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NAHOST/996: Lost in Transition - Die Palästinenser zwischen Versöhnung und Kerry-Initiative (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Lost in Transition
Die Palästinenser zwischen Versöhnung und Kerry-Initiative

von Ingrid Ross
Juli 2013



• Nach dem Rücktritt von Premierminister Salam Fayyad hat Palästinenserpräsident Mahmud Abbas die Bildung einer Übergangsregierung aus Fatah und Hamas abgelehnt und dadurch die Chance auf eine Versöhnung der beiden rivalisierenden Parteien verpasst. Stattdessen hat er Rami Hamdallah zum neuen Premierminister ernannt, dessen Handlungsmöglichkeiten jedoch stark eingeschränkt. Daraufhin trat Hamdallah nach nur zwei Wochen im Amt ebenfalls zurück.

• Die Initiative des US-Außenministers John Kerry, beide Konfliktparteien wieder an den Verhandlungstisch zurückzubringen, blieb bis dato erfolglos. Scheitert der Versuch, schwindet die Chance auf eine friedliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Während die Verhandlungen stillstehen, wird der israelische Siedlungsbau stetig vorangetrieben. Dies macht eine Zwei-Staaten-Lösung immer unwahrscheinlicher.

• Eine wichtige Voraussetzung für die friedliche Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts ist die Aussöhnung zwischen Fatah und Hamas. Diese kann nur erfolgen, wenn die internationale Gemeinschaft den Ausgang einer zukünftigen demokratischen Wahl auch für den Fall anerkennt, dass die Hamas erneut als stärkste Partei daraus hervorgeht. Die Wahlerfolge der islamistischen Parteien in Ägypten und Tunesien und deren internationale Anerkennung ließen diese Hoffnung aufkeimen, die bisher jedoch nicht erfüllt wurde.

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Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) befindet sich in einer Krise. Bereits zwei Wochen nach der Ernennung des neuen Premierministers Rami Hamdallah reichte dieser wiederum seinen Rücktritt ein. Er wird noch bis zum 11. August 2013 im Amt bleiben und die Regierungsgeschäfte weiterführen. Aus dem Premier für einen Übergang wurde innerhalb von kürzester Zeit ein weiterer Übergangspremier der Regierung im Westjordanland. Bereits die Ernennung Hamdallahs, Präsident der renommierten An-Najah-Universität in Nablus, war nur die Verlängerung einer Übergangslösung, der es an demokratischer Legitimität fehlt: Die Mandate des palästinensischen Legislativrats und des Präsidenten sind vor drei bzw. vier Jahren abgelaufen.

Seit der gewaltsamen Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen vor sieben Jahren wird das Westjordanland von der Fatah unter Präsident Mahmud Abbas regiert, während die Hamas im Gazastreifen unter Premierminister Ismael Haniyya herrscht. Nach dem Rücktritt von Premierminister Salam Fayyad im April 2013 hätte für Abbas eine Alternative darin bestanden, der Bildung einer von Hamas und Fatah getragenen Übergangsregierung bis zur Durchführung von Neuwahlen zuzustimmen. Auf diesen Weg zur Neulegitimierung der palästinensischen Regierung hatten die rivalisierenden Parteien sich in den bisherigen Versöhnungsverhandlungen in Doha und Kairo geeinigt. Beide Parteien haben damit ihr Einverständnis signalisiert, die Ergebnisse einer demokratischen Wahl anzuerkennen. Allerdings besitzt die Hamas im Westjordanland nur eingeschränkte Möglichkeiten, sich politisch zu betätigen - selbst wenn die Fatah ihr dies einräumt. Denn dazu ist auch die Duldung durch Israel notwendig, das in der Vergangenheit regelmäßig Hamas-Politiker und Regierungsmitglieder in Administrativhaft genommen hat. Auch ist fraglich, ob die internationale Gemeinschaft ihren Boykott der Hamas aufgeben und ihrer Beteiligung an der Regierung zustimmen würde. Nach der Bildung einer Regierung der Nationalen Einheit 2007 wurden Mechanismen der Zusammenarbeit konstruiert, die es ermöglichen sollten, internationale Hilfszahlungen an die Palästinensische Autonomiebehörde fortzusetzen, ohne die Hamas einzubeziehen.

