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HOCHSCHULE/1911: Expansion der Hochschulbildung - Bedrohung oder Chance? (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2014 - Nr. 107

Expansion der Hochschulbildung: Bedrohung oder Chance?

Von Christian Kerst und Andrä Wolter



Immer mehr junge Menschen drängen an die Hochschulen, das Studium ist bei vielen beliebter als eine berufliche Ausbildung. Was sind die Gründe dafür und welche Folgen ergeben sich daraus? Warum haftet dem facettenreichen Begriff der "Akademisierung" häufig etwas Negatives an?


In den letzten Jahren hat sich in Deutschland ein tiefgreifender Wandel in der Bildungsbeteiligung vollzogen. Dies fand seinen Ausdruck unter anderem darin, dass im Jahr 2013 die Zahl der Studienanfängerinnen und -anfänger erstmalig - wenn auch nur geringfügig - höher lag als die der Neuzugänge zur betrieblichen Berufsausbildung. Bereits seit den 1960er-Jahren zeichnet sich eine langsame Annäherung in der Bildungsnachfrage zwischen beiden Ausbildungssektoren ab, die inzwischen statistisch mehr oder weniger gleichgewichtig nebeneinander stehen. Auch wenn in den nächsten Jahren hier möglicherweise wieder eine "Entspannung" eintritt, etwa dadurch, dass einige Faktoren wegfallen, die in den letzten Jahren die Studienaufnahme begünstigten (wie zum Beispiel die doppelten Abiturientenjahrgänge oder das Aussetzen der Wehrpflicht), ist doch langfristig damit zu rechnen, dass die Hochschule auf dem Wege ist, sich neben oder sogar vor der betrieblichen Berufsausbildung als wichtigster Ausbildungsort zu etablieren. Diese Entwicklung ruft eine Reihe von Fragen hervor - nach den strukturellen Ursachen dieses Wandels ebenso wie nach den möglichen Folgen für Arbeitsmarkt und Beschäftigung, aber auch für die betroffenen Institutionen, insbesondere die Hochschulen.

Verschiedene Faktoren tragen zur Erhöhung der Studiennachfrage bei. Der wichtigste ist die steigende Zahl von Schülerinnen und Schülern in Bildungseinrichtungen, die zu einer Studienberechtigung führen, vorrangig auf den Gymnasien. Immer mehr Absolventinnen und Absolventen allgemeinbildender aber auch beruflicher Schulen - inzwischen mehr als die Hälfte eines Altersjahrgangs - erwerben die allgemeine Hochschulreife oder die Fachhochschulreife. Diese Entwicklung hat, selbst wenn man den Effekt der doppelten Abiturjahrgänge berücksichtigt, im Jahr 2013 zu einem Anstieg der Studienberechtigtenquote auf deutlich mehr als 50 Prozent geführt. Der Anstieg der Studienberechtigtenquote spiegelt eine latente gesellschaftliche Grundströmung wider: Immer mehr Jugendliche beziehungsweise ihre Eltern sehen im Abitur (oder den anderen Schulabschlüssen, die zur Hochschulreife führen) die beste Ausgangsposition, um im Bildungswettbewerb bestehen zu können, der an den Übergangsstellen zur Berufsausbildung und Hochschule oder später zum Arbeitsmarkt und Beschäftigungssystem schärfer geworden ist. Bildungsökonomisch gesprochen: Die Erwartung höherer Bildungserträge durch Abitur und Studium ist einer der wichtigsten Faktoren für die Dynamik der Bildungsbeteiligung. Die Bildungsexpansion wird vor allem durch die Funktion von Bildung als Kriterium der Positions- und Statuszuweisung vorangetrieben.


