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BERICHT/016: Für ein Menschenrecht auf Bildung auch in Deutschland (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 3/2009

In der Menschenwürde begründet
Für ein Menschenrecht auf Bildung auch in Deutschland

Von Gerhard Kruip


Die so genannten PISA-Studien haben gezeigt, dass das deutsche Bildungssystem Ungleichheiten der sozialen Herkunft nicht ausgleicht, sondern eher noch verstärkt. Der sozialethischen Fragen, die sich in der aktuellen Bildungsdebatte stellen, hat sich ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziertes Projekt angenommen und unter anderem ethische Kriterien für eine Umsetzung des Menschenrechts auf Bildung gesucht.


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Seit der Veröffentlichung der ersten Ergebnisse der von der OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development) in Auftrag gegebenen PISA-Studien (Programme for International Student Assessment) im Jahr 2001, bei denen Deutschland im internationalen Vergleich relativ schlecht abgeschnitten hatte, wird hierzulande erfreulicherweise wieder intensiv über Bildung, Bildungsqualität, Bildungsgerechtigkeit und notwendige Bildungsreformen diskutiert. Die Studien haben insbesondere gezeigt, dass das deutsche Bildungssystem Ungleichheiten der sozialen Herkunft nicht ausgleicht, sondern eher noch verstärkt. Von Chancengerechtigkeit in der Bildung kann also keine Rede sein.

Dabei kommt es offenbar vor allem auf die Bildungsferne der Eltern an; der Migrationshintergrund alleine ist kein ausschlaggebender Faktor, wie viele erfolgreiche Migrantenkinder mit bildungsnahen oder aufstiegsorientierten Elternhäusern zeigen. Vergleiche zwischen den Bundesländern führten zudem zu der Erkenntnis, dass die Qualität der Bildung auch innerhalb Deutschlands sehr ungleich verteilt ist. Die besten Länder reichen durchaus an Finnland heran, das im internationalen Vergleich am besten abschneidet, während die schwächeren auf dem Niveau von Portugal, Spanien und Italien (aber auch Luxemburg) liegen.

"PISA" ist mittlerweile zum Kürzel für sämtliche Probleme des Bildungssystems geworden und die Notwendigkeit verstärkter Investitionen in Bildung ist in aller Munde. Bei der Vorlage des zweiten Nationalen Bildungsberichts im Juni 2008 rief Bundeskanzlerin Angela Merkel die "Bildungsrepublik Deutschland" aus. Anknüpfend an Ludwig Erhard proklamierte sie, "Wohlstand für alle" bedeute heute "Bildung für alle". Sie konnte trotzdem nicht verhindern, dass der groß angekündigte "Bildungsgipfel" im Oktober 2008 außer wohlfeilen Erklärungen kaum Ergebnisse brachte, was vor allem am Streit unter den Bundesländern lag (vgl. HK, Dezember 2008, 595ff.).

Seither droht die allgegenwärtige Finanzmarktkrise, die sich inzwischen zu einer heftigen Konjunkturkrise ausgewachsen hat, das Thema Bildung wieder in den Hintergrund zu drängen. Immerhin konnte Bundesbildungs- und Forschungsministerin Annette Schavan für das "Konjunkturpaket II" noch ein paar Pflöcke einschlagen: Neben Straßen und Schienen sollen auch Schulen und Universitäten saniert werden. Dies ist auch dringend nötig. Wer in jüngerer Zeit einmal eine der vielen in der Bausubstanz und dem äußeren Erscheinungsbild ziemlich maroden Schulen oder Universitäten besucht hat, wird sich fragen, ob Orte des Lernens nicht viel ansprechender und einladender gestaltet werden könnten und müssten.

Die anhaltende Bildungsdebatte hat auch der Forschung neue Impulse gegeben. Während die PISA-Studien und die Grundschullesestudie IGLU immer nur Momentaufnahmen vorhandener Schlüsselkompetenzen einer bestimmten Altersgruppe liefern konnten, sollen nun vom Nationalen Bildungspanel unter Leitung des Bamberger Bildungsforschers Hans-Peter Blossfeld die Bildungsverläufe von 60.000 Schülern, Schülerinnen und Erwachsenen im Längsschnitt über mehrere Jahre bis ins Berufsleben hinein verfolgt werden. Dadurch ist es viel eher möglich, Ursachen für positive oder negative Karrieren herauszuarbeiten.