Ein weiteres Hindernis für Neuwahlen besteht in der Durchführung von Wahlen im von Israel annektierten Ost-Jerusalem. Die dort lebenden Palästinenser werden ohne Zustimmung Israels weder ihr aktives noch ihr passives Wahlrecht ausüben können.

Auch wenn in den Versöhnungsgesprächen zwischen Hamas, Fatah und anderen palästinensischen Parteien für viele dieser Herausforderungen Lösungsvorschläge gemacht wurden, ist der Startschuss noch nicht gefallen. Solange nicht in Aussicht steht, dass eine Regierungsbeteiligung der Hamas international akzeptiert würde, bestehen wenige Anreize für eine Versöhnung. Dabei gab es seit dem »Arabischen Frühling« Präzedenzfälle in der Region, in denen der Westen eine demokratisch gewählte Partei der Muslimbrüderschaft als Partner anerkannte. Von der Hamas wurde dies als Doppelmoral wahrgenommen, die im Gegensatz zu den proklamierten demokratischen Prinzipien des Westens steht und deren Glaubwürdigkeit untergräbt.


Kaum neue Gesichter, viele alte Herausforderungen

Vor diesem Hintergrund räumte Abbas einer neuen möglichen Friedensinitiative von US-Außenminister Kerry höhere Priorität ein und entschied sich nach Fayyads Rücktritt für die Fortführung des Status Quo mit einer Fatah-Regierung der PA im Westjordanland. An den politischen Rahmenbedingungen und Handlungsspielräumen der Regierung in Ramallah hat sich indes wenig geändert.

Um die derzeitigen Herausforderungen der Regierung Hamdallahs zu skizzieren, lohnt ein Rückblick auf die Amtszeit von Premierminister Fayyad, der die Politik der PA in den letzten zehn Jahren maßgeblich gestaltet hat. Fayyad war unter dem damaligen Premierminister Abbas 2003 als Finanzminister mit der Aufgabe in das palästinensische Kabinett berufen worden, Korruption zu bekämpfen und Transparenz hinsichtlich des Haushalts der in hohem Maße von internationalen Geldern abhängigen Behörde zu schaffen. Nach der gewaltsamen Machtübernahme der Hamas und der politischen Spaltung war Fayyad 2007 von Abbas zum Premierminister ernannt worden. In dieser Rolle hat er ein politisches Programm entwickelt, das sich auf den Aufbau staatlicher Institutionen und wirtschaftlicher Unabhängigkeit Hand in Hand mit der Erlangung palästinensischer staatlicher Unabhängigkeit konzentrierte.

Die von ihm gesteckten Ziele hat Fayyad jedoch nicht erreichen können, auch wenn er während seiner Regierungszeit Erfolge beim Aufbau unabhängiger staatlicher Institutionen verzeichnen konnte. Die wirtschaftliche Eigenständigkeit Palästinas war - und bleibt - unter der Fortsetzung der israelischen Besatzung allerdings unerreichbar. Solange die C-Gebiete, die über 60 Prozent des Westjordanlands ausmachen, den Palästinensern für die Entwicklung von Infrastruktur, Landwirtschaft und Industrie vorenthalten werden und die Souveränität in Fragen des Außenhandels, des Zugangs zu natürlichen Ressourcen und der Reisefreiheit stark eingeschränkt ist, gibt es kein wirtschaftliches Entwicklungspotential. Zu diesem Ergebnis kam auch die internationale Gebergemeinschaft, die zweimal jährlich im Ad Hoc Liaison Committee zusammentrifft.

Zwar wurde das Ausbleiben von Erfolgen im Hinblick auf staatliche Unabhängigkeit nicht Fayyad angelastet. Doch da er die Abhängigkeit von internationalen Gebern nicht reduzieren konnte und zugleich Hilfszahlungen ausblieben, geriet die Regierung zunehmend in eine Finanzkrise und zwischen die Fronten verschiedener Interessengruppen. Der Regierung gelang es zu Beginn des Jahres nicht, einen Haushalt vorzulegen, der die Interessen des Privatsektors, der Angestellten im Öffentlichen Dienst, der Gewerkschaften und der Vertreter der Flüchtlingslager gleichermaßen berücksichtigt. Finanzminister Nabil Qassis erklärte daraufhin im März seinen Rücktritt. Über die Frage, ob es in den Kompetenzbereich des Premierministers fällt, das Rücktrittsgesuch eines Ministers anzunehmen, entbrannte Streit zwischen Abbas und Fayyad, der schließlich - sehr zum Bedauern der internationalen Gebergemeinschaft - zum Rücktritt Fayyads führte.

