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TÜRKEI/004: Perspektiven linker Politik in der Türkei (spw)


spw - Ausgabe 4/2011 - Heft 185
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft

Perspektiven linker Politik in der Türkei

von Ridvan Ciftci


Nach der Wahl ist vor der Wahl: Besonders für die heterogene türkische Linke ist dieser Ausspruch aktueller und dringlicher denn je. Fast jeder zweite Wahlberechtigte gab seine Stimme der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) des amtierenden Premierministers Recep Tayyip Erdogan und ebnete so den Weg für eine dritte Amtsperiode. Die Republikanische Volkspartei (CHP), der trotz personeller und inhaltlicher Erneuerung die Erschließung neuer Wählerschichten misslang, bleibt vorerst mit leichten Zugewinnen stärkste Oppositionspartei und auch das Erstarken der prokurdischen Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) wird wohl kaum den parlamentarischen Druck auf die AKP-Regierung in ihrer Haltung zur Kurdenund Minderheitenproblematik erhöhen können, ohne den Protest der kurdischen Straßen im Rücken zu haben.

Wie weiter mit der Linken in der Türkei? Wie weiter in einem Land, in dem sich die hegemoniale kemalistische Formation seit 2002 mit dem Amtsantritt Erdogans verstärkt gewandelt hat? Der jüngste Rücktritt der Armeeführung im Zuge des Streits um die Beförderung inhaftierter Generäle verdeutlichte die Schwächung des kemalistisch-militaristischen Blocks und stellte zugleich eine wichtige Zäsur in der 88 jährigen Geschichte der türkischen Republik dar. Denn seit Anbeginn galt der Satz: Primat der Generalität statt der Politik. Wie weit das Militär bereits in der Defensive ist, zeigten die verschiedenen Verhaftungswellen von Militärangehörigen und pensionierten Offizieren, denen Beteiligung an Vorbereitungen zum Staatsstreich vorgeworfen wird. Erdogans "stoische Ruhe in lauten Zeiten" veranschaulicht die neu gewonnene Sicherheit und Autonomie des politischen Establishments und repräsentiert zugleich die Gelassenheit der neuen hegemonialen anatolisch-bürgerlichen Formation. Wie haben linke Parteien auf diese jüngsten Veränderungen zu reagieren, um nicht ganz in Bedeutungslosigkeit zu verfallen? Um eine plausible Antwort auf diese Frage zu finden, ist eine Rekonstruktion der bisherigen türkischen Geschichte ab der Staatsgründung 1923 notwendig.


Etablierung des kemalistischen Herrschaftsblocks

Mit dem Eintritt des bereits stark geschwächten und durch Territorialverluste gekennzeichneten Osmanischen Reichs im November 1914 an der Seite des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarn, begann gleichlaufend das Ende des über sechs Jahrhunderte bestehenden Großreichs. Durch die Vertreibung der griechischen und armenischen Bevölkerung aus Anatolien wurde im Gegenzug die Aussiedlung der türkischen Minderheit aus Griechenland erzwungen. Dieser Bevölkerungsaustausch verursachte erstmals die Schaffung einer muslimischen Bourgeoisie, da die türkischen Aussiedler die Gehöfte und Handwerksbetriebe der Griechen und Armenier in Besitz nahmen und somit direkt in die alten Klassenverhältnisse integriert wurden.(1) Gemeinsam mit den muslimischen Grundeigentümern wurden sie zu den wichtigsten Vertretern eines türkischen Nationalismus, dessen Erfolg sich neben der Staatsgründung 1923 vor allem auf die Einbeziehung der traditionell islamischen und kurdischen Kräfte im Rahmen des "Befreiungskrieges" gegen die Besatzer Anatoliens stützte. Dieses Zweckbündnis zwischen muslimischer Bourgeoisie, den traditionell-islamischen Kreisen und den Kurden wurde nach dem Befreiungskrieg durch ein neues Bündnis von Großgrundbesitzern, der türkischen Armee, einer neuen Kleinbourgeoisie, Handwerkern, Kaufleuten und der neu etablierten Bürokratenschicht, die sich zumeist aus den genannten Fraktionen rekrutierte, ersetzt.(2) Ein gemeinsames Interesse des neuen Bündnisses bestand in der staatlichen Garantierung von Eigentum sowie der Schaffung stabiler ökonomischer Verhältnisse. Trotz einer liberalen Grundhaltung des neuen Herrschaftsblocks waren sich die einzelnen Fraktionen über die mangelnde Kapitalkonzentration und den somit fehlenden Investitionsmöglichkeiten der türkischen Bourgeoisie bewusst. Dieses Problem wurde durch ein Konsens zugunsten der Etablierung eines autoritären Etatismus, dem neben der Sicherung der politischen Forderung des kemalistischen Herrschaftsblocks noch die Aufgabe von Investitionen zu kam, gelöst.(3)