Ökonomische Verwertbarkeit von Bildung und klassischer Bildungsbegriff gehen zusammen

Die durch den "PISA-Schock" ausgelöste Debatte hat jedoch auch ihre Schattenseiten. Für manche ist "PISA" zum Reizwort geworden. Angesichts des Auftraggebers der PISA-Studien, der ökonomisch orientierten Organisation OECD, und der starken Orientierung der Debatte auf die Verstärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ("Kluge Köpfe sind unser einziger Rohstoff") befürchten viele eine Reduktion von Bildung auf ökonomisch verwertbare Fertigkeiten. Das klassische Verständnis von Bildung als Selbstzweck drohe verlorenzugehen.

Trotzdem ist nicht von der Hand zu weisen, dass es direkte Zusammenhänge gibt zwischen Bildung und wirtschaftlichem Erfolg, und zwar sowohl für die Individuen selbst zwischen Bildungsabschluss und späterer Beschäftigungssicherheit und Einkommenshöhe wie auf volkswirtschaftlicher Ebene zwischen der Bildungsausstattung der beschäftigungsfähigen Bevölkerung und dem wirtschaftlichen Wachstum. Schließlich vermeidet eine bessere Bildungsausstattung auch höhere Kosten für die sozialen Sicherungssysteme, weshalb inzwischen ein engerer Zusammenhang von Bildungspolitik und Sozialpolitik gesehen wird. Besonders ineffizient ist die unzureichende Förderung der Hauptschüler und -schülerinnen, deren Bildungsausstattung dann so gering ausfällt, dass sie durch sehr viel teurere Kurse der Arbeitsagenturen erst ausbildungsreif gemacht werden müssen.

Welche grundlegende Bedeutung Bildung für die wirtschaftliche Entwicklung spielt, haben nicht zuletzt auch Analysen der Bildungsökonomen Ludger Wößmann und Sascha Becker deutlich gemacht. Sie haben die berühmte These Max Webers über den Einfluss der protestantischen Ethik auf die Entwicklung des Kapitalismus durch eine Erkenntnis eher ergänzt als korrigiert: dass die unterschiedliche Entwicklung evangelischer und katholischer Regionen weit besser durch den Faktor Bildung als durch die Konfessionszugehörigkeit erklärt werden könne - wobei möglicherweise das protestantische Bemühen, allen eine Lektüre der Heiligen Schrift zu ermöglichen, eben auch zu mehr Bildung beigetragen habe.

So zeigt sich an diesem Beispiel, was Pädagogen, Erwachsenenbildner, aber auch zunehmend Personalentwickler in Unternehmen immer wieder betonen, dass auch eine Bildung, die auf die Entwicklung der Persönlichkeit, auf Sinnfragen und ästhetische Bildung ausgerichtet ist, im Berufsleben und für den ökonomischen Erfolg ausgesprochen wichtig sein kann. Oder, anders formuliert: Eine Bildung, die allein auf ökonomischen Nutzen reduziert wäre, könnte nicht diejenigen Personen mit entsprechender Persönlichkeit heranbilden, die in der Wirtschaft sehr wohl gebraucht werden. Es wird wohl klug sein, die ökonomische Verwertbarkeit von Bildung und den klassischen Bildungsbegriff nicht gegeneinander auszuspielen, was jedoch wiederum nicht bedeutet, sich in der Rechtfertigung umfassender Bildung auf ökonomische Argumente beschränken zu müssen.


