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WESTSAHARA/030: Stellungnahme zum marokkanischen Bericht über "zwangsweise Verschwundene" (AFAPREDESA)


Association of the Families of Saharawi Prisoners and Disappeared
Vereinigung der Familien saharauischer Flüchtlinge und Verschwundener

Pressemitteilung - 18. Januar 2011

Marokko erkennt Verbrechen gegen die Menschlichkeit an, die am saharauischen Volk begangen wurden


Der Königliche Konsultativrat für Menschenrechte (CCHR) in Marokko veröffentlichte Ende Dezember 2010 einen Bericht über die Empfehlungen des Komitees für Gerechtigkeit und Versöhnung, in dessen Anhang: "Fälle zwangsweisen Verschwindenlassens" er anerkennt, daß über 350 Saharauis - darunter den Angaben zufolge 144 Menschen in militärischen Auseinandersetzungen, ohne daß näher auf ihre Identität oder die genauen Umstände ihres Todes eingegangen oder festgehalten wird, ob sie entführt oder hingerichtet wurden - gestorben sind (115 Menschen in unterschiedlichen Militärbasen, darunter 14 Kinder im Alter von 3 Monaten bis 15 Jahre, 43 Menschen in den geheimen Haftzentren von "Agdez" und von "Kalaat Magouna", 23 Menschen in Al-Aaiun. In all diesen Fällen starben sie infolge der Behandlung und der Haft unter extremen Leidensbedingungen. 13 Menschen wurden von einem Militärgericht hingerichtet, abgesehen von weiteren, die in verschiedenen Gefängnissen starben ...). Der Bericht bestätigt, daß die Urheber dieser Verbrechen unterschiedlichen marokkanischen Militäreinheiten, insbesondere der Armee, Gendarmerie und der Hilfstruppen angehörten.

Diese Anerkennung kommt von der offiziellen Institution einer Regierung, die sich sehr bemüht hat, die Fakten über den von den marokkanischen Besatzungskräften vom ersten Tag der Besatzung an begangenen Genozid geheimzuhalten. Die im Bericht beschriebenen Verbrechen (Auszüge, die saharauische Fälle betreffen siehe weiter unten) können nur als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", wie das internationale Recht sie definiert, eingestuft werden - insbesondere seit den nach den Nürnberger Prozessen festgelegten Standards bis zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag.

Bei einem ersten Durchgehen des Berichts ist zu sehen, wie wenig Platz jedem einzelnen Fall zugestanden wurde, als da wäre:

• Die bewußte Geheimhaltung der Identität von 114 Todesfällen in Kampfhandlungen - anerkannt wird jedoch, daß man die Leichen hat.

• In den meisten Fällen sind die Angaben über Identität, Haftort oder Zeitpunkt der Verhaftung unvollständig.

• Geheimhaltung der angeblichen Begräbnisstätten, abgesehen in dem Fall von 27 Saharauis, die laut Bericht in "Agdez" begraben wurden, 16 in "Kalaat Magouna", und einen Fall gab es im Haftzentrum "Karama", ohne weitere Angaben darüber zu machen, ob die sterblichen Überreste exhumiert und sachgemäß identifiziert wurden. Bis zum heutigen Tag wurden die Leichen dieser Opfer nicht an die Familien überstellt.

• Auf der Liste über die Erwachsenen befanden sich mindestens 7 Kinder, die durch die extremen Haftbedingungen umgebracht wurden.

• Geheimhaltung von Informationen über die Entführungsumstände im Fall von 640 Saharauis, die dem Bericht zufolge Opfer gewaltsamen "Verschwindenlassens" waren.

• Wahrung vollständigen Schweigens über die für Folter und andere grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung verschwundener Saharauis während ihrer Haft Verantwortlichen, die den Tod von Hunderten nach sich zog.

• Die Familien der Opfer, die noch immer keinen Zugang zur ganzen Wahrheit über ihre vermißten Verwandten haben, werden nur widerstrebend in Stand gesetzt. Weder gibt es Einzelheiten über deren Leiden, noch über den Platz, an dem sie begraben liegen, noch eine offizielle Anerkennung der Tatsachen und der Würde der Opfer. Es gibt keine moralische Wiedergutmachung und Gerechtigkeit, wie sie das humanitäre Völkerrecht und die Internationale Konvention der Vereinten Nationen gegen zwangsweises Verschwindenlassen und das Recht auf Entschädigung fordern.