Immer mehr Ausländerinnen und Ausländer studieren in Deutschland

Die tatsächlich realisierte Studiennachfrage, die an der Anzahl der Studienanfängerinnen und -anfänger abgelesen werden kann, wird vor allem durch die Übergangsquote zur Hochschule bestimmt; denn nicht alle Studienberechtigten beginnen ein Studium. Die Übergangsquote schwankt seit dem Jahr 2000 um die 70 Prozent und ist in den letzten Jahren leicht angestiegen. Ein weiterer längerfristiger Trend ist die hohe Nachfrage ausländischer Studierender nach Studienplätzen in Deutschland. Beinahe jede sechste Studienanfängerin oder jeder sechste Studienanfänger kommt aus dem Ausland zum Studium nach Deutschland. Rechnet man die ausländischen Studienanfängerinnen und -anfänger heraus, ergibt sich eine seit 2000 von 28,4 auf 45,9 Prozent gestiegene Studienanfängerquote für das Jahr 2012; insgesamt liegt sie sogar bei 58 Prozent. Mit dieser dynamischen Entwicklung hat die berufliche Ausbildung, insbesondere das duale System, in den letzten Jahren nicht mithalten können.

Mit der Studiennachfrage stieg auch die Zahl der Absolventinnen und Absolventen in den letzten zehn Jahren stark an (um etwa 75 Prozent) und liegt nun jährlich bei über 300.000 Personen mit einem ersten Studienabschluss (siehe Abbildung 1[]*). Aufgrund der hohen Übergangsquoten in das Masterstudium (etwa drei Viertel an Universitäten und 30 bis 50 Prozent an Fachhochschulen) wechselt aber nur ein Teil der Absolventinnen und Absolventen direkt nach dem Abschluss eines Bachelor-Studiums in den Beruf.

Dieser Wandel in der Bildungsbeteiligung - eine "Verlagerung von der beruflichen Ausbildung zur höheren Bildung" (Baethge/Wolter 2014) - wirft mehrere Fragen auf, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht eindeutig beantwortet werden können. Eine erste naheliegende Frage, auf die aber hier nicht weiter eingegangen werden soll, ist die nach den Konsequenzen der anhaltenden Expansion für das Hochschulsystem, zum Beispiel für die Auslastung der Hochschulkapazitäten oder die Lehr- und Studienqualität.

Die Expansion der Universitäten und (Fach-)Hochschulen wird in Deutschland bereits seit ihren Anfängen in den 1960er-Jahren von pessimistischen Prognosen zur Entwicklung der Akademikerbeschäftigung begleitet - die bislang jedoch nie eingetroffen sind. Vielmehr deuten Beschäftigungsindikatoren wie die qualifikationsspezifische Arbeitslosigkeit oder die Adäquanz von erworbener Qualifikation und ausgeübter Beschäftigung darauf hin, dass Arbeitsmarkt und Beschäftigungssystem in der Vergangenheit die Hochschulexpansion relativ reibungslos oder sogar produktiv absorbiert haben. Nach der Bologna-Reform könnte sich das jedoch zum Teil ändern, da derzeit unklar ist, welche beruflichen Chancen mit einem Bachelorabschluss bestehen.

Auch gegenwärtig wird immer wieder die Warnung vor "zu vielen Studierenden" laut. Abbildung 2[*] verdeutlicht, dass die Studienanfängerzahl seit 2000 um 60 Prozent gestiegen ist; an den Fachhochschulen hat sie sich mehr als verdoppelt. Die kritische Frage ist, ob ein Anwachsen der Studienanfängerquote auf mehr als 50 Prozent und der Absolventenquote auf bald 35 bis 40 Prozent eines Altersjahrgangs eine neue Entwicklungsstufe und Herausforderung für Arbeitsmarkt und Beschäftigung darstellt. Als eher kritisch verstandene Bezeichnung ist angesichts dieser Entwicklung in der letzten Zeit der Begriff "Akademisierung" der Berufs- und Arbeitswelt geprägt worden.