Keine Zugangsbeschränkungen zur Bildung als die Eignung

Vielfach wird auch kritisiert, dass oft allzu schnell aus den PISA-Studien ganz bestimmte Reformvorschläge, wie etwa die Abschaffung der Dreigliedrigkeit des Schulsystems, gefolgert würden, ohne dass dies durch die empirischen Befunde ausreichend untermauert wäre. Um insbesondere die sozialethischen Aspekte aufzuarbeiten, die sich in der aktuellen Bildungsdebatte stellen, haben Marianne Heimbach-Steins (in Bamberg) und ich (am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover) in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Projekt seit Anfang 2006 bis einschließlich Februar 2009 Fragen der Bildungsgerechtigkeit und sozialethischer Kriterien zu ihrer Umsetzung in Deutschland untersucht. Zum Forschungsteam gehör(t)en Axel Bernd Kunze, Katja Neuhoff, André Grahle, Volker Drell, Kevin Rosenkranz, Thorsten Heinz und Melanie Wolf. Im Rahmen des Projekts haben mehrere Tagungen stattgefunden, deren Ergebnisse bereits publiziert sind oder demnächst publiziert werden (siehe unten). Die beiden wichtigsten Arbeiten, die Dissertation von Katja Neuhoff und die Habilitationsschrift von Axel-Bernd Kunze, werden in diesem oder spätestens im nächsten Jahr erscheinen.

Das Projekt steht unter dem Fokus des "Menschenrechts auf Bildung". Dabei arbeiten wir an zwei Standorten (Bamberg und Hannover) in zwei Teilprojekten. Teilprojekt I (Kunze) hat eine systematische Begründung der Notwendigkeit und Reichweite des Menschenrechts auf Bildung in anthropologischer, bildungstheoretischer und christlich-sozialethischer Perspektive zum Ziel, Teilprojekt II (Neuhoff) beschäftigt sich mit der Erarbeitung konkreter sozialethischer Maßstäbe zur politischen Umsetzung im Rahmen einer nachhaltigen Bildungspolitik.

Ein solcher menschenrechtlicher Zugang zum Thema Bildungsgerechtigkeit, wie er auch durch den Besuch des UN-Sonderberichterstatters Vernor Muñoz für das Menschenrecht auf Bildung im Februar 2006 und seinen im März 2007 veröffentlichten Bericht ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gehoben wurde, hat mehrere Vorteile (vgl. HK, Juni 2007, 311ff.): In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) der UNO von 1948 und weiteren Kodifizierungen in diversen Konventionen und Abkommen hat man eine eindeutige, teilweise rechtlich positivierte und so gut wie universell gültige Grundlage, auf die man sich berufen kann und von der her die Kritik an mangelnder Bildungsgerechtigkeit mit größerem Nachdruck vertreten werden kann.

Nach Art. 26 AEMR hat jeder "das Recht auf Bildung. Die Bildung ist unentgeltlich, zum mindesten der Grundschulunterricht und die grundlegende Bildung. Der Grundschulunterricht ist obligatorisch. Fach- und Berufsschulunterricht müssen allgemein verfügbar gemacht werden, und der Hochschulunterricht muss allen gleichermaßen entsprechend ihren Fähigkeiten offen stehen." (Art. 26, Abs. 1) Aus dieser Formulierung wird bereits deutlich, dass es beim Menschenrecht auf Bildung nicht nur um ein jedem zustehendes Minimum gehen kann. Das erwähnte Minimum (Grundschulunterricht) ist obligatorisch und muss unentgeltlich zur Verfügung gestellt werden.

Aber zumindest in einer Gesellschaft, die über ausreichend Ressourcen verfügt, darf es auch bei aller Bildung, die darüber hinausgeht, keine anderen Zugangsbeschränkungen geben als die jeweilige Eignung. Die gleiche Forderung ergibt sich auch schon aus dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 2 AEMR. Dabei müssen alle nicht nur formale, sondern reale Chancen des Zugangs zu Bildungseinrichtungen haben, die ihrer Eignung entsprechen.


Nicht nur Ausbildung in grundlegenden Kulturtechniken oder für eine spätere Berufstätigkeit

Damit ist klar, dass in Deutschland sehr wohl das Menschenrecht auf Bildung in erheblichem Umfang verletzt wird, und zwar einmal in den Fällen von Kindern illegal in Deutschland lebender Migranten, die aus Angst vor Entdeckung nicht zur Schule gehen beziehungsweise geschickt werden. In manchen Bundesländern gibt es für sie entgegen dem Menschenrecht auf Bildung auch gar keine Schulpflicht.

