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BERICHT/047: Ein anderer Blick auf Bildung (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2012 - Nr. 100

Ein anderer Blick auf Bildung
PISA, Ganztagsschule, Kitas: Die Bildungsdebatte ist in Deutschland in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Was aber muss sich ändern, damit Bildung tatsächlich mehr ist als Schule? Über die Chancen und Herausforderungen eines erweiterten Bildungsbegriffs.

von Thomas Rauschenbach



Die deutschen Debatten über Bildungs-, Familien- und Sozialpolitik sind in den letzten Jahren wesentlich dynamischer geworden. Waren Fragen der Bildung in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts noch relativ randständig, zählen sie inzwischen zu den öffentlich am meisten verhandelten Themen der Gesellschaft. Die politische und mediale Diskussion zum Themenfeld Bildung hat an Intensität gewonnen, die Erörterungen sind facettenreicher geworden, die staatlichen Anstrengungen gewachsen. So debattiert die Bundesrepublik seit der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 wieder und wieder über die Leistungsunterschiede zwischen den Ländern. Merkwürdigerweise sind dabei regelmäßig wiederholte Leistungsvergleiche beliebter als die gemeinsame Suche nach Lösungen.

Bewegung ist auch in die »institutionelle Ordnung« des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen gekommen. So erlebt die Ganztagsschule in Deutschland einen Aufschwung und ist auf dem besten Weg, in wenigen Jahren zum Standard des Schüler-Daseins zu werden. Einen weiteren Fokus bilden die Kindertageseinrichtungen, deren Bildungspotenzial »neu« entdeckt worden ist und die inzwischen flächendeckend ausgebaut werden. Der biografische Eintritt in die institutionalisierte Kindheit beginnt immer häufiger bereits im Alter zwischen ein und zwei Jahren. Allerdings - und auch das ist keineswegs trivial - wird in jüngerer Zeit auch die Rolle der Familie als Bildungswelt wesentlich ernster genommen, als dies lange Zeit der Fall war.

Ein weiterer wichtiger Impuls resultiert aus einer Blüte der Bildungsforschung: Sie liefert insbesondere seit der empirischen Wende in der pädagogischen Forschung präzisere Befunde über die Bedingungen des Aufwachsens in Deutschland. Dies ermöglicht eine nüchterne, indikatorengestützte Berichterstattung, wie sie etwa die Bildungsberichte oder die großen internationalen Leistungsvergleichsstudien versuchen. Alle diese Entwicklungen zusammen haben dazu beigetragen, dass sich der Blick auf Bildung geändert hat.

Diese neuen Dynamiken haben auch neue Anstrengungen ausgelöst, den Blick auf Bildung und das Verständnis von Bildung selbst zeitgemäßer zu konzipieren. Was charakterisiert gelingende Bildungsprozesse junger Menschen unter den heutigen, veränderten Rahmenbedingungen des Aufwachsens? Welche Rolle spielt dabei die bislang wenig beachtete und unterschätzte Alltagsbildung? Muss diese in ihrer Bedeutung für die Prozesse der sozialen Spaltung neu bewertet werden? Und: Welche Rückwirkungen haben all diese Veränderungen auf das Verhältnis von privater und öffentlicher Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen?


Bildung 2.0 - die Neuvermessung heutiger Bildungswelten

Bildung ist kein Selbstzweck. Bildung kann Menschen in die Lage versetzen, mit allen Sinnen Subjekt ihres eigenen Handelns zu werden. Bildung soll Menschen zu einer eigenständigen Lebensführung unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen befähigen - früher hätte man dies vielleicht mit »Lebenstüchtigkeit« umschrieben -, sowohl in kognitiver und emotionaler als auch in sozialer und praktischer Hinsicht. Deshalb muss Bildung »mehr als Schule« sein, wie das schon vor zehn Jahren in den sogenannten Leipziger Thesen plakativ formuliert wurde (BJK 2002).

Dieser Idee folgend, sollte ein zeitgemäßer Bildungsbegriff so konturiert sein,, dass dieses »Mehr« deutlich wird. Vier Aspekte von Bildung - kognitive, emotionale, personale und praktische - lassen sich demzufolge als inhaltliche Komponenten eines zeitgemäßen Bildungsverständnisses beschreiben (Rauschenbach 2009). Es umfasst vier Arten von Kompetenzen: erstens kulturelle Kompetenzen, mit denen sich Menschen die Wissensbestände einer Gesellschaft und ihre Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben oder Rechnen erschließen können; zweitens personale Kompetenzen, die es dem Einzelnen ermöglichen, mit seiner Gedanken- und Gefühlswelt, seiner Körperlichkeit und seiner Emotionalität umzugehen; drittens soziale Kompetenzen, dank derer Menschen am Gemeinwesen teilhaben und soziale Verantwortung übernehmen können; viertens instrumentelle Kompetenzen, die es Menschen ermöglichen, sich in der stofflichen Welt der Natur, der Waren und Produkte, handelnd zu bewegen.