Die politischen Reformen nach 1923 - gestützt durch die Macht des Militärs und der Modernisierungsagenda des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk - formten den Staat zu einem autoritären Erzieher und vollzogen einen radikalen Bruch mit der osmanisch-islamischen Vergangenheit. Die Abschaffung des Sultanats (1922), des Kalifats (1924), die Schließung der Derwischorden (1925), die Übernahme europäischer Gesetze (1926) und die Einführung des lateinischen Alphabets sowie die Bereinigung der Sprache von arabischen und persischen Wörtern durch türkische Begriffe (1928) zeugen von diesem radikalen Bruch. Besonders die zuletzt genannte Reform verdeutlicht das Interesse des kemalistischen Herrschaftsblocks zur "Errichtung einer 'kulturellgesellschaftlichen' Einheit [...]durch die eine Vielzahl auseinander strebender Willen mit heterogenen Zielen für ein und dasselbe Ziel zusammengeschweißt werden, auf der Basis einer (gleichen) gemeinsamen Weltauffassung [...], deren intellektuelle Basis so verwurzelt, assimiliert gelebt ist, dass sie zur Leidenschaft werden kann".(4)stelle des Islams soll der türkische Nationalismus treten, um so die kulturelle Homogenisierung der heterogenen anatolischen Gesellschaft voranzutreiben und die restlichen traditionell-islamischen Eliten, deren Schriftsprache arabisch war, zu entmachten. Über Nacht waren die restlichen Eliten zu Analphabeten degradiert und diejenigen, die nicht Lesen oder Schreiben konnten, durften dies in den staatlichen Volkshäusern lernen. Der kemalistische Herrschaftsblock besaß hierdurch ein Monopol über das Bildungswesen und konnte ohne jegliche Konkurrenz mit der Indoktrinierung der Bevölkerung anfangen. Die Bildungsinhalte räumten einen großen Platz für die vorislamische Geschichte der Türken ein und waren in ihrem Grundtenor sehr nationalistisch. Diese Reform symbolisiert die staatlich betriebene Assimilationspolitik von ethnischen Minderheiten (vor allem der Kurden) und wird bis heute als eines der Hauptursachen des Bürgerkrieges in Ost- und Südostanatolien betrachtet.

Die kemalistischen Reformen sind im Anschluss an Antonio Gramsci als passive Revolutionen einzustufen, deren Ziel die Weiterentwicklung der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft durch Revolutionierung aller Verhältnisse und die innere Stabilisierung durch staatsdirigistische Eingriffe ist.(5) Die herrschaftsförmige Integration der subalternen Interessen und das gleichzeitige Fernhalten dieser subalternen Gruppen von der Macht des hegemonialen Blocks macht das passive Element dieser Revolution aus. (6)

Jedoch stieß der nationalistische und radikalsäkulare Kurs in Teilen der Bevölkerung nicht auf Zustimmung, so dass alleine in der Regierungszeit Atatürks (1923-1938) ca. 20 ethnisch bzw. religiös motivierte Aufstände entfachten. Gegen oppositionelle Kräfte ging der kemalistische Staat als integraler Staat (Verdichtung von Zivilgesellschaft und politischer Gesellschaft) stets mit Zwang vor.(7)