Der liberale Politikansatz Fayyads, der die Eindämmung des Haushaltsdefizits anstrebte, widersprach häufig der traditionellen Klientelpolitik der Fatah. Mit Plänen zu Steuererhöhungen bzw. der systematischen Steuererhebung, um die Einnahmenseite des Haushalts zu verbessern, brachte der Premier beispielsweise die Fatahdominierten Gewerkschaften im Westjordanland gegen sich auf. Öffentliche Proteste gegen steigende Lebenshaltungskosten und Streiks von Lehrern, Ärzten und Angestellten der PA aufgrund ausbleibender oder geringerer Gehaltsauszahlungen prägten den Alltag. Das neue Kabinett ist deutlich stärker von der Fatah besetzt. Andere politische Parteien sind in der Regierung nun nicht mehr vertreten. Die strukturellen Probleme der PA bleiben daher unabhängig von der Person des Premierministers bestehen.

Der Nachfolger Fayyads ist nun wie seine Vorgänger mit leeren Kassen konfrontiert. Allerdings besitzt Hamdallah kaum dieselben Handlungsspielräume wie Fayyad. Die Ernennung von zwei Vize-Premierministern, Dr.hammad Mustafa, bisher Vorsitzender des Palestine Investment Fund, und Ziad Abu Amr, Abgeordneter aus Gaza und ehemaliger Außenminister, durch den Präsidenten hat zu einer Einschränkung der Befugnisse des Premierministers geführt, die ihn zum Rücktritt veranlasste, kaum hatte er die Arbeit aufgenommen. Ob das jetzige Regierungsmodell, in dem der Präsident die Kompetenz des Premierministers einschränkt, nach dem endgültigen Ausscheiden Hamdallahs noch tragfähig sein wird, bleibt abzuwarten. Das Vorgehen Abbas', zwei Vize-Premierminister zu ernennen, verstößt jedenfalls gegen die Verfassung. Sie sieht vor, dass das Kabinett in seiner ersten Sitzung einen Vize-Premier wählt.


Perspektiven der Kerry-Initiative

Während Abbas sich mit dieser Regierung für die Verlängerung des Status Quo entschieden hat, scheint er auf die Wiederaufnahme von Verhandlungen mit Israel zu setzen. US-Außenminister John Kerry hatte nach dem Besuch von Präsident Obama im März 2013 intensive Gespräche mit der israelischen und palästinensischen Führung aufgenommen, um eine Formel zu finden, die die Konfliktparteien wieder an einen Tisch bringen könnte. Bislang hat sein beharrliches Engagement noch keine Erfolge gezeitigt, ist aber auch noch von keiner Seite für gescheitert erklärt worden. Dies ist wohl darin begründet, dass keine der beiden Seiten für das Scheitern verantwortlich gemacht werden möchte, zumal es keine tragfähigen Alternativen zur Zwei-Staaten-Lösung gibt.

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu bekräftigt öffentlich, dass er zu Gesprächen mit Abbas ohne Vorbedingungen bereit sei. Die palästinensische Seite vertrat bislang den Standpunkt, dass sie erst dann zur Aufnahme der direkten Gespräche bereit sei, wenn Israel seine Siedlungsaktivitäten einstellt, die Grenzen von 1967 als Grundlage für Verhandlungen akzeptiert und die vor Beginn des Oslo-Prozesses im Jahr 1993 inhaftierten Palästinenser, ca. 100 an der Zahl, freilässt. Ob die derzeitige Vermittlungstätigkeit Kerrys zu einer Aufweichung der palästinensischen Position führen wird, bleibt abzuwarten.

