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HUNGER/198: Der Weltagrarbericht zum Wahnsinn von Hunger und Überproduktion (UBS)


Unabhängige Bauernstimme, Nr. 318 - Januar 2009
Die Zeitung von Bäuerinnen und Bauern

Mut zur Wahrheit!
Der Weltagrarbericht zum Wahnsinn von Hunger und Überproduktion

Von Benny Haerlin, Zukunftsstiftung Landwirtschaft


Noch nie haben so viele Menschen auf dieser Erde gehungert wie heute. Die neueste Schätzung der Welternährungsorganisation FAO spricht von 963 Millionen Menschen, über ein Siebtel der Weltbevölkerung, die nicht genug zu essen haben, um ein gesundes und aktives Leben zu führen. Sie vegetieren und sterben in einer Welt der Überproduktion und Verschwendung. Ein anderes Siebtel der Menschheit leidet unter krankhaftem Übergewicht durch Fehlernährung. Produktion, Verarbeitung, Transport und Verteilung von Lebensmitteln ist für mehr als ein Drittel unserer Klimagas-Emissionen verantwortlich. Rund 30 Prozent dieser Lebensmittel werfen wir in Europa einfach weg, in den USA sollen es gar 50 Prozent sein. An einem Ausstieg aus diesem Wahnsinn führt kein Weg vorbei. Der Weltagrarbericht der UNO und Weltbank, der dieser Tage offiziell erscheint, weist Wege aus diesem Wahnsinn. Doch wer will sie hören?

Im Frühjahr 2008 gingen Hunderttausende in den Städten des Südens auf die Straße, die es gerade geschafft hatten, einen kleinen Schritt aus dem Teufelskreis von Hunger, Armut und Auswegslosigkeit heraus zu tun. Sie gingen auf die Barrikaden, weil eine Explosion der Lebensmittelpreise sie wieder ins Elend zurückstieß. Die große Mehrheit (über 70 Prozent) der Hungernden allerdings lebt auf dem Lande, fernab der Kameras und zu schwach, um ihren Protest in die Zentren der Macht zu tragen. Wir hören von ihnen nur, dass ihre Zahl allein in den letzten zwei Jahren um etwa 100 Millionen zugenommen hat.

Erschrocken sahen wir, wie der Wahn vom Agrarsprit und die darauf aufsetzende Börsenspekulation mit Rohstoffen, die wir bisher für Lebensmittel hielten, den Preis für Weizen, Reis und Mais in wenigen Monaten auf das Doppelte, ja Dreifache steigen ließ. Der Preis des Öls erreichte Rekordmarken und mit ihm der Preis von Dünger und Pestiziden. Die Preise sind seither zwar gefallen, die Weltagrar-Produktion steigt nach Schätzung der FAO im kommenden Jahr um 5 Prozent. Dennoch sagt sie einen weiteren Anstieg des Hungers voraus.

Für kurze Zeit ging damals ein Alarmruf durch die Medien, den über 400 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt im Auftrag der UNO und der Weltbank verfaßt hatten, der sogenannte Weltagrarbericht (IAASTD). "Business as usual is not an option!" - Weiter so wie bisher geht nicht, war ihre einfache Botschaft. Wir müssen unsere Klima-Emissionen reduzieren, uns der bereits unvermeidlichen Erwärmung anpassen, unsere bedrohten Ressourcen an lebendiger Vielfalt, Wasser und Boden erhalten; auch wenn wir im Jahre 2050 9 Milliarden Erdenbürger sein werden. Das geht nur, wenn jetzt eine radikale Wende unserer Agrar-, Handels-, Entwicklungs- und Forschungspolitik beginnt und wir zudem unsere ebenso ungesunden wie verwahrlosten Ernährungsgewohnheiten ändern.

Sechzig Regierungen hatten den Bericht im April in Johannesburg verabschiedet. Ein Hoffnungsschimmer der Vernunft? Schon beim Ernährungs-Krisengipfel der FAO im Juni kamen daran Zweifel auf. Ein wenig mehr akute Hungerhilfe, generelle Apelle, um den Dissens zum Agrarsprit zu verdecken und ansonsten der Ruf nach mehr von dem, was bisher nichts gefruchtet hat: Dünger, Pestizide, Industrialisierung der Landwirtschaft, Weltmarkt, Bauernsterben.

Die einfache Wahrheit, dass es nicht darauf ankommt, mehr zu produzieren, sondern gesunde Lebensmittel zu lokal erschwinglichen und gesellschaftlich wie ökologisch vertretbaren Preisen da herzustellen, wo sie gebraucht werden, scheint den Herren über Hunger und Weltmarkt bis heute ein Gräuel. Bis Effizienz als Maßstab der Nachhaltigkeit, Gesundheit als Ziel der Ernährung und Gerechtigkeit als Grundlage des Geschäftes mit dem Essen tatsächlich anerkannt werden ist es noch immer ein langer Weg.