Desintegration

Das kemalistische Projekt erlebte seinen ersten Rückschlag mit dem Wechsel zum Mehrparteiensystem ab 1945, dass aufgrund des Drucks der Westmächte und der Niederlage der faschistischen Systeme in Europa eingeführt wurde.(8) Die bisherige Alleinregierung der kemalistischen CHP, die von Atatürk als Staatspartei gegründet wurde, hatte nun mit der von Großagrariern unterstützte wirtschaftsliberalen Demokratische Partei (DP) einen Konkurrenten. Der kemalistische Block verlor an diese Partei die Fraktion der Großagrarier und begriff, dass die radikalen Reformen der Anfangsjahre mit den veränderten Bedingungen der 50er nicht mehr möglich waren. Der Verlust hing mit den Plänen der CHP nach einer Bodenreform zusammen, wogegen die Großagrarier lautstark protestierten und die enge Verflechtung der CHP mit der Bürokratie und der Staatswirtschaft als Hindernis für die Entwicklung der türkischen Ökonomie betrachteten, da ständige Interessengegensätze der Parlamentarier nötige ökonomische Reformen blockierten. Die DP gewann die 1950er Wahl mit 55,2 Prozent der Stimmen und konnte ihr Projekt des liberalen Agrarkapitalismus umsetzen. Die Regierungszeit der DP endete 1960 mit dem ersten Militärputsch der türkischen Geschichte. Der Versuch der Militärs, die alte hegemoniale Formation anhand eines Wechsels hin zur importsubstituierenden Industrialisierung wieder herzustellen, misslang durch das Aufkommen der Großindustriellen, die ein auf ihre Interessen abgestimmtes Regime drängten.(9) Die zunehmende Landflucht ließ in den Städten neue Fraktionen innerhalb des Bürgertums aufkommen, die in ihrer politischen Richtung mehr zu konservativen und islamischen Parteien tendierten. Die Integrationsfähigkeit des kemalistischen Blocks nahm durch diese Entwicklungen zunehmend ab und führte zu einer Politik der konzentrierten Machtsicherung in den repressiven Staatsapparaten.


Aufstieg des neuen anatolischen Blocks

Der Aufstieg der Großindustrie und deren Präferierung eines Außenhandelsregime wegen mangelnder Absatzmöglichkeiten im Inland mobilisierte die klein- und mittelständigen Unternehmen in Richtung islamischkonservativen Parteien, die sich ebenso gegen die Öffnung der Märkte einsetzten und gemeinsam mit den Unternehmen den Versuch der Bildung einer Formation wagten. Diese Gruppe bildete sich zumeist aus anatolischen Bauern, die im Zuge der Landflucht in den Städten zu einem beträchtlichen wirtschaftlichen Wohlstand gelangten und ihre kleinen Betriebe so weiter ausbauen konnten. Geeint hat sie vor allem der bäuerlich-muslimische Hintergrund im Gegensatz zu den urbanen kemalistischen Eliten, die sich als Avantgarde und Revolutionäre der Republik stilisierten. Der Staatsstreich im September 1980, der zugleich die neoliberale Wende der Türkei einläutete, die Rolle der Armee als Gralshüter des Kemalismus weiter stärkte und die radikalsäkulare Staatsdoktrin paradoxerweise zur Symbiose mit der "türkisch-islamischen Synthese" zwang, bestärkte den anatolisch-bürgerlichen Block anhand der Integration ihrer Ideologie in den Staatsapparaten und durch finanzielle Förderung der mittelständischen Betriebe. Mit der Gründung der Wohlfahrtspartei (RP) 1983 - als Nachfolgerin der islamistischen MNP - besaß der neue Block nach dem 1980er Putsch wieder eine politische Vertretung. Ihren ersten großen Erfolg feierte sie in den Kommunalwahlen im März 1994, wo sie in insgesamt 29 großen türkischen Städten den Bürgermeister stellte und so die Stadtverwaltung als lokale Hegemonieapparate nutzte.(10) Die Parlamentswahlen 1995 gewann die RP mit 21,4 Prozent der Stimmen und stellte mit Necmettin Erbakan den Premierminister. Der Versuch der RP über die Staatsapparate dem anatolischen Block die Hegemonie zu verschaffen, scheiterte an den Kräfteverhältnissen in den Apparaten und an der Macht der Militärs. Diese intervenierte am 28. Februar 1997 und führte zur Absetzung der RP geführten Regierung. Ein Verbotsverfahren der RP wurde wegen antilaizistischer Tendenzen eingeleitet und die Partei 1998 durch das Urteil des Verfassungsgerichts aufgelöst. Trotz dieser Intervention des noch intakten kemalistischen Blocks war der RP in Teilen die Umstrukturierung repressiver und ideologischer Staatsapparate gelungen. Die unteren Ebenen waren bereits mit Personen besetzt, die dem Gedankengut der islamisch-konservativen Ideologie nahestanden. Die Nachfolgepartei der RP, die Tugendpartei (FP), spaltete sich Ende der neunziger Jahre in einen reformistisch-liberalen Flügel unter der Führung Abdullah Güls, der später mit dem früheren Istanbuler Bürgermeister Erdogan die AKP gründete, und einem radikalen Flügel, der sich in der Partei der Glückseligkeit (SP) organisierte.

