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RUSSLAND/133: Stimmungen in Russland vor den Wahlen (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 31 vom 5. August 2011
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Die Tandemfahrer sind nicht einig über die Richtung
Stimmungen in Russland vor den Wahlen

Von Willi Gerns


Die Wahlen zur Staatsduma der Russischen Föderation werden am 4. Dezember dieses Jahres stattfinden. Am 4. März 2012 folgen die Präsidentenwahlen. Nach der Sommerzeit, in der auch in Russland das politische Leben auf Sparflamme zurückgefahren wird, verbleiben nur noch drei bzw. sechs Monate bis zu den Urnengängen. Da ist es verständlich, dass Politologen und Meinungsforscher vor der Reise in den Urlaub bemüht waren, noch einmal einzufangen, was die Wählerinnen und Wähler am meisten bewegt, und auf diesem Hintergrund zumindest für die Duma-Wahlen eine Prognose abzugeben. Nach Umfragen des Lewada-Zentrums in 2011 (5 bis 6 Antwortmöglichkeiten) besorgt der Preisanstieg mit 81 % am stärksten, gefolgt von der Armut eines Großteils der Bevölkerung mit 59% und der Arbeitslosigkeit mit 40 %. Einschränkungen der demokratischen Freiheiten besorgten dagegen nur 3%. Differenzierter sind die Antworten dann allerdings bei der Frage, welche Freiheiten der befragten Person besonders wichtig sind. Auch hier stehen soziale Rechte und Freiheiten im Fokus. So rangiert ausreichender staatlicher Schutz im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit und Armut mit 56 % an der Spitze, gefolgt von der Möglichkeit, das zu kaufen, was man gerade will (53 %) und Chancengleichheit für alle im Leben und auf Arbeit (52 %). An vierter Stelle kommt dann aber die freie Meinungsäußerung mit 47 %. Die Freiheit unterschiedliche politische Parteien wählen zu können, bewegt dagegen nur 18 %.

Der "westlichen" (westeuropäischen, US-amerikanischen) Gesellschaftsordnung können die meisten Menschen in Russland jedenfalls nicht viel für Russland abgewinnen. So stimmten nur 3,75 % der Befragten der Feststellung zu, dass dies ein allgemeingültiges Modell ist, das vollkommen für die russischen Verhältnisse anwendbar ist, weitere 15 % bejahten die These, dies ist ein Modell, das an die russischen Verhältnisse angepasst werden kann. 31,25 % waren jedoch der Ansicht, dass dieses Modell nicht ganz auf die russischen Verhältnisse passt und sich in Russland kaum umsetzen lässt. 37,5% unterstützten sogar den Standpunkt, dass es überhaupt nicht auf die russischen Verhältnisse passt und der russischen Lebensart widerspricht. (Wobei mit westlicher Gesellschaftsordnung hier offenbar die politische Ordnung in diesen Ländern gemeint ist, denn die Gesellschaftsordnung dieser Länder, der Kapitalismus, herrscht ja im Ergebnis der Konterrevolution längst auch in Russland.) Die Sorge um die soziale Lage äußert sich bei Umfragen auch in einer zunehmenden Kritik an der Regierung. Während sich auf die vom Lewada-Zentrum gestellte Frage: "Wie bewerten Sie die Tätigkeit der russischen Regierung?" im Herbst 2008, also vor dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise, noch etwa zwei Drittel der Befragten positiv und nur 30 % negativ äußerten, war die Zustimmung zur Tätigkeit der Regierung im Frühjahr 2011 auf etwas mehr als 45 % gefallen und die negative Bewertung hatte gut 50 % erreicht. Auffallend dabei ist allerdings nach wie vor, dass viele Befragte Putin als Ministerpräsidenten wesentlich positiver bewerten als die von ihm geführte Regierung. So ist im gleichen Zeitraum zwar auch die Zustimmungsrate zu seiner Tätigkeit von über 85 % auf etwa 70 % gefallen. Sie liegt aber jeweils weit höher als die seiner Regierung.