"Akademisierung" ist ein unscharfer Begriff mit verschiedenen Bedeutungen

Dieser Begriff ist jedoch sehr unscharf, weil darunter ganz unterschiedliche, nur teilweise miteinander verbundene Entwicklungen verstanden werden. "Akademisierung" kann erstens die Anhebung der Ausbildungsvoraussetzungen in bislang zumeist im Schulberufssystem qualifizierten Berufen - zum Beispiel im Erziehungs-, Gesundheits- und Pflegebereich - auf (Fach-) Hochschulniveau bedeuten, eine Entwicklung, die mit einer steigenden Bildungsbeteiligung im Hochschulbereich kompatibel wäre. "Akademisierung" kann zweitens aber auch die Verdrängung von Fachkräften im mittleren Qualifikations- und Beschäftigungssektor als Folge eines steigenden Angebots an Arbeitskräften mit Hochschulabschluss heißen. Der Ausbau dualer Studiengänge kann dabei verstärkend wirken. Drittens kann "Akademisierung" den häufigeren Übergang von Bachelorabsolventinnen und -absolventen in Tätigkeitsfelder meinen, die traditionell nicht von Personen mit Hochschulabschluss wahrgenommen werden. Dieser Prozess wäre weniger herbeigeführt durch das Angebot an Absolventinnen und Absolventen, sondern vielmehr eine Art Dequalifizierung des neuen Bachelorabschlusses. Viertens kann sich "Akademisierung" auf die in den letzten Jahren erfolgte stärkere Öffnung der Hochschulen für qualifizierte Berufstätige ohne herkömmliche schulische Studienberechtigung beziehen (sogenannte nicht-traditionelle Studierende). Diese Maßnahme hatte bislang aber eher bescheidene quantitative Effekte (Dahm u.a. 2013). Und fünftens schließlich kann mit "Akademisierung" auch die hier thematisierte Umschichtung in der Bildungsbeteiligung gemeint sein. Oft wird der Begriff "Akademisierung" eher mit einem polemischen Unterton verwendet (zum Beispiel als "Akademisierungswahn").

Im Wesentlichen wird die Akademisierung von der Expansion des Hochschulbesuchs getragen, ist also primär nachfrageinduziert. Bisher trugen die in der Vergangenheit mehrheitlich sehr guten Berufsaussichten, die ein Hochschulabschluss verspricht, verstärkt durch eine entsprechende Berichterstattung in den Medien, zu der gestiegenen Attraktivität des Studiums bei. Neben einem geringen Risiko der Arbeitslosigkeit sind es die Aussichten auf gute Entlohnung, berufliche Karriere und interessante berufliche Positionen und Aufgaben, die Studienberechtigte mit der Entscheidung für ein Studium verbinden. Offensichtlich hat der Arbeitsmarkt bislang akademische Bildungsbestrebungen eindeutig belohnt und dadurch verstärkt, auch wenn diese Vorteile zwischen den Studienfächern erheblich variierten. Nicht absehbar ist derzeit, ob die tendenziell ungünstigeren Aussichten mit einem Bachelorabschluss ohne anschließenden Master zu einer Reorientierung auf die berufliche Ausbildung führen.


DIE AUTOREN

Dr. Christian Kerst ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) in Hannover und dort unter anderem in der Bildungsberichterstattung tätig.
Kontakt: kerst@dzhw.eu

Prof. Dr. Andrä Wolter lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin mit den Schwerpunkten Hochschulforschung, Bildungsmonitoring und Lebenslanges Lernen. Er ist für das Deutsche Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) Mitglied der Autorengruppe Bildungsberichterstattung.
Kontakt: andrae.wolter@hu-berlin.de


LITERATUR

BAETHGE, MARTIN/WOLTER ANDRÄ (2014): The German skill formation model in transition: From dual system of VET to higher education? (erscheint im Journal for Labour Market Research)

DAHM, GUNTHER/KAMM, CAROLINE/KERST, CHRISTIAN/OTTO, ALEXANDER/ WOLTER, ANDRÄ (2013): "Stille Revolution?" Der Hochschulzugang für nicht-traditionelle Studierende im Umbruch. In: DDS - Die Deutsche Schule, 105. Jg., Heft 4, S. 382-401


[*] DJI Impulse 3/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse
Dort finden Sie auch im Schattenblick nicht veröffentlichte Tabellen und Graphiken der Printausgabe unter
http://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bulletin/d_bull_d/bull107_d/DJI_3_14_WEB.pdf

*

Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 3/2014
- Nr. 107, S. 19-21
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
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DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos bestellt und auf Wunsch auch abonniert
werden unter vontz@dji.de.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2014