Im Zuge der Wirtschaftskrise 2001 wurde die damalige Koalition bestehend aus der Partei der Demokratischen Linken (DSP), der liberalen Mutterlandspartei (ANAP) und der rechtsradikalen Partei der nationalistischen Aktion (MHP) bei den Parlamentswahlen 2002 abgewählt. Die AKP errang kurz nach ihrer Gründung 2001 34 Prozent der Stimmen und konnte dank der hohen türkischen Sperrklausel von 10 Prozent die absolute Mehrheit im Parlament für sich gewinnen. Dieser erste Erfolg der AKP verfestigte sich bei den Kommunalwahlen 2004 und mündete, trotz offener Putschandrohung der Militärs im April 2007, in einem weiteren Sieg der im selben Jahr stattfinden Parlamentswahlen mit 46,5 Prozent der Stimmen. Die Besetzung des Amtes des Staatspräsidenten mit Abdullah Gül markiert einen weiteren Wendepunkt in der Etablierung des anatolischen Blocks in den Staatsapparaten und verdeutlicht zugleich die bereits erfolgreich errichtete Hegemonie der neuen Formation in der Zivilgesellschaft, ohne sie ein solcher Marsch durch die Institutionen nicht möglich gewesen wäre.

Auch die repressiven Staatsapparate sind zunehmend unter der Kontrolle des anatolischen Blocks. Als Beispiel sind hier die Polizei und die Judikative - ausgenommen des Verfassungsgerichtes, welches derzeit noch mehrheitlich mit kemalistischen Richtern besetzt ist - genannt, ohne sie die strafrechtliche Verfolgung von Generälen, die unter Staatsstreichverdacht inhaftiert wurden, nicht möglich gewesen wäre. Der jüngste Rücktritt der oberen Militärführung symbolisiert die Kapitulation des brüchigen kemalistischen Blocks und ermöglicht nun die Chance einer Reintegration und Zivilisierung des mit Sonderrechten bestatteten Militärs in die politische Sphäre.


Perspektiven linker Politik

Die Parlamentswahl 2011 - 49,9 Prozent: AKP; 25,9 Prozent: CHP; 12,9 Prozent: MHP; 6,6 Prozent: Linksblock - verdeutlichte die Zustimmung der Bevölkerung für die Politik der AKP-Regierung. Innerhalb dieser Konstellation ist ein gegenhegemoniales Projekt der gesellschaftlichen Linken sehr wünschenswert, jedoch dank der türkischen Verhältnisse ein schweres unterfangen. Die neoliberale Politik der AKP und der ständige Sozialabbau haben nicht zu einem Stimmenverlust, sondern - paradoxerweise - zu einer Stärkung der Partei geführt. Die Errichtung eines religiös motivierten und paternalistischen Almosensystems ließ die Zustimmung der ärmeren Schichten anwachsen.(11) Das Linksbündnis, bestehend aus der prokurdischen BDP und sozialistischen Parteien, konnte seinen Stimmen- und Sitzanteil im Parlament erhöhen. Die rückwirkende Aberkennung von fünf kurdischen Abgeordneten, die wegen Verurteilung oder Untersuchungshaft ihr Mandat nicht wahrnehmen können, führte zu einer Boykottierung der parlamentarischen Arbeit durch das Linksbündnis. Diese Reaktion und das Wiederaufflammen des Bürgerkrieges in den kurdischen Gebieten katapultiert die gesamte emanzipatorische Bewegung in bereits vergangene Zeiten einer staatlich betriebenen Verfolgungspolitik. Auch die AKP verschärft ihren Ton und vertritt verstärkt die Meinung, dass das Kurdenproblem mit militärischen Mitteln - ähnlich wie der Zerschlagung der Tamil-Eelam-Bewegung durch die sri lankanische Armee - zu lösen sei.