Aber auch die Tatsache, dass der Bildungserfolg und der Bildungszugang so stark vom Bildungshintergrund der Eltern abhängen, stellt eine menschenrechtlich nicht legitimierbare Diskriminierung dar, zumal auch empirisch nachgewiesen ist, dass bei den vielen Übergängen, die in Deutschland von einer Schulform zur nächsten bewältigt werden müssen, keinesfalls immer nur nach Eignung, sondern sehr häufig - bewusst oder unbewusst - nach der Bildungsferne des Elternhauses entschieden wird.

Besonders eklatant ist dieses Phänomen bei den Schullaufbahnempfehlungen, die Lehrer und Lehrerinnen Kindern für den Übergang von der Grundschule in eine weiterführende Schule geben. Aber auch die von Eltern oder Kindern selbst gesetzten Bildungsziele orientieren sich weniger an der Leistung als an den sozialen Erwartungen des Elternhauses und seines Umfeldes. Unter Bildungsforschern ist inzwischen weitgehend Konsens, dass sich solche diskriminierenden Faktoren innerhalb einer Bildungskarriere umso häufiger bemerkbar machen, je mehr solche Schwellen zu überwinden sind, weil sich die Selektionsfaktoren multiplizieren.

Die Formulierung des Menschenrechts auf Bildung in der AEMR ist auch aus einem anderen Grund interessant. Dieses Recht meint nämlich keinesfalls nur eine Bildung im Sinne einer Ausbildung in grundlegenden Kulturtechniken oder für eine spätere Berufstätigkeit. Denn es heißt dort explizit im Art. 2: "Die Bildung muss auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muss zu Verständnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein." Es geht hier also durchaus auch um eine Bildung im Sinne des klassischen Bildungsbegriffs.

Das kann auch gar nicht anders sein, wenn man sich vor Augen führt, dass das Menschenrecht auf Bildung letztlich aus der Menschenwürde heraus begründet werden muss, diese Menschenwürde aber Selbstzwecklichkeit des Menschen und seiner Bildungsvollzüge impliziert. Eine Konsequenz daraus ist, dass es nicht nur ein Menschenrecht auf Bildung geben muss, sondern auch Menschenrechte durch Bildung und im Sinne der Achtung vor der Würde aller an Bildung Beteiligter auch ein Menschenrecht in der Bildung.


Die Schule muss sich den Kindern anpassen

Trotzdem zeigte sich im Laufe der Arbeit des DFG-Projekts, dass an der Vorstellung eines Menschenrechts auf Bildung gerade auch von pädagogischer Seite Kritik geübt wurde, beispielsweise auf unserem Mainzer Kongress "Menschenrecht auf Bildung - Maßstab für die Bildungspolitik in Deutschland?" im November letzten Jahres. Ein Recht auf Bildung als Anspruch anderen gegenüber könne es im strengen Wortsinn allein deshalb nicht geben, weil Bildung letztlich immer Selbstbildung sein müsse. Überhaupt, so manche Kritik aus pädagogischer Perspektive, stelle der sozialethische Blick auf Fragen der Bildung eine Reduktion dar. Allenfalls könne es um ein Recht auf Ermöglichung von Bildung gehen, wobei sich die Ressourcen, die dafür notwendig seien, einem standardisierten und empirisch überprüfbaren Zugriff entzögen.