Ein zukunftsorientiertes Bildungsverständnis muss diesen vier Dimensionen mehr Gewicht beimessen, als dies weithin üblich ist. Dabei geht es um eine gezielte Erweiterung der Lerninhalte und der Lernbereiche, der Lernformen und der Lernmodalitäten jenseits der eingespielten Routinen kognitiv-schulischer Bildung. Entscheidende Grundlage ist ein Bildungskonzept, das zwei Kriterien gerecht wird: Erstens muss berücksichtigt sein, dass Lernen bei Heranwachsenden in vielen Bereichen nur dann gelingt, wenn sie als Ko-Produzenten ihrer Bildung gesehen werden. Zweitens muss die institutionelle Seite der Bildung alle Bildungsprozesse in den Blick nehmen. Ein scholarisierter Begriff von Bildung erweist sich hierfür als zu eng, muss ergänzt werden um jene Facetten, die lange Zeit außerhalb des Bildungskanons verortet wurden, also gar nicht als Elemente von Bildung verstanden wurden. Damit wird Bildung zu einer Art Bildung 2.0.


Alltagsbildung - die Neubewertung der nicht-intendierten Bildung

Die deutsche Schule baut darauf auf, dass andere Akteure Vorleistungen erbringen, ohne die den Kindern schulisches Lernen kaum möglich ist. So müssen elementare Bildungsprozesse vor Eintritt in die Schule in der Familie und in der Kita erfolgen. Dazu zählt der Spracherwerb genauso wie die Förderung von Lernbereitschaft oder die Entwicklung einer kognitiven Grundausstattung. Ähnlich gilt für die Zeit der Schule selbst die Annahme, dass Familien - tatsächlich meist die Mütter - zusätzliche stabilisierende Bildungsleistungen erbringen, etwa durch Unterstützung bei Hausaufgaben oder durch schulergänzende Sicherung der emotional-kognitiven Reifung. Auch die Beiträge anderer Bildungsakteure - etwa der außerschulischen Jugendbildung oder der Kinder- und Jugendhilfe - werden stillschweigend vorausgesetzt.

Allerdings ist zugleich ein partielles Schwinden dieser Selbstverständlichkeiten erkennbar. Die Schulen können nicht länger sicher sein, dass alle Kinder vor acht Uhr und (in Westdeutschland) nach 13 Uhr in den Familien gut betreut, umfassend gefördert und mit Blick auf die schulischen Anforderungen zielführend unterstützt werden. Sie müssen feststellen, dass ein Teil der Kinder nicht in der Lage ist, dem Unterricht mit einem altersgemäßen Maß an Aufmerksamkeit und Selbstdisziplin zu folgen. Und sie nehmen wahr, dass lebenspraktische Fähigkeiten oder die Kenntnis der Regeln eines friedlich-kooperativen Zusammenlebens nicht mehr so ausgeprägt sind, dass sämtliche Kinder an formalisierten Bildungsprozessen konzentriert und kontinuierlich teilnehmen können.

Mithin besteht die Gefahr, dass Alltagsbildung soziale Ungleichheiten nicht nur reproduziert, sondern sogar vertieft. So hat ein Teil der jungen Menschen - tendenziell die Mehrheit - heutzutage enorme Möglichkeiten der individuellen Kompetenzerweiterung: Ihnen wird in den Familien, den Kitas, den Institutionen der Jugendarbeit und in vielen anderen Settings weit mehr Alltagsbildung angeboten als allen Generationen zuvor. Gleichzeitig mangelt es einer anderen Gruppe von jungen Menschen genau an diesen Gelegenheiten und Zugängen zu Lernsettings.

Die Prozesse der Alltagsbildung verdienen eine erhöhte Aufmerksamkeit: Wenn die Annahme stimmt, dass vor allem sie die Grundlage für die Zuweisung von Chancen in der Bildungsbiografie von Heranwachsenden darstellen, dann darf sich der Bildungsdiskurs nicht länger auf die »Sonderwelt« Schule beschränken, muss vielmehr den Blick auf die gesamte Lebenswelt und alle Bildungsorte weiten.


