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BERICHT/039: Die soziale Seite der Bildung - Verloren im Lern-Labyrinth (DJI)


DJI Bulletin 2/2010, Heft 90
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Die soziale Seite der Bildung
Verloren im Lern-Labyrinth

Von Tilly Lex, Nora Gaupp und Birgit Reißig


Viele Hauptschülerinnen und Hauptschüler streben heute höhere Bildungsabschlüsse an oder besuchen berufsvorbereitende Maßnahmen. Ihre Chancen auf eine Berufsausbildung verbessert das nicht immer: Warum jeder vierte Jugendliche trotz der Zusatzqualifikation scheitert.


Immer mehr Jugendliche nutzen die Gelegenheit, nicht erreichte Schulabschlüsse nachzuholen. Dies betrifft vor allem den Mittleren Abschluss, der inzwischen von einem Fünftel der Jugendlichen in beruflichen Schulen erworben wird (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010). Viele junge Menschen wollen sich damit rechtzeitig für einen zunehmend anspruchsvollen Arbeitsmarkt rüsten, für andere ist der Besuch einer weiterführenden Schule oder eines berufsvorbereiten Angebots allerdings nur eine Notlösung, da sie keinen Ausbildungsplatz finden. Wie der Bildungsbericht 2010 zeigt, besuchen mehr als drei Viertel der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss und die Hälfte der Jugendlichen mit Hauptschulabschluss nach der Schule erst einmal Qualifizierungsangebote im sogenannten Übergangssystem (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010).

Doch führen die zahlreichen berufsvorbereitenden Lernangebote, die die Jugendlichen verstärkt in Anspruch nehmen, tatsächlich zu einem erfolgreichen Berufseinstieg? Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) hat in seinem Übergangspanel, einer bundesweiten Untersuchung, die unterschiedlichen Wege von Hauptschülerinnen und Hauptschülern nach Schulende verfolgt. Und es zeigt sich, dass das oft als teuer und uneffektiv kritisierte Übergangssystem etlichen jungen Menschen durchaus zu einem Ausbildungsplatz verhilft: Knapp ein Fünftel der Jugendlichen beginnt meist schon nach einem berufsvorbereitenden Jahr eine Ausbildung. Ein weiteres Fünftel schafft diesen Einstieg nach dem Erwerb eines Mittleren Abschlusses auf einer allgemeinbildenden Schule oder an einer beruflichen Schule (Gaupp/Lex/Reißig 2010).


Anspruchsvolle Arbeitswelt, fehlende Fachkräfte

Dennoch scheitert ein relativ großer Anteil der Hauptschülerinnen und Hauptschüler trotz aller Zusatzqualifikationen: Jeder vierte der untersuchten Jugendlichen hatte vier Jahre nach Ende der Pflichtschulzeit immer noch keinen Ausbildungsplatz. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und der steigenden Ansprüche in der Berufswelt ist dies besonders brisant. Denn für Menschen ohne Ausbildung sind die Arbeitsmarktchancen schlecht. Und der seit längerem zu beobachtende Abbau an Arbeitsplätzen, der von Erwerbspersonen ohne Ausbildung ausgefüllt werden kann, wird sich den Prognosen nach weiter fortsetzen. Hinzu kommt, dass selbst die wenigen verbleibenden Einfacharbeitsplätze zunehmend mit formal Qualifizierten besetzt werden (Bellmann u. a. 2006).

Fachkräfte fehlen dagegen: Schon heute beklagen viele Betriebe, dass sie keine geeigneten Bewerberinnen und Bewerber finden, um offene Stellen zu besetzen. Jeder fünfte Lehrling bricht zudem seine Ausbildung ab, wie der Berufsbildungsbericht 2010 zeigt. Nach dem Bericht sank die Zahl der neu geschlossenen Ausbildungsverträge 2009 im Vergleich zum Vorjahr um 8,2 Prozent auf 566.000. Wegen des demografischen Wandels ging zwar die Zahl der Jugendlichen, die sich für eine Ausbildung interessieren, ebenfalls um 8,8 Prozent auf 575.600 zurück, allerdings gibt es ein Passungsproblem zwischen Angebot und Nachfrage: Etwa 80.000 Jugendliche suchen vergebens eine Lehrstelle (Bundesministerium für Bildung und Forschung 2010).


Lernen im Arbeitsprozess als didaktisches Prinzip

Worin unterscheiden sich Erfolglose und Erfolgreiche? Das DJI-Übergangspanel offenbart zunächst längst bekannte gesellschaftliche und bildungspolitische Herausforderungen: Ausbildungslose Jugendliche schleppen ihre Probleme meist schon lange mit sich herum. Sie hatten schlechtere Schulnoten als die Vergleichsgruppe und schwänzten öfter die Schule. Auffällig ist zudem, dass häufiger Jugendliche mit Migrationshintergrund betroffen sind. Schließlich ist die Lage auf den regionalen Arbeitsmärkten wichtig: Je höher die Arbeitslosigkeit in der Region, desto geringer sind die Chancen der Jugendlichen, eine Ausbildung zu beginnen und abzuschließen. Umgekehrt heißt das aber auch: Ein aufnahmefähiger Arbeitsmarkt verbessert auch die Qualifizierungschancen von bildungsbenachteiligten Jugendlichen (Gaupp/Hofmann-Lun 2008). Die demografische Entwicklung könnte somit die Ausbildungschancen bildungsbenachteiligter Jugendlicher zumindest etwas verbessern - und die sogenannte Marktbenachteiligung reduzieren.