Darüber hinaus erkennt Marokko nur einen Teil der saharauischen Opfer zwangsweisen Verschwindenlassens an (Agdez-Gruppe und Kalaat Maguna sowie die Opfer, die an unterschiedlichen Orten, hauptsächlich in Militärbasen, starben) und schließt bewußt Tausende andere Opfer aus, wie die gewaltsam Verschleppten und ins Exil Getriebenen, Tausende Überlebende von willkürlicher Internierung und Verschwindenlassen sowie den Rest der noch immer als vermißt Gemeldeten, von denen es keine Nachricht gibt (so gibt es viele Gruppen von Verschwundenen in Al-Aaiun, Smara, Dakhla, Bojador, Tan Tan, Zak, Goulimine, die Meknes-Gruppe, Nomaden, Einzelfälle...).

Die ganzen 35 Jahre lang hat die marokkanische Regierung diese Informationen geheimgehalten - und erklärt nun Berichten zufolge, 13 saharauische Zivilisten seien am 19. Oktober 1976 von einem Gericht zum Tode verurteilt worden - und die Sorge und den Schmerz der Angehörigen der saharauischen Opfer des Verschwindenlassens verlängert. 1999 gab die marokkanische Regierung sogar vor, die Vermißten lebten in den saharauischen Flüchtlingslagern oder in Nachbarländern, hauptsächlich Spanien und Mauretanien. (Antwort, die der Persönliche Beauftragte von Kofi Anan für Westsahara bezüglich der ihm von den Saharauis übergebenen Opferliste erhielt). Statt Wunden zu heilen, eröffnet das Eingeständnis Marokkos den Fall der Opfer gewaltsamen Verschwindenlassen von neuem, den Marokko so widersinnig zu schließen suchte, und erhält die Straflosigkeit für die Täter der Verbrechen gegen die Menschlichkeit am saharauischen Volk aufrecht.

Die Enthüllungen des Königlichen Rats für Menschenrechte sind tatsächlich der Beweis dafür, daß

1. der marokkanische Staat für das Verschwinden hunderter Saharauis verantwortlich und demzufolge zur Rechenschaft zu ziehen ist für Verstöße gegen das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche, geistige und seelische Unversehrtheit sowie das Recht auf die persönliche Freiheit, das Recht auf Wahrheit und Trauer, das Recht, weder Folter noch eine andere grausame, erniedrigende und unmenschliche Behandlung zu erfahren - all dies sind Rechte, die durch die internationalen Menschenrechtskonventionen und sogar durch marokkanisches Recht geschützt sind.

2. der marokkanische Staat das Recht der Opfer und ihrer Familien auf ein faires Verfahren verletzt hat, insbesondere das Recht auf eine gerichtliche Anhörung in angemessener Frist nach der Verhaftung, wie es sowohl in den internationalen Verträgen als auch in der marokkanischen Gesetzgebung selbst festgelegt ist.

3. der marokkanische Staat seiner Verpflichtung nicht nachgekommen ist, sicherzustellen und zu garantieren, daß die saharauischen Bürger ihre Rechte und ihre grundlegenden Freiheiten in Anspruch nehmen können, so wie es die international anerkannten Menschenrechte garantieren.

4. der marokkanische Staat zudem seiner Verpflichtung als Besatzungsmacht nicht nachgekommen ist, wie sie in den Genfer Konventionen unterstrichen wird, insbesondere, was den Schutz der Zivilisten und die humane Behandlung von Kriegsgefangenen angeht.

Demzufolge sollte der marokkanische Staat:

1. die Überlebenden und die Familien der Opfer zwangsweisen Verschwindenlassens in Gänze für den gravierenden materiellen und geistigen Schaden, der ihnen zugefügt wurde, entschädigen.

Aus dem Grund ist es für die marokkanische Regierung erforderlich,

i. eine gründliche, unverzügliche und unparteiische Untersuchung der mit dem zwangsweisen Verschwindenlassen und anderen schweren Verstößen gegen die saharauischen Bürger verbundenen Tatsachen durchzuführen und insbesondere den Verbleib aller vermißten Saharauis bekanntzugeben sowie die Personen zur Rechenschaft zu ziehen, die direkt oder indirekt an den Verstößen beteiligt sind, indem man die angemessenen gesetzlichen Sanktionen über sie verhängt. Diese Untersuchung kann ohne die Beteiligung sowohl saharauischer als auch marokkanischer und internationaler Menschenrechtsorganisationen nicht glaubwürdig sein.