Bildung und Befähigung - im Zusammenspiel zwischen privater und öffentlicher Verantwortung

Das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen ist - nach einer langen Phase starker Familialisierung und Privatisierung in der westdeutschen Bundesrepublik - immer expliziter auch politisch zu einer öffentlichen Angelegenheit geworden. Exemplarisch erkennbar wird dies in der Ausweitung der Kindertagesbetreuung, im Auf- und Ausbau der Ganztagsschulen, aber auch in den vermehrt installierten Systemen der frühen Hilfen. Offenkundig stößt eine ausschließlich familial verantwortete Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen in einer modernen Industriegesellschaft westlicher Prägung an ihre Grenzen. Familien brauchen und verlangen aus mehreren Gründen Unterstützung von außen: weil ihre internen Kräfte und Ressourcen limitiert sind, weil die Arbeitswelt ihnen Bedingungen vorgibt und Verhaltensregeln abverlangt, die ohne öffentliche Unterstützung nur um den Preis der Nicht-Vereinbarkeit von Beruf und Familie bewältigt werden können und weil Kinder Bildungspotenziale und Entwicklungsanregungen benötigen, die ihnen in den instabiler gewordenen Kleinfamilien nicht in allen Dimensionen in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen.

Zu beobachten ist infolgedessen eine verstärkte öffentliche Verantwortungsübernahme, bei der es allerdings nicht darum geht, die Verantwortung der Familie zu ersetzen, sondern sie zu ergänzen.

Dieser Prozess stellt eine jahrzehntelange Aufteilung in Frage, der Eltern die Verantwortung der Erziehung zuschrieb, den Schulen die Aufgabe der Bildung und den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe (insbesondere den Kindertageseinrichtungen) die Aufgabe der Betreuung. Eine Überwindung dieser Aufgaben- und Arbeitsteilung, die an die Logik hoch arbeitsteiliger Industrieproduktion erinnert, legte bereits das Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1991 nahe, indem es den Kitas die Aufgabe der Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern zusprach (Wiesner 2010). Nimmt man dies ernst als programmatische Forderung an alle Akteure des Bildungswesens - also nicht nur für die Kinder- und Jugendhilfe -, so verändert sich das System von Bildung, Betreuung und Erziehung auf mehrfache Weise: Bildung ist dann nicht länger ein Prozess, der an die Berufsgruppe der Lehrer delegiert werden kann; die Bildungsleistungen der Familien müssen ebenso deutlich ins Blickfeld gerückt werden wie die von Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Betreuung ist in diesem Sinne nicht mehr länger eine zeitweilige Zuständigkeitsverlagerung der Versorgung eines Kindes von seiner Familie auf familienexterne Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Angelehnt an den englischen Begriff »care« charakterisiert Betreuung in einem erweiterten Sinn »Sorgearbeit«, die neben der physischen Versorgung der Kinder auch emotionale Zuwendung, den Aufbau von Bindungen und soziale Unterstützung umfasst. Erziehung schließlich ist nicht allein die Weitergabe von Normen und Verhaltensregeln innerhalb der Familie. In einem zeitgemäßen Verständnis zielt Erziehung vielmehr auf den Aufbau einer personalen und sozialen Identität sowie auf den Erwerb einer individuellen Orientierungs- und Entscheidungskompetenz. Ziel wäre dabei die Entwicklung der Fähigkeit zur Selbststeuerung sowie die Herausbildung einer eigenen moralischen Urteilskraft. Die Relevanz dieser Fähigkeiten wird umso größer, je weiter Individualisierungsprozesse fortschreiten und je stärker soziale Milieus erodieren.

Dies alles zeigt: Mit einem anderen, erweiterten Blick auf Bildung werden tradierte Gewissheiten unsicher. Was Bildung ausmacht, muss neu ausgehandelt werden. Was Bildungsprozesse erleichtert, ermöglicht und erfolgreicher macht, benötigt ebenfalls gezielte Reflexion. Und welche gesellschaftlichen Akteure welchen Beitrag hierzu leisten können und sollten, könnte genauso neu ausbuchstabiert werden. Dieser andere Blick auf Bildung fällt nicht leicht, doch er kann Horizonte öffnen und erweitern.


Prof. Dr. Thomas Rauschenbach ist Direktor und Vorstandsvorsitzender des Deutschen Jugendinstituts (DJI), Professor für Sozialpädagogik an der Technischen Universität Dortmund sowie Leiter des Forschungsverbundes DJI/TU Dortmund und der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik.
Kontakt: rauschenbach@dji.de


Literatur

Bundesjugendkuratorium (BJK; 2002): Bildung ist mehr als Schule. Leipziger Thesen zur aktuellen Bildungspolitischen Debatte. Bonn

Rauschenbach, Thomas (2009): Zukunftschance Bildung. Familie, Jugendhilfe und Schule in neuer Allianz. Weinheim

Wiesner, Reinhard (2010): Die Trias Betreuung, Bildung und Erziehung. In: Jugendhilfe, Heft 5, S. 229-237

DJI Impulse 4/2012 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2012 - Nr. 100, S. 4-6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. April 2013