Für die israelische Regierung unter Premierminister Benjamin Netanjahu ist die Forderung des Siedlungsstopps kaum akzeptabel. Nach der letzten Wahl Anfang 2013 sind viele Schlüsselpositionen in der Regierung von Vertretern der Siedlerbewegung besetzt, unter denen eine Aufgabe des Westjordanlands im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung keine Unterstützung findet. Vielmehr wurde im ersten Quartal 2013 unter der neuen Regierung Netanjahus der Bau von ca. dreimal so vielen Wohneinheiten in Siedlungen aufgenommen wie im selben Zeitraum des Vorjahres. Dabei wachsen nicht nur solche Siedlungen in den großen Siedlungsblocks, die im Rahmen eines Gebietsaustauschs Israel zugeschlagen werden könnten, sondern auch solche, die im Herzen des Westjordanlands gelegen sind. Diese müssten in jedem Fall evakuiert werden, um einen lebensfähigen palästinensischen Staat entstehen zu lassen.

Aus palästinensischer Sicht würde der Verzicht auf einen Siedlungsstopp die Aufnahme von Gesprächen jedoch ad absurdum führen. Das Gebiet, auf dem der künftige palästinensische Staat der internationalen Beschlusslage nach entstehen soll, würde den Palästinensern während der Verhandlungen sprichwörtlich unter den Füßen weggezogen. Andererseits verlieren die Palästinenser auch während des Zustands, in dem keine Verhandlungen geführt werden, an Boden. Doch auf Verhandlungen ohne klare Parameter und zeitliche Zielmarken kann sich die palästinensische Führung unter Abbas nicht einlassen. Dieser graduelle Verhandlungsansatz hatte den Oslo-Prozess geprägt, der den Palästinensern als gescheitert gilt. Die Führung unter Abbas würde auch den letzten Rest Glaubwürdigkeit in der palästinensischen Öffentlichkeit einbüßen, über den sie noch verfügt. Bereits die derzeitige Haltung, für einen scheinbar aussichtslosen Verhandlungskurs darauf zu verzichten, die Mitgliedschaft in weiteren internationalen Gremien anzustreben, führt zu Unverständnis in der Bevölkerung. Nach der Anerkennung als Nicht-Mitgliedsstaat durch die Vereinten Nationen und der UNESCO-Mitgliedschaft Palästinas steht es der Führung offen, internationale Instrumente zu nutzen, um Druck auf Israel auszuüben. Auf Bitten von US-Außenminister Kerry hat Abbas bisher jedoch davon abgesehen, diesen Kurs weiterzuverfolgen, um den Vermittlungsbemühungen eine Chance zu geben. Die ursprünglich genannte Deadline für die Aufnahme von direkten Verhandlungen ist Anfang Juni ergebnislos verstrichen. Nun hat Kerry die nächste VN-Generalversammlung im September 2013 als nächste - und vielleicht letzte - Frist genannt.

Ein starkes Argument für die Wiederaufnahme der Gespräche hat die israelische Justizministerin Tzipi Livni Anfang Juli 2013 angeführt: Die Alternative zur ZweiStaaten-Lösung sei Apartheid. Wenn Israel seinen demokratischen und jüdischen Charakter behalten möchte, müsse es der Errichtung eines unabhängigen palästinensischen Staates im Rahmen der Zwei-Staaten-Lösung zustimmen. Auch der israelische Präsident Shimon Peres warnte davor, dass die Fortsetzung des Status quo die »Fortsetzung des Kampfes« bedeute. Allerdings sind die politischen Positionen von Livni und Peres in der jetzigen Regierung kaum mehrheitsfähig. Während in der israelischen Gesellschaft der Konflikt mit den Palästinensern kaum mehr eine Rolle spielt, wächst die Macht jener, die nicht dazu bereit sind, auf das von ihnen als Judäa und Samaria bezeichnete Gebiet des Westjordanlands zu verzichten. Der Vorstoß des Wirtschaftsministers und Vorsitzenden der Partei »Jüdisches Haus«, Naftali Bennett, die C-Gebiete zu annektieren und der dort lebenden palästinensischen Bevölkerung die israelische Staatsangehörigkeit zuzusprechen, würde die Aussichten auf eine Zwei-Staaten-Lösung vollends zunichtemachen. Unterdessen würde dieser unilaterale Schritt dem Streben nach palästinensischer Unabhängigkeit kein Ende setzen. Bereits die Grenzen von 1967 werden von Teilen der palästinensischen Gesellschaft als Kompromiss wahrgenommen. Eine Aufkündigung dieser Grenzen als Grundlage einer Zwei-Staaten-Lösung könnte den palästinensischen Anspruch auf das gesamte historische Mandatsgebiet Palästinas wieder aufleben lassen.