ii. Bericht zu erstatten über die Umstände der willkürlichen Internierung und Entführung aller Opfer gewaltsamen Verschwindenlassens sowie über das Schicksal der Opfer, ihre Gräber offenzulegen sowie die Leichen an die Familien zu übergeben, um ihre ordentliche Bestattung zu ermöglichen.

iii. angemessenen Schadenersatz zur Kompensation des von den Familien und den Opfern erlittenen materiellen und geistigen Schadens zu leisten. Und die Verantwortung des Staates für die Verbrechen anzuerkennen und alle erforderlichen Garantien zu installieren, die eine Wiederholung dieser Verstöße verhindern, wie es die Entschädigung nach internationalem Recht, humanitärem Völkerrecht und nach den Prinzipien des Rechts auf Schadenersatz fordert.

iv. dem saharauischen Volk ohne weitere Verzögerungen durch die Abhaltung eines entsprechenden Referendums die Selbstbestimmung als Weg zu ermöglichen, das Phänomen des Verschwindenlassens und der schweren Menschenrechtsverletzungen infolge der anhaltenden Besatzung und der Straflosigkeit, der sich die für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit - die in Westsahara seit dem 31. Oktober 1975, dem Jahr der marokkanischen Invasion in das Territorium, fortwährend begangen werden - verantwortlichen Personen erfreuen, zu beenden. Die UNO, die im Falle der Menschenrechte - hauptsächlich in nicht-selbstregierten Territorien mit schwebendem Entkolonialisierungsprozeß - für die Einhaltung der internationalen Standards verantwortlich ist, hat die Verpflichtung, auf der Basis der offiziellen marokkanischen Anerkennung dieser Verbrechen die nötigen Maßnahmen zu treffen und Marokko nachdrücklich aufzufordern, das Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung für die Opfer gewaltsamen Verschwindenlassens und anderer in Westsahara begangener Verbrechen gegen die Menschlichkeit, zu garantieren.

Angesichts der schweren Verbrechen, die dieser Bericht enthüllt, und der Verbrechen, die nach wie vor gegen eine Zivilbevölkerung begangen werden, die man einer "Kollektivbestrafung aussetzt, die einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit entspricht", muß der Internationale Strafgerichtshof die Situation dahingehend untersuchen, die Verantwortlichkeit der marokkanischen Offiziellen aus dem Militär- und Zivilbereich, die für diese Verbrechen und Verstöße gegen internationales Recht verantwortlich sind, zu ermitteln und festzuhalten.

Saharauische Flüchtlingslager, 18. Januar 2011.

Abdeslam Omar Lahsen
AFAPREDESA-Präsident


Anmerkungen der Schattenblick-Redaktion:

Der Bericht des marokkanischen Königlichen Konsultativrats für Menschenrechte befaßt sich mit Menschenrechtsverletzungen gegenüber Marokkanern wie Saharauis, speziell den Opfern "zwangsweisen Verschwindenlassens". Die hier von uns dokumentierte Stellungnahme der Vereinigung der Familien saharauischer Flüchtlinge und Verschwundener bezieht sich allein auf die Einlassungen zu den Verbrechen gegen das saharauische Volk, was nicht als Mißachtung der marokkanischen Opfer staatlicher Gewalt gewertet werden soll. Insgesamt präsentiert der Bericht des marokkanischen staatlichen Gremiums

'die Namen und das Schicksal von 938 Personen, Marokkaner und Saharauis, die Opfer gewaltsamen Verschwindenlassens wurden. Bei 613 von diesen 938 handelt es sich um Saharauis. 640 dieser 938 Opfer, Marokkaner wie Saharauis, wurden von der marokkanischen Armee und Sicherheitskräften getötet. Bei 352 von ihnen handelt es sich um Saharauis, darunter mehr als 20 Kinder unter 14 Jahre alt, einige Dutzend Frauen sowie alte Menschen über 65 Jahre alt.'
(Quelle: http://saharaoccidental.blogspot.com/)

Link zum englischen Originaltext der Pressemitteilung:
http://www.arso.org/afapredesa180111.html

Link zur inoffiziellen Übersetzung des das saharauische Volk betreffenden Teils des Berichts aus dem Arabischen
http://www.arso.org/Report_on_Human_Rights_violations_in_Morocco.pdf


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Quelle:
AFAPREDESA-Pressemitteilung, 18.01.2011
Association of the Families of Saharawi Prisoners and Disappeared
(Vereinigung der Familien saharauischer Flüchtlinge und Verschwundener)
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Januar 2011