Solange werden wissenschaftliche Wunder-Versprechen von dürre- und flutresistenten Gentechnik-Pflanzen (konventionell gezüchtete Sorten gibt es übrigens schon lange), das Alchimisten-Latein von einer "neuen Grünen Revolution" und andere Märchen von der wunderbaren Lösung aller Probleme durch unbegrenztes Wachstum mit neuester Technologie weiter den Blick darauf verstellen, was wirklich Not tut.

Dann platzte die Zocker-Blase an der Wall-Street. Milliarden wurden über Nacht für sogenannte Schutzschirme aus öffentlichen Mitteln aufgebracht. Jetzt bricht der Auto- und Chemiemarkt zusammen - was zählen da noch Hungernde in fernen Ländern?

Dieser Tage wurde der Weltagrarbericht endlich veröffentlicht. Um seine Botschaften ist es still geworden. Die Bundesregierung, die sich an der Erstellung des Berichtes nicht beteiligte, erwägt nicht einmal, ihn im Nachhinein zu unterschreiben.

Er habe sich die Mühe gemacht, "die ganzen 5.000 Seiten" des Berichtes durchzulesen, sagte mir unlängst ein Vertreter des Entwicklungsministeriums, und müsse doch sagen, dass da nicht viel Neues drin stehe. "Das ist doch seit Jahren Grundlage unserer Politik!" Auch wenn der Bericht nur 2.000 Seiten lang ist: Das Bekenntnis zu nationaler und regionaler Ernährungs-Souveränität, der Verzicht auf schädliche Subventionen in WTO Verhandlungen, Konzepte partizipativer Entwicklung, ein Umdenken der Forschung und Entwicklung auf agro-ökologische Anbaumethoden, harte Konfrontation mit korrupten und menschenverachtenden Regimen, aktive Konsequenzen für unsere eigene Land- und Lebensmittelwirtschaft und die Wahrnehmung der Landwirtschaft als multifunktionales Dienstleistungsunternehmen - all das könnte getrost noch etwas mehr zur Grundlage unserer Politik werden, um es höflich auszudrücken.

Sehen wir also nach vorn. Die Wende ist unvermeidlich. Je früher wir damit beginnen, desto weniger Menschen müssen bis dahin hungern, desto besser sind die Chancen künftiger Generationen und desto eher können wir ihre Frucht ernten - sie werden uns besser schmecken als das reale und das politische Junk-Food von heute.


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Die Kernaussagen des Weltagrarberichts

Es bedarf eines radikalen und systematischen Wandels in der landwirtschaftlichen Forschung, Entwicklung und Praxis, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein.

Nicht die Steigerung der Produktivität um jeden Preis, sondern der realen Verfügbarkeit von Lebensmitteln und deren Produktionsmitteln vor Ort ist der entscheidende Faktor bei der Bekämpfung des Hungers. Kleinbäuerliche Strukturen sind die besten Garanten lokaler Ernährungssicherheit und nationaler und regionaler Ernahrungssouveränität.

Ihre Multifunktionalität (ökologische und soziale Leistungen) gilt es anzuerkennen und gezielt zu fördern.

Agrarsprit ist keine tragbare Option - effizientere, integrierte und dezentrale Formen der Bio-Energiegewinnung (Strom und Wärme) dagegen sehr wohl. Die Umwidmung von Anbauflächen für Lebensmittel in Treibstoffflächen ist nicht vertretbar.

Die ärmsten Länder und die Ärmsten auf dem Lande sind die Verlierer von Globalisierung und Liberalisierung des Agrarhandels. Gentechnik bringt derzeit mehr Probleme als Lösungen und beeinflusst die Ausrichtung des Forschungsinteresses auf patentierbare Produkte.

Geistige Eigentumsrechte und -ansprüche, insbesondere in Bezug auf Saatgut, können die Freiheit der Forschung und die Verbreitung von Wissen maßgeblich negativ beeinflussen.

Öffentliche Forschung und Entwicklung müssen gestärkt und aus ihrem akademischen Elfenbeinturm geholt werden. Es gilt, die Fragen der Landwirte zu beantworten und diese an den Entwicklungen zu beteiligen.

Der ökologische und ökonomische Imperativ, Klimagasemissionen pro Kalorie zu reduzieren, bedarf technologischer Revolutionen und drastischer Einschnitte.


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Quelle:
Unabhängige Bauernstimme, Nr. 318 - Januar 2009, S. 3
Herausgeber: Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft - Bauernblatt e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Februar 2009