Richtig daran ist sicherlich, dass sich Bildung im klassischen Verständnis kaum empirisch messen lässt und deshalb auch zu weit gehende Verrechtlichungen des Bildungsprozesses problematisch wären. Es ist aber doch ausgesprochen plausibel, dass für diejenigen, bei denen in empirischen Untersuchungen große Rückstände in Schlüsselqualifikationen wie Lesen, Textverständnis und mathematischem Denken nachgewiesen werden, aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Möglichkeiten zu einer Bildung im klassischen Verständnis kaum gegeben sein dürften. Versteht man die durch PISA und andere Studien gemessenen Werte als Indikatoren für die Ermöglichung auch einer weiter ausgreifenden Bildung, dann müssen auch hier empirische Bildungsforschung und der klassische Bildungsbegriff jedenfalls hinsichtlich ihrer sozialethischen Bedeutung und der mit ihnen verbundenen Gerechtigkeitsprobleme nicht gegeneinander ausgespielt werden. Im Übrigen stellen auch Diskriminierungen im Zugang zu ökonomisch orientierter Ausbildung, die in einer Wissens- und Informationsgesellschaft Lebenschancen entscheidend prägen, eine massive Ungerechtigkeit dar, die bekämpft werden muss.

Bei der Suche nach ethischen Kriterien einer Umsetzung des Menschenrechts auf Bildung hat sich ein "4-A-Schema" als besonders fruchtbar erwiesen, das in UN-Menschenrechtsausschüssen entwickelt und durch die Bildungsberichterstatter der UNO auf das Menschenrecht auf Bildung angewandt worden ist. Es umfasst Verfügbarkeit (availability), Zugänglichkeit (accessibility), Annehmbarkeit (acceptability) und Adaptierbarkeit (adaptability).

Besonders ungünstig sieht demnach die Lage in Deutschland im Blick auf Annehmbarkeit und Adaptierbarkeit aus. Denn in vielen Bildungsbereichen gibt es enorme Probleme mit der Qualität des Unterrichts und vor allem mit der Anpassung des Unterrichts und der Schulformen an die jeweiligen Zielgruppen. So wird beispielsweise bei Kindern mit Migrationshintergrund zu wenig auf deren Mehrsprachigkeit Rücksicht genommen. Weder wird sie als Potenzial erkannt, noch werden in ausreichendem Maße (vor allem an höheren Schulen) gezielte Angebote gemacht, um etwaige Sprachdefizite zu bekämpfen. In Deutschland herrscht noch immer die Auffassung vor, die Kinder müssten sich der Schule anpassen. Es wäre aber notwendig, umgekehrt die Schule den Kindern anzupassen: ihren soziokulturellen Hintergründen, ihren Erfahrungen und Interessen sowie ihren Zeitrhythmen.

Welche Reformforderungen aus solchen Einsichten abzuleiten wären, ist auch innerhalb des Projektteams teilweise umstritten. Meines Erachtens sollte dringend die frühkindliche Förderung ausgebaut und teilweise verpflichtend gemacht werden. Angesichts der Tatsache, dass in manchen Familien Kinder kaum mehr wirklich erzogen werden, geschweige denn Unterstützung für die Schule erhalten können, wäre auch die flächendeckende Einführung einer obligatorischen Ganztagsschule hilfreich.

Außerdem sollten Zahl und Art der Übergänge von einer Schulform zur nächsten mit der Notwendigkeit der Entscheidung für bestimmte Schularten überdacht werden. Ein mehrgliedriges Schulsystem schafft nicht nur Anlässe zur Diskriminierung bei den Übergängen, sondern beinhaltet für die Lehrenden immer auch die Versuchung, schwächere Schüler und Schülerinnen hinauszudrängen und an die niedriger qualifizierende Schulform zurück zu überweisen, anstatt sich um eine besondere Förderung dieser zu kümmern. So sammeln sich letztlich "unten" diejenigen mit den schwächsten Potenzialen und größten sozialen Problemen. In mehreren Bundesländern ist besonders die Hauptschule zur "Restschule" geworden, in der sich die Schüler nicht gegenseitig fordern und fördern, sondern sich gegenseitig entmutigen, Leistung sozial ächten, Mechanismen der Selbstexklusion gegenseitig fördern und so eine Spirale nach unten in Gang setzen.


