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HUNGER/335: Indien - Subventionierte Lebensmittel für die Armen verschwinden in dunklen Kanälen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 3. Juli 2015

Indien: Subventionierte Lebensmittel für die Armen verschwinden in dunklen Kanälen

von Neeta Lal


Bild: © Neeta Lal/IPS

Das staatliche Lebensmittelverteilungssystem Indiens wird durch Korruption unterminiert
Bild: © Neeta Lal/IPS

NEU-DELHI (IPS) - Als Tagelöhner auf einer Baustelle in Noida im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh schuftet Chottey Lal täglich in Zwölf-Stunden-Schichten. Dennoch kann der 43-Jährige mit seinem Verdienst seine siebenköpfige Familie kaum ernähren. Zwar stellt die Regierung den Armen im Land subventionierte Lebensmittel zu niedrigen Preisen bereit, doch Lal und seine Frau Subha gehen meist leer aus.

"Wenn wir zu der Verteilstelle an unserem Ort kommen, hören wir, dass es keine Vorräte mehr gibt. Letztlich müssen wir die teureren Nahrungsmittel auf dem Markt kaufen. Jeder hier weiß, dass der Ladenbesitzer das subventionierte Getreide auf dem Schwarzmarkt verkauft. Was können wir Armen dagegen tun? Wir sind zur Polizei gegangen, doch die unternimmt nichts", sagt Lal.

Die beiden Witwen Savirti und Kamla sind in einer noch heikleren Lage. Sie leben bei ihren verheirateten Söhnen, da sie kein Geld für eine Wohnung und ausreichend Nahrung haben. Doch auch die Kinder verfügen nur über ein bescheidenes Einkommen. Da die Getreiderationen, die die Familien vom Staat erhalten, äußerst spärlich sind, müssen die Frauen betteln gehen.

"Zu den Mahlzeiten verlasse ich meistens das Haus. Es zerreißt mir das Herz, mit anzusehen, wie sich so viele Leute ein bisschen Essen teilen müssen", berichtet die 50-jährige Savirti. Auch die 39-jährige Kamla geht betteln in der Hoffnung auf Almosen, um ihren Hunger außerhalb ihres Zuhauses zu stillen.


Subventionierte Grundversorgung praktisch nicht vorhanden

Das Gesetz zur Ernährungssicherung (NFSA) garantiert Millionen Armen in dem Land mit insgesamt rund 1,2 Milliarden Einwohnern eine Versorgung mit Grundnahrungsmitteln wie Reis, Weizen und Zucker sowie Kerosin zum Kochen. Korruption und Ineffizienz des Nahrungsverteilungsprogramms PDS verhindern jedoch, dass diejenigen, die Unterstützung brauchen, ausreichende Mengen an Lebensmitteln in den etwa 60.000 mit dem Programm zusammenarbeitenden Geschäften kaufen können.

Das NFSA sieht vor, dass zwei Drittel der indischen Bevölkerung pro Kopf und Monat 35 Kilo subventioniertes Getreide zum Preis von umgerechnet 0,01 bis 0,04 US-Dollar erhalten. Das im September 2013 verabschiedete Gesetz wird bisher allerdings erst in elf der 25 Bundesstaaten und Unionsterritorien umgesetzt.

Landesweite Untersuchungen haben zudem ergeben, dass Millionen Tonnen für das öffentliche Verteilungssystem (PDS) bestimmtes Getreide auf den Schwarzmarkt landen. Skrupellose Händler erzielen auf diese Weise satte Profite. Mit Unterstützung bestechlicher Staatsbeamter wird ein Teil des Getreides zudem illegal in Nachbarländer wie Nepal, Myanmar, Bangladesch und Singapur exportiert.


Bild: © Neeta Lal/IPS

Unterernährte indische Kinder nahe einer Verteilstation für Nahrungsmittel
Bild: © Neeta Lal/IPS

Eine von den Behörden in Uttar Pradesh durchgeführte Studie kam zu dem Schluss, dass miteinander konkurrierende Behörden, eine schlechte Koordination und mangelnde Überprüfbarkeit der zuständigen Stellen den Verteilungsmechanismus lahmgelegt haben.

Vom Obersten Gerichtshof Indiens veranlasste Untersuchungen ergaben, dass sich 80 Prozent der Korruptionsfälle zutragen, bevor die Lebensmittel die Verteilstationen erreichen. Fast 60 Prozent aller über PDS weitergeleiteten Nahrungsmittel werden demnach vergeudet oder für den Export abgezweigt. "Die Nahrung, die die Armen schließlich erreicht, ist oft nicht mehr genießbar", stellt der Experte Devinder Sharma vom 'Forum for Biotechnology & Food Security' in Neu-Delhi fest.


Weltweit höchster Anteil Unterernährter

Der systematische Missbrauch verheißt für den Subkontinent, auf dem etwa 194,6 Millionen unterernährte Menschen leben, nichts Gutes. Laut dem kürzlich veröffentlichten Jahresbericht der UN-Agrarorganisation FAO ist dies die höchste Rate auf der ganzen Welt. Dem Report zufolge haben in Indien etwa 15 Prozent der Bevölkerung nicht ausreichend zu essen. Das ebenfalls bevölkerungsreiche Land China verzeichnet einen weit niedrigeren Prozentsatz.

"Das Wirtschaftswachstum hat nicht überall zu einem höheren Nahrungskonsum geführt", heißt es zu Indien in dem 2015 veröffentlichten Bericht zum Stand der Ernährungsunsicherheit in der Welt. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO sterben in dem Land jährlich schätzungsweise 1,3 Millionen Kinder an den Folgen von Unterernährung. Der Anteil untergewichtiger Kinder in Indien gehört zu den höchsten weltweit und ist fast doppelt so hoch wie in den Staaten von Subsahara-Afrika.

Der Shanta-Kumar-Ausschuss, der das Nahrungsverteilungsprogramm überprüfen soll, hat Regierungschef Narendra Modi in einem in diesem Jahr eingereichten Bericht nahegelegt, das PDS schrittweise auslaufen zu lassen und den Armen stattdessen Bargeld bereitzustellen. Experten sind davon überzeugt, dass dies sowohl der Regierung als auch den Konsumenten helfen wird. Denn die Weizen- und Reisspeicher Indiens sind nach den Ernten stets gut gefüllt.

Dadurch, dass die Nahrung nicht ihr eigentliches Ziel erreicht, müssen Millionen Menschen Hunger leiden. Studien zufolge kommen etwa 48 Prozent der Getreidelieferungen nicht an den Bestimmungsorten an.

Ökonomen wie Jean Drèze weisen allerdings darauf hin, dass die Armut in Indien signifikant zurückgehen könnte, würde das Verteilungssystem richtig funktionieren. Derzeit müssen etwa 23 Prozent der Bevölkerung mit weniger als 1,25 Dollar am Tag auskommen. Dies bedeutet, dass Millionen Inder am Rand des Hungertodes stehen. Laut UN-Daten steigt die Zahl der Armen im Land mit jedem Jahr weiter an.

"Nur ein System, das allen Menschen in Indien jederzeit Nahrung garantiert, ermöglicht inklusives Wachstum", sagt Sharma. "Eine hungrige Bevölkerung bringt wirtschaftliche Verluste". (Ende/IPS/ck/03.07.2015)


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http://www.ipsnews.net/2015/07/poor-bear-the-brunt-of-corruption-in-indias-food-distribution-system/

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IPS-Tagesdienst vom 3. Juli 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Juli 2015

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