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OSTEUROPA/342: Seiltanz in Osteuropa (lunapark 21)


lunapark 21, Heft 11 - Herbst 2010
zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie

Zwischen Billiglohn und Sparzwang
Seiltanz in Osteuropa

Von Hannes Hofbauer


Europas Peripherie im Osten ist von der Weltwirtschaftskrise nachhaltig betroffen. Jene Staaten, die sich - wie Tschechien und die Slowakei - in den vergangenen 20 Transformationsjahren hauptsächlich in verlängerte Werkbänke für westeuropäische Absatzmärkte verwandelt haben, kämpfen mit der wegbrechenden Kaufkraft in den Zentralräumen. Jenen, die sieh wie Slowenien, die Slowakei, Montenegro, Kosovo, Bulgarien, das Baltikum, Kroatien und Bosnien im Euro-Raum befinden bzw. über Währungsräte oder fixe Wechselkursregime fix angebunden sind, fehlen Möglichkeiten, auf die Krise währungspolitisch flexibel reagieren zu können. Und jenen, die wie Ungarn, Polen, Rumänien oder Serbien eine selbständige Währungspolitik betreiben könn(t)en, schreiben IWF und EU harte Sparregime vor, die staatliche Interventionsmöglichkeiten strukturell verunmöglichen. Osteuropas staatlicher Flickenteppich befindet sich in vielerlei Fängen und Fallen. Die Instrumente der Abhängigkeiten reichen vom Druckmittel der Bedienung hoher Auslandsschulden über die nicht beeinflussbare Fiskalpolitik der Europäischen Zentralbank bis zu einzelnen Großinvestoren (wie z.B. Volkswagen), die Industrie- und Außenhandelsstruktur ganzer Länder wesentlich bestimmen.

Angesichts dieser Zwänge, die die Krise verschärfen, hat sich das Vokabular der Ökonomen in den vergangenen zwei Jahren gewandelt. Niemand will heute mehr daran erinnert werden, noch kürzlich von "emerging markets" - "aufstrebenden Märkten" - gesprochen zu haben, auch Termini wie "baltische Tiger sind aus dem Sprachgebrauch flugs verschwunden. Stattdessen spekuliert die Fachwelt darüber, wann Produktionseinbrüche und negative BIP-Zahlen überwunden sein werden und ob es überhaupt klug war bzw. ist, Volkswirtschaften peripher an den kriselnden EU-Raum anzudocken.

Das Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) geht in seiner Studie zur Sommerprognose 2010 höchst differenziert auf die unterschiedlichen Herausforderungen ein, denen die osteuropäischen Staaten gegenüberstehen. Eine Durchsicht dieser Arbeit lohnt sich. Im Folgenden ist ihr das statistische Zahlenmaterial entnommen. Als gemeinsame Ausgangsposition dient den Autoren der tiefe Absturz im Zuge der 2008er-Krise. Dabei fielen die Produktionseinbrüche im Osten in aller Regel heftiger aus als in den Kernländern der Europäischen Union. Der Rückgang der Industrieproduktion im Jahr 2009 (gegenüber 2008) betrug zwischen 13,5 bzw. 14 Prozent (in Tschechien und der Slowakei) und 17 bzw. 18 Prozent (in Ungarn, Slowenien, Bulgarien). Getoppt wurde dies noch von Estland mit einem Einbruch von 26 Prozent, nachdem in diesem Land bereits im Jahr zuvor ein ähnlich hoher Produktionsrückgang zu verzeichnen war. Als einzige Ausnahme jener Länder, die im unmittelbaren Einflussbereich Brüssels liegen, fällt Polen mit einem Minus von nur 3,7 Prozent aus der Rolle. Die Größe des Landes und seines Binnenmarktes hat die Exportabhängigkeit, die in anderen Staaten schlimme Folgen zeitigt, in engeren Grenzen halten können.


EURO-ZONE ODER FREIER WECHSELKURS

Ökonomisch betrachtet können grundsätzlich drei unterschiedliche Typen von Ländern im Osten differenziert werden: Erstens diejenigen, die der Euro-Zone angehören bzw. an ihr vermittelt über einen festen Wechselkurs teilhaben. Zweitens diejenigen, deren Währungen einen "floatenden", relativ frei beweglichen Wechselkurs haben. Und dritten schließlich die von der EU nicht abhängigen Ökonomien der GUS-Staaten, insbesondere Russland, die Ukraine und Belarus (Weißrussland). Letzteren wird vom WIIW die "stärkste Wirtschaftsdynamik" prognostiziert, wobei diese Annahme auf einer zu erwartenden Erhöhung der Rohstoffpreise von Gas und Öl (für Russland) und Stahl (für die Ukraine) basiert. Gleichzeitig ist das insbesondere vom Kreml politisch gesteckte Ziel, die Ökonomie des Landes nicht allein auf Rohstoffexporten aufzubauen, sondern im zivilen Produktionsbereich zu diversifizieren, in weite Ferne gerückt. Der Einbruch bei den Energiepreisen sowie die weltweit gesunkene Nachfrage haben zudem dazu geführt, dass die seit Wladimir Putins Präsidentschaft betriebene Politik einer schleichenden Verstaatlichung teilweise revidiert wird. Durch die verminderten Einnahmen aus dem Gas- und Ölgeschäft sieht sich Moskau offensichtlich gezwungen, über eine neue, riesige Privatisierungswelle nachzudenken, die demnächst wieder auch für so genannte strategisch wichtige Branchen private Eigner (zumindest solche mit Anteilen von bis zu 25 Prozent) sucht. Landwirtschaftliche Produktionsrückgänge, wie sie 2010 durch Dürre und Feuersbrünste in großem Ausmass zu erwarten sind, könnten die relativ positiven Prognosen des WIIW eines Schlechteren belehren.

