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DISKURS/008: Bildung - ein Privileg? (wissen leben - WWU Münster)


wissen leben - Nr. 4, 7. Juli 2010

Die Zeitung der WWU Münster

Bildung - ein Privileg?

Wie Wissenschaftler die Bildungschancen von Arbeiterkindern beurteilen

Von Norbert Robers


Es klang optimistisch, als die Verantwortlichen des Deutschen Studentenwerks unlängst die Frage beantworteten, wie es um die Chancen von sogenannten Arbeiterkindern für ein Hochschulstudium bestellt ist. Die Daten, die sie für die aktuelle 19. Sozialerhebung gesammelt hatten, belegten, dass "sich die Bildungsbeteiligung von Kindern aus unterschiedlichen Herkunftsmilieus tendenziell annähert". So weit, so positiv.

Hätten sie nicht kurz darauf einige Einschränkungen und Ergänzungen hinzugefügt, die ein anderes Bild ergeben. Denn erstens sei es trotz aller Annäherungsversuche und politischen Initiativen nahezu ausgeschlossen, dass sich die Studierchancen von Kindern uns Akademiker- und Arbeiterhaushalten jemals angleichen würden. Zweitens sei die Hochschule zwar eine Institution, die einen Bildungsaufstieg auch für bildungsferne Schichten ermögliche, die aber in erster Linie den "Erhalt des bereits erreichten akademischen Status in der jeweils folgenden Generation sichert".

Der münstersche Erziehungswissenschaftler Prof. Wolfgang Böttcher teilt diese Beobachtung. Er geht sogar einen Schritt weiter. Politiker und Pädagogen verfügten zwar über zahlreiche Möglichkeiten, Beiträge zu mehr Chancengleichheit zu leisten. "Aber am Ende", betont Wolfgang Böttcher, "ist zu befürchten, dass niemand wirklich unzufrieden ist mit der Situation des sozialselektiven Scheiterns." Schließlich würden diejenigen, die an diese Lage etwas ändern könnten, gemeinsam mit ihren Kindern und Enkelkindern in privilegierten Verhältnissen leben. "Warum sollten sie ihre komfortable Position gefährden?", fragt er.

Seit Jahren schon unterstreichen die verantwortlichen Politiker, dass sie fest entschlossen sind, den Studierenden-Anteil von Kindern aus bildungsfernen Schichten zu erhöhen. Die Europäische Union beispielsweise möchte bis zum Jahr 2020 europaweit 40 Prozent eines Jahrgangs zum Hochschul-Abschluss zu bringen - diesem hehren Ziel hat sich die Bundesregierung sofort angeschlossen. Aber dabei gibt es ein gravierendes Problem: Denn das Rekrutierungspotenzial aus hochschulnahen Bildungsmilieus ist Experten zufolge mit 71 Prozent nahezu ausgeschöpft - auf der anderen Seite bleibt der Anteil von Arbeiterkindern, die sich mit einem Abitur in der Tasche für ein Universitäts-Studium entscheiden, hartnäckig unter einem Drittel.


Zahlen

Wie schätzen Abiturienten ihre Chancen ein, ein Studium erfolgreich absolvieren zu können? 67 Prozent der Absolventen aus der Oberschicht, 60 Prozent aus der Mittelschicht haben eine hohe Erfolgserwartung - unter den Arbeiterkindern sind es 56 Prozent. 75 Prozent der Oberschicht- und 54 Prozent der Mittelschicht-Eltern schicken ihre Kinder auf ein Gymnasium - von den Arbeiter-Eltern sind es nur 27,4 Prozent. Das gilt auch, wenn Kinder gute bis sehr gute Grundschul-Leistungen vorweisen: Auch dann wechselt nur jedes zweite Arbeiterkind auf ein Gymnasium - in den oberen Schichten liegt dieser Wert bei 84 Prozent.


Warum nur verzichten so viele Arbeiterkinder auf ein Studium? Diese Frage ist zwar nicht neu - sie ist aber in den vergangenen Jahren im gleichen Maße drängender geworden als Demografen vor immer knapperen Bildungsreserven warnen. Der Schweizer Soziologe Rolf Becker sucht seit vielen Jahren schon nach Antworten und nach Lösungsvorschlägen. Jetzt liegt eine neue Studie Beckers vor, der dafür rund 7000 sächsische Abiturienten befragt hat und der zu interessanten und in der Fachwelt viel beachteten Ergebnissen kommt.

