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NAHOST/882: Libyen - Alte Politik in neuem Gewand - Gaddafi-Nostalgie in Tripolis (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 14. Dezember 2011

Libyen:
Alte Politik in neuem Gewand - Gaddafi-Nostalgie in Tripolis

von Karlos Zurutuza


Tripolis, 14. Dezember (IPS) - "Wer hier früher ein Auto mit Allradantrieb fuhr, galt gleich als Gaddafi-Anhänger. Heute hat fast jeder Rebellenkommandeur ein solches Fahrzeug", sagt Bashar, der sich seinen Weg durch den täglichen Verkehrsstau in Tripolis bahnt.

Seit die libysche Hauptstadt im August in die Hände der Aufständischen fiel, beobachtet der 30-jährige Taxifahrer, wie rasch sich der Alltag verändert. Wie die meisten seiner Landsleute kannte Bashar bis zu dem Umsturz keinen anderen Staatschef als Gaddafi. Mit der neuen Regierung ist er jedoch nicht sonderlich glücklich.

"Sind das die Freiheit und der Frieden, den uns die Rebellen bringen sollten?" fragt er sich, als er einen weiteren militärischen Kontrollpunkt passiert. "Und sind das die neuen Führer Libyens? Die dreifarbige Flagge, die am Heckfenster hängt, ist der politische Preis, den er als Taxifahrer zahlen muss.

Bashar denkt wehmütig an den Diktator zurück, als er an dessen zerstörtem Wohnbunker in Bab al-Aziziya vorbeifährt. Die tiefen Narben, die der Krieg geschlagen hat, sind in dem Viertel Abu Salim wenige Kilometer südlich des zentral gelegenen Platzes der Märtyrer deutlich sichtbar.

Kriegsspuren in Tripolis - Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Kriegsspuren in Tripolis
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Normalität kehrt in Tripolis nur zögernd ein

Der Stadtteil, in dem sich früher Basare befanden, kehrt äußerst langsam zur Normalität zurück. Nur wenige Händler haben ihre Stände in dem riesigen Marktkomplex wiedereröffnet, der durch NATO-Bomben in Schutt und Asche gelegt wurde.

"Die Leute gehen von hier weg", sagt Abdul Rahman, der Kücheneinrichtungen und seit kurzem auch gebrauchte Wasserhähne verkauft. "Alle haben Angst vor den Patrouillen der Milizen. Unter dem Vorwand, Gaddafi-Getreue zu suchen, stürmen sie Häuser und verschleppen junge Menschen an unbekannte Orte."

Offiziell wurde der Krieg am 24. Oktober - drei Tage nach Gaddafis Tod - für beendet erklärt. In Abu Salim kam es aber auch im November noch zu Zusammenstößen zwischen Milizionären und angeblichen Gaddafi-Anhängern. Bei ähnlichen Gewaltausbrüchen in Bani Walid, der letzten Hochburg des ehemaligen Diktators, gab es mehrere Tote. Ob tatsächlich Kämpfer aus dem Gaddafi-Lager beteiligt oder Einwohner der Stadt ihrer Wut über Razzien und willkürliche Festnahmen freien Lauf ließen, ist unklar.


Angebliche Gaddafi-Anhänger von Rebellen gefoltert

Aus einem im vergangenen Monat veröffentlichten Bericht der Vereinten Nationen geht hervor, dass etwa 7.000 Menschen in libyschen Gefängnissen festgehalten werden, die von Milizen der 'Revolutionären Brigaden' überwacht werden. Vor einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats zum Wiederaufbau des Landes nach Gaddafis Tod erklärte Generalsekretär Ban Ki-moon, dass unter den Häftlingen auch Ausländer sowie zahlreiche Frauen und Kinder seien. Dem Report zufolge kam es auch zu Folterungen.

Unter den Häftlingen in Jdeida, dem größten Gefängnis von Tripolis, war auch der frühere Elektrohändler Bilal, der seinen vollen Namen nicht nennen will. Er brachte dort eine Woche zu, bevor er ohne Erklärungen freigelassen wurde. Nach seinen Schilderungen ging er in der Zeit durch die Hölle.

"Sie beschuldigten mich, zu den Milizen Gaddafis zu gehören und eine Frau mit ihren zwei Kindern in Souk al Juma östlich von Tripolis getötet zu haben", erinnert er sich. "Ich wurde täglich mit Elektroschocks und Zigarettenanzündern gefoltert. Sie sagten mir, dass es einen Zeugen gebe, der ihren Verdacht bestätigen könne. Je früher ich gestehen würde, desto besser." Eines Tages bemerkte er, wie ihn jemand durch das Guckloch in der Zellentür musterte. Wenige Stunden später durfte er seine Sachen packen und gehen.

Auch außerhalb von Tripolis haben Libyer ähnliche Erfahrungen gemacht. In Majer, 150 Kilometer östlich der Hauptstadt, waren bei einem NATO-Bombardement am 8. August nach Angaben eines Gaddafi-Sprechers mehr als 80 Zivilisten getötet worden. Die NATO sprach wiederum von Opfern auf Seiten des Militärs und der Milizen. Verwandte der Toten berichteten, dass sie 35 Leichen bestattet hätten. Die Familien beunruhigt, dass Milizen in der früheren Gaddafi-Hochburg nach wie vor präsent sind.


"Wir sind die Sündenböcke des neuen Regimes"

Der Tod ihrer Angehörigen sei nicht offiziell anerkannt worden und man habe keinerlei finanzielle Entschädigung erhalten, klagen die Hinterbliebenen. "Wir sind die Sündenböcke des neuen Regimes. Man plündert unseren Besitz, stiehlt unsere Autos und beschuldigt uns dann, diese Verbrechen selbst begangen zu haben."

In Tripolis fährt Suleyman, der unter der Gaddafi-Herrschaft im Baugewerbe und Import-Export-Geschäft zu Wohlstand gekommen war, nach wie vor seinen luxuriösen Allrad-Wagen, den er vor drei Jahren gekauft hat. "Natürlich gab es in der Gaddafi-Zeit Korruption", erklärt er. "Ich bezweifle aber, dass es mehr war als in anderen Ländern des Nahen Ostens oder in Südeuropa."

Der 40-Jährige kann es sich leisten, einen der schicken neuen Coffee-Shops in einem exklusiven Viertel der Hauptstadt zu besuchen. Im Umkreis befinden sich teure Geschäfte. Autos mit Symbolen der Rebellen sieht man hier kaum. Suleyman räumt ein, dem gestürzten Herrscher bis zu dessen Tod treu geblieben zu sein.

Der Geschäftsmann besitzt mehrere Immobilien in dem Stadtteil und hat damit in den unsicheren Zeiten nach Kriegsende ein bequemes Polster. Trotz der unklaren Zukunft bereitet ihm die Gewalt im Land kaum schlaflose Nächte. "Wir Unternehmer finden immer unseren Weg durch den Dschungel", sagt er. "Und meine Kontaktpersonen in der neuen Regierung sind im Prinzip dieselben wie früher." (Ende/IPS/ck/2011)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Dezember 2011