Die Rolle der internationalen Gemeinschaft - Finanzierung der Besatzung?

Während die internationale Gemeinschaft den USA die Vermittlung zwischen Israelis und Palästinensern bei der Konfliktlösung überlässt, engagiert sie sich auf palästinensischer Seite vor allem als Geber. Im Rahmen des Oslo-Prozesses in den 1990er Jahren wurde der neu geschaffenen Palästinensischen Autonomiebehörde die Verantwortung für die in den besetzten Gebieten lebenden Palästinenser übertragen. Obwohl die Weltbank 2011 zu dem Ergebnis kam, die Palästinenser seien durch den Aufbau von Regierungsinstitutionen nun »ready for statehood«, wäre die PA ohne internationale Hilfen nicht überlebensfähig. Die offizielle Entwicklungszusammenarbeit teilt sich in drei Bereiche: Direkte Budgethilfe (im Jahr 2012: 761 Mio. US-Dollar), Entwicklungsprojekte im Bereich Infrastruktur, Wirtschaft und Soziales sowie Governance (im Jahr 2012: 314 Mio. US-Dollar) und humanitäre Hilfe (im Jahr 2012: 738 Mio. US-Dollar). Damit stellt die internationale Gemeinschaft mehr als 35 Prozent des Budgets.

Im Kontext der Zwei-Staaten-Lösung waren vor allem die USA und die EU gerne bereit, den Bau von Straßen und Kläranlagen, die Ausbildung von Sicherheitskräften und Justizbeamten und auch die Gehälter der Angestellten der PA zu zahlen. Mit der Perspektive, den Palästinensern beim Aufbau eigener funktionstüchtiger staatlicher Strukturen behilflich zu sein, ließen sich diese Ausgaben in der Vergangenheit rechtfertigen. Kritiker merken jedoch an, dass die internationale Gemeinschaft die zivile Seite der israelischen Besatzung finanziere und Israel somit seiner völkerrechtlichen Verantwortung enthebe. Gemäß der Genfer Konventionen hat die Besatzungsmacht für das Wohl der Bevölkerung in den eroberten Gebieten Sorge zu tragen. Sollten Israelis und Palästinenser der Zwei-Staaten-Lösung eine Absage erteilen, könnte dies die internationale Gebergemeinschaft dazu veranlassen, ihr Engagement zu überdenken. Zum jetzigen Zeitpunkt rücken zudem andere Brennpunkte wie Syrien, Tunesien oder Ägypten in den Mittelpunkt. Die Bereitschaft, auf unbestimmte, nicht absehbar in die palästinensische Eigenstaatlichkeit mündende Zeit, umfangreiche Hilfen zu leisten, könnte vor diesem Hintergrund - und dem der Finanzkrise in Europa - künftig abnehmen. So kündigte die schwedische Entwicklungsministerin Gunilla Carlsson bereits Mitte Juni 2013 an, die Hilfen an die PA zu überdenken, wenn keine Fortschritte im Hinblick auf die Zwei-Staaten-Lösung erzielt würden: »Is it worth continuing developing the prerequisites for a two-state solution if Israel and the Palestinians themselves do not want to sit down at the negotiating table?«


Gaza draußen vor der Tür?