Die zunehmende Unzufriedenheit der Menschen mit ihren sozialen Lebensbedingungen, mit den Regierenden und der Politik generell, äußert sich allerdings nicht in hoher Protestbereitschaft und entsprechenden Aktionen. So erklärten bei einer Umfrage des im Juli 2011 auf die Frage: "Wenn am kommenden Sonntag an Ihrem Wohnort eine Versammlung, Demonstration oder Protestaktion stattfinden würde, würden Sie an dieser teilnehmen?" zwar etwa 20 % der Befragten, dass sie dazu bereit seien, tatsächlich ist die Beteiligung an solchen Aktionen in der Regel aber nur äußerst gering. Etwa 70 % der Befragten bekundeten von vornherein, dass sie nicht an Protestaktionen teilnehmen werden. (Die Befragungsergebnisse des Lewada-Zentrums und des FOM-Instituts wurden den Russland-Analysen Nr. 224 v. 15.7. entnommen.)

Den Grund für diese Situation sieht der Politologe Grigori Melamedow darin, "dass die stürmischen Entwicklungen und Erschütterungen der 90er Jahre und die Erfahrungen, wie sie beispielsweise in der Ukraine und anderen postsowjetischen Ländern gesammelt wurden, in Russland wie ein 'Impfschutz' gegen Revolutionen gewirkt haben. Die Menschen glauben nicht mehr, dass der Wechsel von einer politischen Elite zur anderen auch nur irgendetwas zum Besseren wenden wird." (Wostok 2/2011, S. 16)

Diese Politikverdrossenheit findet auch darin ihren Ausdruck, dass ein hoher Anteil der Wahlberechtigten nicht mehr an den Wahlen teilnimmt oder von der Möglichkeit Gebrauch macht "gegen alle" zu stimmen. So geht eine Prognose des Meinungsforschungsinstituts WZIOM davon aus, dass bei den Duma-Wahlen im Dezember die Wahlbeteiligung bei nur 54 % liegen wird. Nach dieser Vorhersage würde Einiges Russland (ER), die Partei der Macht), 58,3 % der Stimmen (bei den letzten Wahlen 70 %) erhalten, die KPRF käme auf 14,7% (12,7), die LDPR auf 9,8 (8,9) und Gerechtes Russland auf 7,3 % (8,4). Nach einer Lewada-Umfrage würden dagegen 53 % für ER stimmen, 17 % für die KPRF, 13 % für die LDPR. Gerechtes Russland würde nicht in die Duma kommen. (Russland-Aktuell, 20.7.)

So unterschiedlich die Zahlen auch sind, interessant ist die Tendenz. Sie deutet auf einen doch beachtlichen Abstieg der ER und die Möglichkeit hin, ihre verfassungsändernde Mehrheit zu verlieren. Diese Tendenz hatte sich auch schon bei den letzten Regionalwahlen abgezeichnet. Das hat die Regierenden derart aufgescheucht, dass Wladimir Putin die Initiative zur Bildung einer "Allrussischen Volksfront" aus dem Hut zauberte. Sie soll sich um die ER gruppieren und mit einem neuen Namen die sinkende Sympathie für die ER aufhalten.

Von noch größerer Bedeutung als die Duma-Wahlen sind entsprechend der russischen Verfassung und der darin definierten Rolle des Präsidenten die Wahlen zu diesem Amt im März nächsten Jahres. Für diesen Urnengang gibt es noch keine Prognosen. Der entscheidende Grund liegt darin, dass nach wie vor die Frage nicht entschieden ist, wer der Kandidat der Macht sein wird, Putin oder Medwedjew oder ob gar beide als Repräsentanten unterschiedlicher Flügel im Lager der Macht gegeneinander kandidieren werden.

Über die Möglichkeit der letzten Variante gehen die Meinungen der russischen Politologen und Kommentatoren auseinander. Manche schließen sie aus, andere halten sie angesichts offensichtlich gewordener Differenzen zwischen den beiden Repräsentanten der Macht und der hinter ihnen stehenden Kräfte sogar für wahrscheinlich. Als Beispiele für unterschiedliche Positionen stehen besonders die Eingriffe des Präsidenten in die Wirtschaftspolitik, für die eigentlich der Ministerpräsident zuständig ist und vor allem der Schlagabtausch zwischen Putin und Medwedjew über den Verzicht Russlands auf sein Vetorecht bei der Abstimmung über die Libyen-Resolution im Sicherheitsrat. In jedem Fall mehren sich die Anzeichen dafür, dass die Tandemfahrer ihr Gefährt in wichtigen Fragen in unterschiedliche Richtungen lenken möchten. Das kann auf Dauer nicht gut gehen.


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 43. Jahrgang, 31 vom 5. August 2011, Seite 11
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. August 2011