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ASYL/666: Beschnittene Existenz, herabgesetzte Würde (Der Schlepper/Pro Asyl)


Der Schlepper - Sommer 2010 Nr. 51/52
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL

Beschnittene Existenz, herabgesetzte Würde.

Das Asylbewerberleistungsgesetz

Von Andrea Kothen


Februar 2010 rügte das Bundesverfassungsgericht die so genannten "Hartz-IV"-Regelleistungen. "Freihändig festgesetzt" worden seien sie, individuelle Problemlösungen fehlten und Kindern drohe der "Ausschluss von Lebenschancen", befand das höchste deutsche Gericht. Bundessozialministerin von der Leyen will das Gesetz nun nachbessern, viele erhoffen eine Erhöhung der Regelsätze.

Im Schatten der Hartz-IV-Debatte leben in Deutschland Ende 2008 rund 128.000 Flüchtlinge und Geduldete unterhalb dieser Armutsgrenze. Ihnen nützt das Urteil des Verfassungsgerichts erstmal nichts, denn ihre Lebenschancen wurden vor Gericht nicht verhandelt. Nach dem "Asylbewerberleistungsgesetz" (AsylbLG) erhalten sie Regelleistungen, die mehr als ein Drittel unter den verfassungswidrigen Hartz-IV- Leistungen liegen. Der Alltag ist geprägt von "Sachleistungen", einer ungenügenden Krankenversorgung, Lagerleben und von sozialem Ausschluss.

Familie B. floh vor acht Jahren aus Tschetschenien. Eltern und drei Kinder (11, 7 und 3 Jahre alt) leben gemeinsam in einem 20 qm-Zimmer. Die Gemeinschaftsküche geht vom Flur ab, die sanitären Einrichtungen reichen für die 50 Hausbewohner/ innen nicht aus. Zwei Mal in der Woche erhält die Familie ein Paket mit Lebensmitteln sowie Hygieneartikel und einen monatlichen Barbetrag von etwa je 40 Euro für Vater bzw. Mutter und je 20 Euro für die Kinder. Gegenüber der Unterkunft liegt das städtische Schwimmbad. Für einen Besuch dort haben die Mittel von Familie B. noch nie gereicht.

Seit Inkrafttreten des Asylbewerberleistungsgesetzes 1993 lautet seine politische Rechtfertigung: Die Minderleistungen seien nur für einen befristeten Zeitraum und nur für Menschen gedacht, die sich typischerweise nur vorübergehend in Deutschland aufhielten. Beträge, die auf Teilnahme an der Gesellschaft und auf Integration zielten, seien deshalb nicht vorgesehen. Diese Argumentation ist hochgradig porös:

Der Personenkreis derer, denen man einen nur vorübergehenden Aufenthalt bescheinigte, wurde mit den Jahren sukzessiv ausgeweitet. Ursprünglich begrenzt auf Asylsuchende betrifft das Gesetz inzwischen auch Geduldete und Menschen mit Aufenthaltserlaubnis. Auch die Befristung der Minderleistungen wurde zur ausgedehnten Zumutung: Anfangs war § 3 AsylbLG auf 12 Monate beschränkt. Danach, so der Gesetzgeber 1993, seien "...Bedürfnisse anzuerkennen, die auf eine stärkere Angleichung an die hiesigen Lebensverhältnisse und auf bessere soziale Integration gerichtet sind" (BT-Ds. 12/5008). 1997 wurde die Mindestbezugsdauer dieser Leistungen auf drei Jahre, 2007 auf vier Jahre ausgedehnt. Die Begründungen wurden dabei fast wortgleich wiederholt, nur die Zahl änderte sich: Zuletzt meinte man, einen Integrationsbedarf ab "einem Voraufenthalt von vier Jahren" (BT-Ds. 16/5065) erkennen zu können.