Entscheidend ist die Qualität der direkten Interaktion im Unterricht selbst

Bei jeder strukturellen Reform im Bildungssystem, wie auch immer diese konkret aussehen mag, bleibt jedoch eines entscheidend: die Qualität der direkten Interaktion im Unterricht selbst. Um diese zu verbessern, braucht es eine andere Kultur an Schulen und Bildungseinrichtungen allgemein: eine Kultur der Kollegialität unter den Lehrenden und eine Kultur des konstruktiven Feed-backs zwischen Lehrenden und Lernenden. Was könnte sich nicht alles an positiven Entwicklungen einstellen, wenn Fortbildung und Personalentwicklung ernster genommen würden, wenn die Lehrenden wechselseitig im Unterricht hospitieren und ihre Eindrücke und Erfahrungen austauschen würden, wenn es regelmäßig Gesprächsrunden zwischen Lehrenden und Lernenden gäbe, um gemeinsam an der Verbesserung der Unterrichtsqualität zu arbeiten. In manchen Bereichen geschieht das schon, und das Bewusstsein für solche Möglichkeiten ist in der letzten Zeit enorm gestiegen. Aber keiner sage, hier sei nicht noch mehr möglich.

Auch für die Kirche als Trägerin von Bildungseinrichtungen gilt das Menschenrecht auf Bildung als sozialethische Richtschnur. Zusammen mit der Option für die Armen muss das allgemeine Eintreten der Kirche für die Menschenrechte (jedenfalls seit der Enzyklika Pacem in terris und dem Zweiten Vatikanischen Konzil) dazu führen, dass die Kirche ihre eigenen Aktivitäten im Bildungsbereich unter die Forderung nach Bildungsgerechtigkeit stellt, das heißt Benachteiligte besonders unterstützt, gerade auch an den von ihr getragenen Gymnasien. Bei allen Nutzern ihrer Angebote und insbesondere bei den besonders Begabten muss sie dafür werben, dass diese eine moralische Sensibilität ausbilden, durch die sie jedenfalls die derzeitigen erheblichen Ungerechtigkeiten unseres deutschen Bildungssystems als unerträglich und dringend reformbedürftig zu begreifen lernen.


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Gerhard Kruip (geb. 1957) ist Inhaber des Lehrstuhls für Christliche Anthropologie und Sozialethik der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Mainz und Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover.


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In einer im Zusammenhang mit dem Projekt "Menschenrecht auf Bildung" gegründeten Buchreihe "Forum Bildungsethik" sind im Bielefelder W. Bertelsmann Verlag inzwischen folgende Bände erschienen:

Heimbach-Steins, Marianne; Kruip, Gerhard; Kunze, Axel-Bernd (Hg.): Das Menschenrecht auf Bildung und seine Umsetzung in Deutschland. Diagnosen - Reflexionen - Perspektiven, 2007 (Bd. 1)
Filipovic, Alexander: Öffentliche Kommunikation in der Wissensgesellschaft. Sozialethische Analysen, 2007 (Bd. 2)
Rieger-Goertz, Stefanie: Geschlechterbilder in der Katholischen Erwachsenenbildung, 2008 (Bd. 3)
Münk, Hans J. (Hg.): Wann ist Bildung gerecht? Ethische und theologische Beiträge im interdisziplinären Kontext, 2008 (Bd. 4)
Heimbach-Steins, Marianne; Kruip, Gerhard; Neuhoff, Katja (Hg.): Bildungswege als Hindernisläufe. Zum Menschenrecht auf Bildung in Deutschland, 2008 (Bd. 5)
Heimbach-Steins, Marianne; Kruip, Gerhard; Kunze, Axel-Bernd (Hg.) (2009): Menschenrecht auf Bildung: Maßstab für die Bildungspolitik in Deutschland? 2009 (Bd. 6, im Druck)
Heimbach-Steins, Marianne; Kruip, Gerhard; Kunze, Axel-Bernd (Hg.): Bildungsgerechtigkeit - interdisziplinäre Perspektiven, 2009 (Bd. 7, in Vorbereitung)

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
63. Jahrgang, Heft 3, März 2009, S. 145-149
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Die "Herder Korrespondenz" erscheint monatlich.
Heftpreis im Abonnement 10,40 Euro.
Das Einzelheft kostet 12,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2009