Rolf Becker belegt mit Hilfe zahlreicher empirischer Daten, dass Arbeiterkinder keineswegs weniger motiviert als Kinder aus höheren Sozialschichten sind und keine grundsätzliche Abneigung gegen "höhere Bildung" an den Tag legen. Auch schätzten sie ihre Chancen durchaus positiv ein, auf Basis eines erfolgreichen Studienabschlusses eine lukrative Beschäftigung finden zu können. Dieser Befund verwirrt auf den ersten Blick. Denn schließlich spricht vieles dafür, dass sich gerade die Arbeiterkinder unter den Gymnasiasten mit ihrem Ehrgeiz und schulischem Erfolg ausreichend von ihrer häuslichen Bildungsherkunft "distanziert" haben und dadurch nahezu zwangsläufig in den Sog der Hochschullandschaft geraten. Zumal sie sich möglicherweise unter besonderen Mühen bis zum Abitur vorgekämpft haben und deswegen unter keinen Umständen auf den Segen eines Studiums verzichten wollen - oder?

Rolf Becker stellt die These auf, dass die Entscheidung gegen ein Hochschul-Studium meist weniger in der sozialen Herkunft der Kinder, sondern vor allem in den "Restriktionen und Opportunitäten des Bildungssystems" begründet sind. Entscheidend sind seiner Meinung die vielen Schwellen, Hindernisse und Übergänge in den Schulsystemen der 16 Bundesländer: Die meisten potenziellen Studenten aus Arbeiterfamilien gingen verloren, wenn sich die Familien und Kinder beispielsweise für ihren Weg in die Sekundarstufe I oder Sekundarstufe II entscheiden müssten. Diese Form der "Selektion" gelte es auszuschalten.

Parallel dazu müsse man die Möglichkeiten verbessern, frühere Bildungsentscheidungen zu korrigieren - nur so ließe sich "die Ablenkung der Arbeiterkindern vom Weg zu den Hochschulen deutlich reduzieren". Zudem gelte es, die Möglichkeiten zu verbessern, eine Studienberechtigung nachträglich zu erwerben und die Durchlässigkeit beim Hochschulzugang zu erhöhen. Pro Jahrgang, rechnet Rolf Becker vor, würde sich so die Studienbeteiligung der Arbeiterkinder mehr als verdoppeln. "So gesehen", folgert der Forscher, "stellt sich bei der sozialen Öffnung der Hochschulen die Schulstrukturfrage in Deutschland durchaus von Neuem."

Dafür plädiert auch Wolfgang Böttcher. Die Erfahrungen aus anderen Staaten und aus empirischen Forschungen zeigten, dass Bildungschancen "deutlich verbessert werden können" - wenn man es denn wolle. "Keine Chance dem Pessimismus!", fordert der Münsteraner. Deutschland müsse sich zu einem radikalen Schulsystem-Wechsel durchringen.

Und was ist von dem Argument zu halten, dass es in erster Linie die Studien-Kosten sind, die die Kinder aus bescheidenen Verhältnissen von den Universitäten fernhalten? Rolf Becker widerspricht. Zwar schätzten rund 43 Prozent der Abiturienten aus der Arbeiterschicht die Studienkosten als hoch oder sehr hoch ein, während auf Seiten der Schulabgänger aus höheren Sozialschichten nur ein Drittel diese Einschätzung teilen. Die Sorgen vor möglicherweise unkalkulierbaren finanziellen Risiken sind also vorhanden. Was würde passieren, wenn man die "unmittelbar zu erwartenden Kosten für ein Hochschulstudium neutralisieren" würde?

Rolf Becker legt die Antworten der Arbeiter-, Mittel- und Oberschicht - geringer, mittlerer, hoher Kostendruck - zu Grunde, setzt diese Antworten in Relation zum jeweiligen Bevölkerungsanteil und rechnet wie folgt: "In diesem Fall entscheiden sich: 22 Prozent x 0,549+22,6 Prozent x 0,671+22,7 Prozent x 0,588+21,8 Prozent x 0,544+10,9 Prozent x 0.392=56,7 Prozent der studienberechtigten Arbeiterkinder dafür, zu studieren." Das Ergebnis liegt bei 56,7 Prozent: Man würde somit im Vergleich zum Ist-Zustand eine Steigerung des Universitätszugangs von bildungsfernen Gruppen von anderthalb Prozentpunkten erreichen. Was seine Einschätzung bestärkt: Der unmittelbare Kostendruck entfalte nur eine "geringe Wirkung", die entscheidenden "Verluste" ereignen sich viel früher.


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Quelle:
wissen leben - Die Zeitung der WWU Münster, Nr. 4, 7. Juli 2010, S. 4
Herausgeberin:
Die Rektorin der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
Redaktion: Brigitte Nussbaum (verantw.)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. August 2010