Am tiefsten in der Falle sitzen jene Volkswirtschaften, die an den Euro gebunden sind. Ihre politische Manövrierfähigkeit kennt nur eine Richtung: die der Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit durch Sozialdumping über erzwungene niedrigere Löhne und Pensionen sowie drastische Einsparungen im Gesundheits- und Bildungsbereich. Die neue, neoliberale slowakische Regierung unter Ministerpräsidentin Iveta Radicova ist mit exakt einem solchen Programm angetreten.

Staaten mit flexiblen Wechselkursen waren in der Lage, den für Investoren entscheidenden Kostenvorteil billiger Arbeitskräfte durch Währungsabwertungen halten zu können. Diese haben allerdings den durchaus negativen Nebeneffekt, damit alle Betriebe und Konsumenten, die in den vergangenen Jahren Euro-Kredite oder gar Schweizer-Franken-Kredite aufgenommen haben, potenziell in den Ruin zu treiben. Da Kreditaufnahmen sehr häufig in Fremdwährungen getätigt wurden, verteuern Abwertungen nationaler Währungen das aufgenommene Kapital und wirken sich entsprechend negativ auf die Höhe der Schulden und den Schuldendienst aus.


EXPORTIEREN ODER SPAREN

Es sind häufig so genannte technologisch ausgereifte Industrien in der Metall-, Maschinenbau und Fahrzeugbranche sowie chemische Erzeugnisse, die sich in den Transformationsjahren im Osten Europas angesiedelt haben. Westliche Investoren haben das im Kommunismus gut ausgebildete und im Kapitalismus billige Personal für Weltmarkt- und insbesondere EU-Marktproduktion eingesetzt. Diesem von Neoliberalen gepriesenen "Erfolgsmodell" stehen aktuell zwei Hindernisse im Weg: zum einen die deutsche Politik seit der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder. Sie hat mit ihren restriktiven Lohn- und Sozialmaßnahmen die deutschen Exporte verbilligt und immense Überschüsse produziert, die die Märkte verstopfen.** Zum anderen wirkt sich der Nachfragerückgang auf den Absatzmärkten ganz allgemein negativ aus, was dazu geführt hat, dass durch rezessionsbedingte Steuerausfälle die nationalen Budgets belastet werden.

An dieser Stelle verlinkt sich das Problem sinkender Exporteinnahmen mit dem budgetären Sparzwang. Als Wächter einer neuen Monetarismus-Welle, die mitten in der Krise Volkswirtschaften zusätzlich verheert, wirkt die unheilige Allianz von Europäischer Kommission und IWF, wie sie bei der angestrebten Rettung europäischer Bankeinlagen in Griechenland zum Einsatz gekommen ist. Ihre Rezeptur ist überall dieselbe: Massensteuern wie z. B. die Mehrwertsteuer werden oft drastisch erhöht, Löhne und Pensionen werden real abgesenkt. Das Bankkapital bleibt unantastbar. Die Weigerung der rechts-konservativen ungarischen Regierung unter Viktor Orban Mitte Juli 2010, diesem Programm strikt Folge zu leisten, veranlasste IWF und EU dazu, umgehend sämtliche Kreditversprechen zu kassieren. Lind das, obwohl Orban in struktureller Weise mit der Einführung einer Flat tax ohnehin ein neoliberales, nicht progressives Steuersystem plant. Mit dem Eindringen des IWF in die EU (Ungarn, Rumänien, Bulgarien) und den Euroraum (Griechenland) stellt sich zudem erstmals auch systemimmanent die Frage, ob dieser mittelfristig überlebensfähig ist.


