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ASYL/1501: Appell an die Ampel-Regierung - Scheibchenweise Auflösung der EU als Raum des gemeinsamen Rechts stoppen (Pro Asyl)


Pro Asyl - Presseerklärung vom 7. November 2022

Appell an die Ampel-Regierung:
Scheibchenweise Auflösung der EU als Raum des gemeinsamen Rechts stoppen


Im Dezember 2022 soll vom Europäischen Rat eine Verordnung "zur Bewältigung von Situationen der Instrumentalisierung im Bereich Migration und Asyl" beschlossen werden. PRO ASYL warnt vor der Abschaffung des Rechts auf Asyl und der Auflösung der EU als Rechtsgemeinschaft.

Vor den entscheidenden Verhandlungsrunden auf EU-Ebene am 9. November richtet PRO ASYL einen eindringlichen Appell an die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien, sich eindeutig gegen die Auflösung der EU als Rechtsgemeinschaft zu stellen und die Instrumentalisierungsverordnung klipp und klar abzulehnen. PRO ASYL appelliert an Staatsministerin Reem Alabali-Radovan bei ihren Gesprächen am 8. November mit EU-Innenkommissarin Ylva Johansson und EU-Kommissionsvizepräsident Margaritis Schinas die Besorgnis zum Ausdruck zu bringen.

Um was geht es?

Im Dezember 2021 legte die Europäische Kommission einen Vorschlag für eine Verordnung [1] vor, die den EU-Mitgliedstaaten in Situationen der »Instrumentalisierung von Migranten« ermöglicht, von ihren Verpflichtungen nach dem EU-Asylrecht abzuweichen und den Zugang zum Recht auf Asyl auszusetzen. Dieser soll noch im Dezember 2022 vom Europäischen Rat verabschiedet werden. Auslöser war die Initiative des belarussischen Diktators Lukaschenko, der ab der zweiten Jahreshälfte 2021 durch Visaerleichterungen eine neue Fluchtroute nach Europa ermöglichte. Das bewerteten verschiedenen EU-Politiker*innen als »hybriden Angriff« und »Destabilisierungsversuch« der EU. Die Folge der Verordnung wäre, dass schutzsuchenden Menschen der Zugang zum Asylrecht versperrt wird, wenn man Autokraten wie Erdogan oder Lukaschenko oder sogar nichtstaatlichen Akteuren vorwirft, Schutzsuchende zum Erreichen politischer Ziele zu instrumentalisieren.

Bereits im Sommer 2021 hatte sich der Rat auf eine Screening-Verordnung geeinigt, die vorsieht, dass Schutzsuchenden während des Screenings als »nicht eingereist« gelten und sich nicht frei bewegen dürfen. Im Anschluss sollen sie - auch Kinder und besonders vulnerable Personengruppen - ein Asylgrenzverfahren durchlaufen, bei dem ebenfalls die »Fiktion der Nichteinreise« gilt und damit systematisch inhaftiert [2] werden - so sieht es zumindest der aktuelle Stand der Diskussion um die Asylverfahrensverordnung vor.

Was droht?

Solche scheibchenweise verabschiedeten Rechtsakte addieren sich zur Aufhebung des Zugangs zu einem fairen und rechtsstaatlichen Asylverfahren. Nach aktuellem Diskussionsstand im Rat könnte es sich im Falle einer »Instrumentalisierung« bei den Asylgrenzverfahren um bis zu fünf Monaten handeln, in denen die Menschen mit abgesenkten Unterbringungsstandards festgehalten werden. Hiervon wären selbst Kinder betroffen. In solchen Haftlagern sind katastrophale Bedingungen absehbar.

Das Recht, an der Grenze Asyl zu beantragen, kann eingeschränkt werden, indem Asylanträge nur an bestimmten Grenzübergängen gestellt werden können - egal ob diese tatsächlich erreichbar sind oder nicht. Sie führt nicht nur den Grundgedanken eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ab absurdum, indem sie es Mitgliedstaaten ermöglicht, aufgrund einer vermeintlichen Instrumentalisierung von grundlegenden Standards des europäischen Asylrechts abzuweichen. Diese durch die Verordnung bei Verabschiedung erlaubten Abweichungen sind zudem sehr besorgniserregend. Die Verzögerung der Registrierung von Asylsuchenden erhöht für die Betroffenen das Risiko, illegal wieder aus dem Land gebracht zu werden. Im Rat wird aktuell diskutiert, dass die Grenzverfahren bis zu 20 Wochen, also rund fünf Monaten, mit abgesenkten Unterbringungsstandards dauern können. Alle schutzsuchenden Menschen, die dann Asyl suchen, müssten in diese Verfahren. Selbst Kinder und andere vulnerable Menschen sollen bei einer "Instrumentalisierung" in die Grenzverfahren. Katastrophale Bedingungen sind bei solchen laxen Vorschriften absehbar.

Die EU-Kommission kommt rechtspopulistischen oder rechtsextremistisch dominierten Regierungen in Staaten wie Italien, Ungarn, Polen oder Griechenland entgegen und ist bereit das Fundament der EU als Raum der Freiheit und des Rechts aufzuweichen. Nationalstaatliche Egoismen drohen nun zum Leitprinzip der Rechtsetzung auf EU zu werden.

Klare deutsche Position in Brüssel notwendig

Aus Brüssel ist zu hören, dass bislang keine klar ablehnende deutsche Position im Rat zur Instrumentalisierungsverordnung wahrgenommen wird. Sie konterkariert damit geradezu die Bekenntnisse der Ampelkoalition in ihrem Koalitionsvertrag [3] »bessere Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren und bei der Integration in den EU-Staaten« sowie »die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden« zu wollen. Sie hatte vereinbart, dass Asylanträge von Menschen, die in der EU ankommen, inhaltlich geprüft werden müssen. PRO ASYL fordert von der Ampelregierung, eine klar ablehnende Positionierung in Brüssel zu vertreten. Manchmal ist es besser, zu bremsen und nicht voreilig neues Recht, das Unrecht schafft, zu beschließen. Die Regierung darf keine weitere Auflösung rechtsstaatlicher Standards zulassen.

Bereits im September hatten über 60 NGOs in Europa in einem Appell [4] sich klipp und klar gegen die Instrumentalisierungsverordnung gestellt.


Anmerkungen:
[1] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52021PC0890&from=EN
[2] https://www.proasyl.de/news/systematische-haft-an-den-aussengrenzen-bundesregierung-muss-dies-verhindern/
[3] https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf
[4] https://ecre.org/wp-content/uploads/2022/09/FINAL-Statement-Instrumentalisation-September-2022-DE-3.pdf

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Quelle:
Pro Asyl - Presseerklärung vom 7. November 2022
Postfach 160 624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: +49 069 - 24 23 14-0, Fax: +49 069 - 24 23 14 72
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 8. November 2022

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