"Das Gericht hat ganz ausdrücklich auch gesagt: Hier geht es nicht nur um Geldleistungen, um das körperliche Existenzminimum, sondern es geht auch um Teilhabe, es geht um soziale Beziehungen, das gehört für das Gericht und für uns alle hier im Staat zum Existenzminimum dazu."

Bundessozialministerin Ursula von der Leyen am 9.02. 2010 im Heute Journal zum Hartz-IV-Urteil des BVerfG.


2008 entschied das Bundessozialgericht (BSG) dann aber, dass Betroffene erst dann ein Recht auf "Analogleistungen" in Höhe der Sozialhilfe haben, wenn sie die Minderleistungen tatsächlich vier Jahre lang bezogen haben (B 8/9b AY 1/07 R, U.v.17.6.2008):

Als Yakubu M. 1992 aus Zaire (heute DR Kongo) in Deutschland Asyl sucht, ist er 26 Jahre alt. In den folgenden Jahren gelingt es ihm immer wieder, die Erlaubnis für diverse Arbeitsstellen zu erhalten. Die meiste Zeit lebt er unabhängig von Sozialhilfe. Als er 2008 einen Antrag auf Unterstützung stellen muss, verweist ihn die Behörde auf abgesenkte Sozialleistungen nach § 3 AsylbLG. Seine Klage weist das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen ab: "Wer bisher - aus welchen Gründen auch immer - während seines langjährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik noch keine Sozialleistungen ... in Anspruch genommen hatte, wird nicht ... privilegiert ..." (L 11 AY 118/08 ER - B.v. 3.01.2009). 16 Jahre nach seiner Einreise holt Yakubu M. das aus Richtersicht Versäumte nach und fristet fortan mit Lebensmittelgutscheinen ein randständiges Dasein.

Ähnlich wie Yakubu M. geht es ehemals anerkannten Flüchtlingen, die nach einem Asyl-Widerruf ihr Aufenthaltsrecht verloren haben: Auch sie erhalten nach langem Aufenthalt plötzlich die abgesenkten Sachleistungen des AsylblG. Neugeborene Kinder werden ebenfalls nicht geschont: Selbst dann, wenn ihre Eltern die Vierjahres-Strafe einer ausgegrenzten Randexistenz schon abgegolten haben und höhere Sozialleistungen erhalten, werden ihnen bis zu ihrem vierten Geburtstag entsprechende Leistungen versagt. Und es geht noch böser: Wenn der Vorwurf des "Rechtsmissbrauchs" erhoben ist, sollen die Betroffenen die eingeschränkten AsylbLG-Leistungen gegebenenfalls lebenslänglich erhalten, meint das BSG. Die Leidtragenden dieser Praxis sind wieder in erster Linie Kinder:

Fabian S. (12) lebt mit seinen Geschwistern und seiner alleinerziehenden Mutter in einer Kleinstadt. Der Junge ist in Deutschland geboren, und die Familie hat eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis nach § 25 V AufenthG. Vor 15 Jahren soll die aus dem Kosovo geflohene Frau S. eine falsche Volkszugehörigkeit angegeben haben. Für das Aufenthaltsrecht der Familie spielt diese Frage schon längst keine Rolle mehr, für Fabian aber bedeutet es ein Leben auf dem Existenzniveau von § 3 AsylbLG: Im neuen Schuljahr erhalten hilfebedürftige Klassenkameraden 100 Euro für Bücher und Stifte. Fabian bekommt 25 Euro.


Mangelnde medizinische Versorgung mit fatalen Folgen

Rechtsanwalt Sascha Kellmann beschreibt, was das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in der Praxis bedeuten kann:

"Ich habe immer wieder damit zu tun, dass Flüchtlinge nicht die medizinische Versorgung erhalten, die sie dringend benötigen. Ich möchte das an einem alltäglichen Beispiel deutlich machen:

Der Flüchtling Saad I. kommt nach Deutschland und beantragt Asyl. Er hat mit ansehen müssen, wie seine Familie bei den bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben gekommen ist. Weil sein Asylantrag vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgelehnt wurde, hofft er auf Abschiebungsschutz beim Verwaltungsgericht.