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Nachholende Entwicklung scheitert

Wofür das kommunistische Modell mit seinen staatlichen Plänen 40 bzw. 70 Jahre gebraucht hat, um nämlich feststellen zu müssen, dass damit die Entwicklungskluft zwischen westlichen Zentral- und östlichen peripheren Räumen nicht geschlossen werden konnte, dafür hat die Transformationsperiode seit 1989 gerade einmal 20 Jahre benötigt, freilich ohne sich bislang das Scheitern einzugestehen: Nachholende Entwicklung findet nicht statt. Schon ein Blick auf die Lohndifferenzen in den einzelnen EU-Staaten lässt die Dimension dieses Scheiterns erkennen. Während die durchschnittlichen Löhne - inklusive aller Lohn"nebenkosten" im Jahr 2009 - brutto berechnet in den EU-15 pro Monat 3325 Euro betragen, liegt derselbe Wert für die EU-Länder Osteuropas zwischen 392 Euro in Bulgarien, 775 Euro in Polen, 1093 Euro in der Slowakei, 1175 Euro in Tschechien und 1983 Euro in Slowenien, mithin durchschnittlich bei 845 Euro oder vier Mal unter dem EU-15-Wert.

Das WIIW hat auch errechnet, wie lange die einzelnen osteuropäischen Länder brauchen würden, um im BIP pro Kopf statistisch zum EU-27-Schnitt aufzuholen, der bereits wesentlich unter demjenigen Kerneuropas liegt. Demnach würden es unter der - mittlerweile nicht gerade realistischen - Annahme eines 50% höher als der Durchschnitt liegenden Wachstums im Jahr 2030 (!) gerade einmal Slowenien und die Slowakei schaffen, an den EU-27-Schnitt heranzukommen. Alle anderen Staaten blieben weit von dieser sozialpolitisch ohnehin zweifelhaften Größe entfernt. Nachholende Entwicklung, das hat auch die aktuelle Weltwirtschaftskrise vor Augen geführt, ist unter den herrschenden Bedingungen in abhängigen Peripherien nicht möglich.


Hannes Hofbauer lebt als Autor und Verleger in Wien.


* Vasily Astrov u.a., Will Exports Prevail over Austerity? Current Analyses und Forecasts Nr. 6/July 2010, Wien 2010

** Von den Neoliberalen souverän ignoriert sank zwischen 1991 und 2009 in Deutschland das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf kaufkraftbereinigt von 132 auf 115 Euro (EU-27 = 100).


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Inhaltsverzeichnis lunapark 21, Heft 11 - Herbst 2010

Quartals-Lüge: Die Staatsquote in Deutschland
Editorial - Bernd Köhler
LunaLuna - Rainer Rilling: Gefährdungen meiner Hauswirtschaft
der subjektive Faktor - Werner Wölfle: Stuttgart21
Winfried Wolf: Geht's noch? - Kundgebungsrede gegen "Stuttgart21"

Welt & Wirtschaft
Lucas Zeise: Die Plage Inflation bleibt aus
Tomasz Konicz: Osteuropa - Hyperinflation und Systemtransformation
LunArt - Wolfgang Vogel
Hannes Hofbauer: Billiglohn & Sparzwang - Seiltanz in Osteuropa
LunArt - Ruppe Koselleck

Soziales & Gegenwehr
David Matrai: Die Generation prekär in der Krise
Rainer Balcerowiak: Nach dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts - Kartell der Lohndrücker
Detlef Hensche: Es geht hier um Streikverbot

Feminismus & Ökonomie
Therese Wüthrich: Wie Dienstmädchen im 19. Jh. - Migrantinnen in Haushalten
Gabriele Feld-Fritz: Die professionelle Altenpflege ist weiblich
Patrizia Heidegger: Textilarbeiterinnen in Bangladesch mit Mindestlohn: 34 Euro

LP21-Spezial - Die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko
Drill, baby, drill!
Bernhard Knierim: "Wir hatten zu viele Leute, die die Welt retten wollten"
Louisiana: Das Verschwinden der Sumpfgebiete
Bernhard Knierim: Die Ölpest und die Folgen
Ölpest in Deutschland: Die "Pallas"
Winfried Wolf: Die Macht des Öls - peak oil & Risikobereitschaft der Ölkonzerne
Asbjorn Wahl (Internationale Transportarbeiter-Förderation): Klimawandel & Arbeitsplätze
Lexikon - Georg Fülberth: Grundrente

Fußball-WM - ein Nachspiel
Dietrich Schulze-Marmeling: Weltfußball & FIFAcracy
Axel Köhler-Schnura & Bettina Schneider: Homeless World Cup 2010

Kultur & Gesellschaft
Andrea Marczinski: Kunstvereine - Pfadfinder der Gegenwartskunst
LunArt - Joachim Römer: Windtunnel

Geschichte & Ökonomie
Thomas Kuczynski: Koalitionsfreiheit und Tarifeinheit
Seziertisch 150 - Georg Fülberth: Green New Deal mit Selbstbedienung
Impressum / LunArt Portrait
Hau den Lukas und Meldungen


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Quelle:
Lunapark 21, Heft 11 - Herbst 2010, Seite 17 - 19
Herausgeber: Lunapark 21 GmbH, An den Bergen 112, 14552 Michendorf
E-Mail: redaktion@lp21.de
Internet: www.lunapark21.net

Lunapark 21 erscheint viermal jährlich.
Einzelheft: 5,50 Euro + Porto, Jahres-Abo: 22,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2010