysche Interimsregierung nichts wissen zu wollen", kritisiert Busachar in Tripolis. Es sei leider versäumt worden, die Anerkennung der ethnischen Gemeinschaft und ihrer Sprache in den im August vorgelegten Verfassungsentwurf zu integrieren. Die Amasigh waren unter dem ehemaligen libyschen Revolutionsführer Muammar Al-Gaddafi einer brutalen Assimilationspolitik unterworfen.

"Nicht nur, dass wir keine Araber sind, wir praktizieren zudem einen moderaten Zweig des Islam, den Ibadismus. Fast alle unsere Priester waren unter Gaddafi hingerichtet worden", so Busachar.

Libyens Frauen scheinen die größte Angst vor der Einführung einer undefinierten, dennoch unvermeidlich erscheinenden Scharia zu haben. Viele fragen sich nach den umstrittenen Äußerungen des NTC-Präsidenten Mustafa Abduldschalil über die künftigen Gesetze zur Polygamie, ob sie sich ihre Männer künftig mit anderen Frauen 'teilen' müssen.

"Abduldschalil wiederholt unablässig, dass Libyen die Scharia einführen wird - zuletzt am 12. November gegenüber der hohen Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik der EU, Catherine Ashton. Doch eine solche Entscheidung sollte vom libyschen Volk in demokratischer Weise getroffen werden", meint Asma Hassan, eine Bürgerrechtsaktivistin aus Tripolis.


Eine Frage der religiösen Auslegung

Es gebe ebenso viele Versionen der Scharia wie einseitig verfälschte Interpretationen des Korans, betont sie. "Die heilige Schrift buchstäblich zu befolgen, hieße für Männer, dass sie sich zwei, drei oder vier Frauen zulegen könnten. Gleichzeitig jedoch heißt es im Koran, dass dies nicht gerecht sei. Die meisten scheinen beschlossen zu haben, diesen Satz zu ignorieren."

'Gott, Muammar und Libyen' war ein beliebter offizieller Slogan in den 40 Jahren Gaddafi-Herrschaft. Libyen war traditionell ein konservativer islamischer Staat. Unter Gaddafi wurde der Islam jedoch noch rigoroser praktiziert.

Die Wahlen im benachbarten Tunesien vom 23. Oktober könnten als Barometer für den Ausgang der libyschen Wahlen im Juni 2012 betrachtet werden. Dort siegte die moderate Islamistenpartei 'Ennahda' bei den ersten Wahlen nach dem 'Arabischen Frühling' mit einem Stimmenanteil von 40 Prozent.

"Für eine gewisse Zeit könnte der moderate Islam eine Chance sein, das zunehmende Chaos im Land in den Griff zu bekommen", meint Santiago Alba Rico, ein in Tunesien lebender Schriftsteller und Politikanalyst. "Trotz aller Fehler wäre eine islamische Demokratie in Libyen im Vergleich mit der Gaddafi-Diktatur ein Fortschritt und ein realitätsnaher Ansatz, um die konstanten Zusammenstöße zwischen den Milizen zu beenden." (Ende/IPS/kb/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2011