Saad I. erhält nach dem AsylbLG Gutscheine und nur etwa 40,- EUR Bargeld. Der Tod seiner Familie und seine Erlebnisse quälen ihn, er leidet unter Albträumen und benötigt dringend psychotherapeutische Hilfe. Aber Saad I. kann nicht einfach zum Arzt gehen, denn er ist nicht krankenversichert. Er muss beim Sozialamt einen Antrag auf Arztkostenübernahme stellen. Diesen bewilligt das Amt aber nur bei schweren akuten Erkrankungen. Saads Albträume interessieren das Sozialamt nicht, psychische Erkrankungen seien chronisch. Für ihre Behandlung zahlt die Behörde nicht.

Im Asylverfahren wiederum weist inzwischen das Verwaltungsgericht darauf hin, dass ein Abschiebungsverbot für Saad I. nur in Betracht kommt, wenn er nachweisen kann, dass er dringend eine psychotherapeutische Behandlung braucht. Das Gericht wartet auf ein Attest, das Saad I. von einem Facharzt besorgen soll. Aber auch das kostet Geld. Geld, das Saad I. nicht hat. Weist das Gericht die Klage ab, muss er wieder dahin zurück, wo er mit ansehen musste, wie seine Familie ums Leben kam."


Mit dem Argument eines nur "vorübergehenden Aufenthalts" hat all das längst nichts mehr zu tun. Das AsylbLG betrifft heute zunehmend auch Menschen, die rechtmäßig, schon lange und auf unabsehbare Zeit in Deutschland leben. In der öffentlichen Armutsdebatte spielt das beschnittene Existenzminimum von Flüchtlingen kaum eine Rolle. Und so wurde quasi nebenbei ein weiterer Exzess möglich: Seit Inkrafttreten 1993 wurden die Leistungen des AsylbLG nicht ein einziges Mal an die Preisentwicklung angepasst. Erst im November 2009 haben die Länder eine Erhöhung der Beträge ausdrücklich abgelehnt. Jahr für Jahr sieht der Deutsche Bundestag tatenlos zu, wie Flüchtlinge tiefer in Armut und Elend versinken.

Eine Grenze könnte endlich das Bundesverfassungsgericht ziehen. Spezialisierte Rechtsanwälte wie Sascha Kellmann setzen Hoffnung in die von ihnen bearbeiteten Einzelfälle. Kellmann ist überzeugt: "Beim AsylbLG wurde genau das gemacht, was das Verfassungsgericht in Bezug auf Hartz - IV kritisiert hat: Abschläge ins Blaue hinein und ein willkürlich gekürztes Existenzminimum, das kaum mehr als das physische Überleben garantieren kann. Das Gesetz wird einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht standhalten."

In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Die LINKE erklärte die Bundesregierung nun auch, sie wolle die Auswirkungen des Hartz-IV-Urteils auf das AsylbLG prüfen (BT-Ds. 17/979).

Seit seiner Erfindung wurde das AsylbLG ständig verschärft. Die Würde des Menschen wurde dabei gehäutet wie eine Zwiebel, und immer behauptete man, der Rest reiche aus. Geflissentlich ignoriert wird, dass die betroffenen Menschen ihre Würde in vielerlei Hinsicht längst schmerz- und schamhaft verletzt sehen. Aus politischer Sicht kann man aus der Chronik fortschreitender Herabwürdigung nur einen Schluss ziehen: Das Asylbewerberleistungsgesetz gehört abgeschafft.


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Quelle:
Der Schlepper - Sommer 2010 Nr. 51/52, S. 6-8
Heft zum Tag des Flüchtlings 2010, PRO ASYL
http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/q_PUBLIKATIONEN/2010__ab_April_/TdF2010_Homepageversion.pdf
Herausgeber: PRO ASYL - Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
Postfach 160624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: 069/23 06 88, Telefax: 069/23 06 50
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. November 2010