Während das zersiedelte Westjordanland große Aufmerksamkeit genießt, gerät der Gazastreifen, in dem ca. 40 Prozent aller Palästinenser in den Palästinensischen Gebieten leben, zunehmend in den Hintergrund. Die israelische Blockade, die nach dem Coup der Hamas im Gazastreifen erhoben wurde, war anfangs Teil einer Strategie, die die Hamas abstrafen und die Fatah belohnen sollte. Im siebten Jahr der Blockade wird deutlich, dass diese Strategie nicht aufgegangen ist, denn die Hamas hat ihre Machtposition in Gaza gefestigt. Ein Umsturz durch unzufriedene Massen der Bevölkerung und Sicherheitskräfte, wie in den letzten Tagen in Ägypten geschehen, steht bislang nicht zu erwarten. Einen unabhängig agierenden Sicherheitsapparat wie das ägyptische Militär gibt es im Machtgefüge in Gaza nicht. Dennoch werden die Ereignisse in Ägypten in den Palästinensischen Gebieten mit großer Sorge verfolgt, könnte dies doch auch eine Vertiefung der gesellschaftlichen Spaltung in der palästinensischen Gesellschaft nach sich ziehen. Einen Aufruf zur Rebellion von Oppositionskräften gegen die Hamas inspiriert durch die Entmachtung der Muslimbrüder in Ägypten gab es innerhalb von 24 Stunden.

Die Hoffnung der Hamas, vom Siegeszug der Parteien des Politischen Islam in der Region zu profitieren, hat sich nicht erfüllt, auch wenn es im täglichen Leben einige Verbesserungen gab. Nachdem die Muslimbrüderschaft in Ägypten die Regierung stellte, wurde der Personenverkehr über den Grenzübergang Rafah erleichtert, so dass ca. 1.000 Personen täglich aus- bzw. einreisen konnten. Legale Alternativen für die Tunnelökonomie, die sich über die Jahre der Blockade zwischen Gaza und Ägypten institutionalisiert hat, wurden jedoch nicht geschaffen. Da die Tunnel aufgrund von Waffen- und Menschenschmuggel zunehmend zu einem Sicherheitsrisiko auf beiden Seiten geworden sind, wurde in den letzten Monaten von ägyptischer Seite ein Großteil geschlossen. Dies führte prompt zu einer Knappheit an solchen Waren und Gütern, die nicht aus Israel eingeführt werden können oder die bisher bevorzugt zu günstigen Preisen aus Ägypten importiert wurden. Nach der Machtübernahme durch das Militär in Kairo Anfang Juli 2013 wurden die Grenze und die Tunnel zunächst geschlossen. Im Falle einer dauerhaften Schließung wäre Gaza wieder weitgehend abgeriegelt bzw. auf die Versorgungswege durch Israel angewiesen.

Von der anhaltenden Blockade ist vor allem der Export von Waren betroffen, der für die Wiederbelebung der Wirtschaft und des Arbeitsmarkts von großer Bedeutung ist. Gaza droht damit weiterhin am Tropf der humanitären Hilfsorganisationen zu hängen und noch stärker in eine Abhängigkeit zu geraten. Die Perspektivlosigkeit stellt vor allem für die junge Generation eine große Herausforderung dar.


Fazit

Die derzeitigen Bemühungen von US-Außenminister John Kerry scheinen vorerst die letzte Chance für eine Verhandlungslösung des Konflikts zu sein. Doch die Fortsetzung des israelischen Siedlungsbaus in den Palästinensischen Gebieten lässt die Option einer Zwei-Staaten-Lösung schwinden. Sollte es keine Fortschritte geben, ist eine Erosion der PA zu befürchten. Die PA befindet sich nicht nur finanziell, sondern auch politisch in einer Krise. Während die Hoffnungen der internationalen Gemeinschaft und der Europäischen Union auf die US-Initiative gerichtet sind, gerät in Vergessenheit, dass die Versöhnung zwischen Hamas und Fatah eine notwendige Voraussetzung ist, damit ein von Präsident Abbas ausgehandeltes Abkommen von allen relevanten Akteuren akzeptiert wird. Sollte der Sommer verstreichen, ohne dass Verhandlungen wiederaufgenommen werden, müssten Israelis, Palästinenser und die internationale Gemeinschaft intensiv über Alternativen zur Zwei-Staaten-Lösung nachdenken. Diese würden jedoch nur ein weiteres Management des Konflikts darstellen. Wenn die internationale Gemeinschaft an einer Lösung interessiert ist, muss sie sich intensiver als bisher politisch engagieren und darf die Vermittlungsrolle nicht den USA überlassen.


Über die Autorin

Ingrid Ross ist seit 2012 Leiterin des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Palästina und war zuvor Referentin in der Abteilung Internationale Entwicklungszusammenarbeit, Referat Naher/Mittlerer Osten und Nordafrika der FES in Berlin.

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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2013