Die Linke in der Türkei muss auf eine starke Bündnispolitik setzen und die historisch bedingte Zersplitterung endlich aufheben. Der Versuch der BDP eine Dachpartei für alle linken Kräfte zu organisieren, ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Der Mangel an einer Alternativität zur neoliberalen Politik der AKP-Regierung, trotz eines beträchtlichen Anteils von Menschen, die unter der Armutsgrenze leben (ca. 18 Prozent), liegt an der Nichtexistenz einer sozialdemokratischen Partei. Die CHP mag sozialdemokratische Thesen vertreten, aber fühlt sich immer noch einer autoritären, nationalistischen und undemokratischen Ideologie verbunden, die jegliche Bündnisse mit linken Kräften ausschließt. Nur eine entkemalisierte CHP kann mit ihrer Verankerung in vielen zivilgesellschaftlichen Bereichen eine Art "Leuchtturmfunktion" für das gegenhegemoniale Projekt einnehmen. Auch die BDP muss sich mehr von der Partei der kurdischen Minderheit zu einer linken, sozialdemokratischen Partei der gesamten Türkei entwickeln und dies auch in der türkischen Bevölkerung repräsentieren.

Das neue hegemoniale Projekt, mit dem die Massen mobilisiert, wichtige Akteure und Fraktionen aus dem gegnerischen Block losgelöst und Intellektuelle einbezogen werden, muss sich thematisch breiter aufstellen und darf sich nicht wie bisher auf die Repräsentation einer bestimmten Ethnie oder der Verteidigung einer autoritären Ideologie aus dem vergangenen Jahrhundert beschränken. Die Konstruktion eines neuen linken Blocks als Synthese sozioökonomischer Basis, politischer und ziviler Gesellschaft, erfordert aktiven und direkten Konsensus.(12) Denn ein "kollektives Bewusstsein, d. h. ein lebender Organismus bildet sich nur, nachdem sich die Vielfalt über die Reibung der Einzelnen geeinigt hat."(13)

Der Erfolg eines gegenhegemonialen Projekts wird zwangsläufig an der Kompromissfähigkeit der Linken entschieden werden. In der Vergangenheit scheiterte sie vor allem an diesem Punkt, da ideologisch verhärteten Positionen selbst das Eingehen von Bündnissen gegen faschistische Gewalt verhinderte. Nur die Überwindung des Gruppenegoismus der Linken und die Entstehung "organischer Intellektuelle" als Träger des neuen hegemonialen Projekts, ermöglichen eine wirksame Kritik der inneren Widersprüche des anatolisch-bürgerlichen Blocks und bieten zudem die Repräsentation einer sozialen und demokratischen Alternative zum AKPRegime. Die Zivilgesellschaft, als Ort der Entstehung der Hegemonie und der Erzeugung des aktiven Konsenses der Beherrschten, ist das zentrale Auseinandersetzungsgebiet der Linken. Hier muss sie die Demokratisierung der Gesellschaft, den Abbau der autoritären politischen Kultur, die Bekämpfung der wachsenden Armut trotz gleichzeitiger Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums, die Anerkennung der ethnischen und religiösen Vielfalt des Landes sowie die Schaffung eines solidarischen Bildungssystems einfordern. Denn ein erfolgreiches gegenhegemoniales Projekt fällt keinem in den Schoss, sondern muss organisiert werden.


Ridvan Ciftci ist stellv. Vorsitzender der Jusos Bielefeld und studiert Jura.


Anmerkungen

(1) Vgl. Gehring, Axel, Soziogenese eines neuen anatolischen Bürgertums und der Aufstieg der AKP, S. 21.

(2) Ebd., S. 23.

(3) Ebd., S. 28.

(4) Gramsci, Antonie, Gefängnishefte, H. 10. II § 44, S. 1335, zit. nach Gehring, S. 27.

(5) Vgl. Kebir, Sabine, Gramsci's Zivilgesellschaft, 1991, S. 26; Candeias, Mario, Transformation des Kapitalismus und revolutionäre Realpolitik, in: arranca!, 2010, Nr. 41, S. 4-8.

(6) Vgl. Candeias, Mario, Transformation des Kapitalismus und revolutionäre Realpolitik, in: arranca!, 2010, Nr. 41, S. 4-8.

(7) Vgl. Gehring, S. 29.

(8) Vgl. Caglar, Gazi, Die Türkei zwischen Orient und Okzident, S. 183 f.

(9) Vgl. Gehring, S. 100.

(10) Ebd. S. 69.

(11) Vgl. Cakir, Murat, Von der AKP-Hegemonie zur AKP-Diktatur?, in: Sozialismus, 2011, Heft Nr. 7-8, S.

(12) Vgl. Kebir, S. 85 ff.

(13) Vgl. Gramsci, Antonio, Quaderni dal carcere, Turin 1975, S. 1769-1771, zit. nach Kebir S. 88.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2011, Heft 185, Seite 50-55
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Oktober 2011