Das DJI-Übergangspanel gibt auch Hinweise darauf, wie die Ausbildungslosen besser unterstützt werden können. Es zeigt beispielsweise, wie wichtig die Berufswahlvorbereitung in der Schule ist (Lippegaus-Grünau/Mahl/Stolz 2010). Auch die Dauer der Praktikumserfahrungen scheint ein wichtiger Einflussfaktor zu sein. Um die Wirksamkeit von Praktika zu erhöhen, sind sie in das Gesamtgefüge schulischer Berufsorientierung einzupassen, in der auch Phasen der Vor- und Nachbereitung Berücksichtigung finden. Zudem sollte berufsorientierender Unterricht an Schulen fächerübergreifend vermittelt werden.

Und schließlich wirkt sich auch die Unterstützung durch die Eltern positiv auf die Einmündung in die Ausbildung aus. Gerade bei Eltern mit Migrationshintergrund, die das deutsche Ausbildungssystem oft nicht gut kennen, ist eine Beratung wichtig. Dass die Bundesregierung nun schon für Siebtklässler »Berufslotsen« in die Schulen schicken will, könnte den Eltern und Lehrkräften dabei helfen, die Jugendlichen zu ermutigen und ihnen den Weg in eine Ausbildung zu ebnen. Der Erfolg mit ehrenamtlichen Patinnen und Paten, die schon jetzt in einigen Schulen arbeiten, ließe sich damit ausbauen.


Verwirrende Vielfalt und nützliche Wegweiser

Wichtig ist aber, dass die Patinnen und Paten auf ihre Einsätze gut vorbereitet und pädagogisch geschult sind. Außerdem ist Wert darauf zu legen, dass diese Begleitung problematischer Jugendlicher nicht mit dem Schulaustritt endet. Denn das DJI-Übergangspanel zeigt, dass ausbildungslose Jugendliche im Durchschnitt fast die Hälfte des vierjährigen Untersuchungszeitraumes eine Schule oder ein berufsbereitendes Lernangebot besucht haben. Manchmal begannen sie sogar eine Ausbildung, doch diese wurde meist bereits in der Probezeit aufgelöst. Das Problem bestand also oft nicht darin, dass den Jugendlichen keine Angebote gemacht wurden oder sie kein Interesse daran zeigten. Das Problem war vielmehr, dass die Lernangebote - aus subjektiver Sicht der Jugendlichen - keine sinnvolle Abfolge darstellten und ihnen auch nicht den erfolgreichen Zugang in eine Berufsausbildung ermöglichten.

Entscheidend für das Gelingen des Übergangs in Ausbildung ist deshalb, dass die Jugendlichen Angebote finden, die an ihren individuellen Voraussetzungen, Zielen und Lebenslagen anknüpfen. Denn Umwege, Abbrüche und Sackgassen demotivieren sie zusätzlich. Stimmt die Politik die verschiedenen Ebenen der Programme und Angebote zur beruflichen Integration dieser Jugendlichen nicht oder nur unzureichend ab, tragen sie häufig nicht zu einer Verbesserung der Situation bei. Große regionale Unterschiede bei der Quote der ungelernten Erwerbstätigen deuten darauf hin, dass diese Abstimmung in den Regionen in sehr unterschiedlichem Maße gelingt. Nur dort, wo Bund und Länder die Kommunen und Landkreise darin bestärken und finanziell unterstützen, vor Ort enge Netzwerke und Kooperationen aufzubauen, können wirksame Strategien entwickelt werden, um mehr Jugendlichen eine Berufsausbildung und damit eine sichere Zukunft zu ermöglichen.


Das DJI-Übergangspanel ist eine bundesweite Studie zu den Bildungs- und Ausbildungsverläufen von Hauptschulabsolventinnen und -absolventen. Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) führte die auf sechs Jahre angelegte Längsschnittuntersuchung mit finanzieller Förderung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung durch. An der Basiserhebung im März 2004 beteiligten sich rund 4.000 junge Menschen. Die Autorinnen Tilly Lex, Nora Gaupp und Birgit Reißig gehören seit vielen Jahren dem zuständigen Forschungsteam im Forschungsschwerpunkt »Übergänge in die Arbeit« am DJI in München an.



Literatur:

Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2010): Bildung in Deutschland 2010. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Perspektiven des Bildungswesens im demografischen Wandel. Bielefeld

Bellmann u. a. (2006): Personalbewegung und Fachkräfterekrutierung - Ergebnisse des IAB-Betriebspanels 2005. IAB-Forschungsbericht 11

Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.; 2010): Berufsbildungsbericht 2010. Bonn

Gaupp, Nora / Lex, Tilly / Reißig, Birgit (2010): Hauptschüler/innen an der Schwelle zur Berufsausbildung: Schulische Situation und schulische Förderung. Deutsches Jugendinstitut. München

Gaupp, Nora / Hofmann-Lun, Irene (2008): Absolventinnen und Absolventen der bayerischen Praxisklassen auf dem Weg in die Berufsausbildung. Ergebnisse einer Längsschnittuntersuchung. In: Zeitschrift für Betriebs- und Wirtschaftspädagogik, Heft 2, S. 235-250

Lippegaus-Grünau, Petra / Mahl, Franciska / Stolz, Iris (2010): Berufsorientierung. Programme und Projekte von Bund und Ländern, Kommunen und Stiftungen im Überblick. Deutsches Jugendinstitut München/Halle

Reißig, Birgit / Gaupp, Nora / Lex, Tilly (2008): Hauptschüler und Hauptschülerinnen auf dem Weg von der Schule in die Arbeitswelt. München


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 2/2010, Heft 90, S. 23-24
Herausgeber:
Deutsches Jugendinstitut e.V. (DJI)
Nockherstraße 2, 81541 München
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. August 2010