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ASYL/712: In der asylrechtlichen Wüste (Der Schlepper/Pro Asyl)


Der Schlepper - Sommer 2011 Nr. 55/56
Heft zum Tag des Flüchtlings 2011, PRO ASYL

In der asylrechtlichen Wüste
Über die Zustände im griechisch-türkischen Grenzgebiet

Von Günter Burkhardt


Griechenland braucht Hilfe - Griechenland bekommt Hilfe«, formulierte der damalige Bundesinnenminister de Maizière vor dem Bundesverfassungsgericht am 28. Oktober 2010. Wenige Tage später beschließt die Bundesregierung, deutsche Bundespolizisten in das griechisch-türkische Grenzgebiet zu schicken. Zum ersten Mal in der Geschichte wird der Einsatz eines so genannten »Rapid Border Intervention Teams« europaweit beschlossen. 175 Spezialisten für die Grenzabschottung werden in die Evros-Region entsandt, darunter 40 deutsche Beamte mit sieben Patrouillenfahrzeugen und vier Wärmebildkameras.

Wie arbeitet Frontex an der Grenze? Was ist die Aufgabe? Und welche Auswirkungen hat dies für Flüchtlinge? Dies sind die Fragen, die uns leiten. Seit 2007 sind Karl Kopp, Europareferent von PRO ASYL und ich jährlich in Griechenland, gemeinsam mit griechischen Anwältinnen und Initiativen. Als erste Organisation haben wir zusammen mit der griechischen Rechtsanwaltsvereinigung Group of Lawyers im Jahr 2007 die Zustände skandalisiert und angeprangert. So sind wir auf einiges gefasst - doch das, was in der Evros-Region geschieht, übertrifft alles, was wir bislang erlebt und dokumentiert haben. Tom Koenigs, Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages hatte es erreicht, dass wir in die Gefängnisse in der griechisch-türkischen Grenzregion Evros können, die normalerweise für Journalisten, die Öffentlichkeit und Initiativen verschlossen bleiben.


Filakio: Ort des Grauens im Evros-Gebiet

Außerhalb jeder Ortschaft, mitten in einer Agrarlandschaft, umzäunt von Wachtürmen und Stacheldraht werden Flüchtlinge und illegalisierte Menschen eingepfercht in »Verschlägen«. Die lange Betonhalle ist in mehrere Zellen aufgeteilt. Gitterstäbe reichen rund vier Meter hoch bis unter die Decke. Als wir eintreten, blicken wir mit Entsetzen auf überfüllte Zellen. Dutzende Menschen, vor allem Kinder und Jugendliche, klammern sich bis unter die Decke an die Gitterstäbe. Ganz vorne steht eine Mutter mit einem Baby auf dem Arm. »Wir sind aus dem Irak, wir wollen nach Frankfurt. Unsere Verwandten sind dort aufgenommen worden«, ruft sie uns auf englisch entgegen, »bitte helft uns«. Doch was können wir tun? Es gibt dort keinen Zugang zu einem Rechtssystem. Die Flüchtlinge beginnen zu revoltieren, fordern Freiheit - und wir müssen erst einmal tatenlos wieder gehen. Dieses Erlebnis ist sicher eine der schlimmsten Erfahrungen, die wir in Griechenland je gemacht haben.


»Wir fallen in ein moralisches Loch«

Zurück zum Hauptquartier von Frontex in der griechischen Kleinstadt Oresteata. Viele Polizisten, auch die deutschen, sind dort stationiert. Wir sprechen sie in einem Café an. Sie stehen unter einem enormen psychischen Druck, es sprudelt förmlich aus ihnen heraus.

- »Was wir hier tun, hat mit Polizeiarbeit nichts zu tun.«

- »Das erinnert an die Zeit vor 70 Jahren.« »Wir fallen in ein moralisches Loch«, sagt einer der Polizisten. Wir fragen nach, was genau sie so empört. Sie griffen Migranten und Flüchtlinge auf und lieferten sie im Gefängnis in Filakio ab. Und was geschieht dann mit den Flüchtlingen, fragen wir sie, was wissen sie?

Im 5-Minuten-Takt werde »gescreent«. So der beschönigende Begriff für das behördliche Verfahren zur Identitätsfeststellung. Aus unserer Sicht wird schlicht kurzer Prozess gemacht: In Deutschland brauche man für die Feststellung von Identitäten Stunden, hier genügten Minuten, erzählen uns die deutschen Beamten. Und die Ergebnisse sind für die Betroffenen fatal. Niemand fragt, warum sie kommen, ob sie Schutz brauchen. Sie werden als Illegale inhaftiert, weggesperrt und festgehalten. Und dies betrifft vor allem Menschen aus dem Irak, dem Iran und Syrien. Denn sie stammen aus Staaten, die eine Landgrenze zur Türkei haben. Die Hoffnung der griechischen Behörden: Die Türkei wird sie zurücknehmen, denn es besteht für die Türkei die Möglichkeit, sie in die angrenzenden Herkunftsländer weiter abzuschieben.

Rund 47.000 Menschen sind in 2010 in dieser griechischen Region angekommen, in den ersten 10 Monaten haben nur 37 Asyl beantragt. Aber warum so wenige? Viele wollen Schutz in Deutschland und anderen EU-Staaten suchen. Dort liegt die Chance auf Asyl zwischen 30 und 50 %, gerade Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Irak und dem Iran haben reelle Chancen auf Schutz. Die Anerkennungsquote in Griechenland dagegen liegt nahe 0 %. Trotzdem verwundert es, dass Tausende in Zurückweisungshaft sind und angeblich niemand Asyl beantragt.

»Wenn wir das Asylverfahren durchführen, werdet ihr sechs Monate in Haft warten. Wenn ihr es in Athen macht, werdet ihr in wenigen Tagen freigelassen.« Dies versprechen Polizisten zwei Flüchtlingen aus dem Iran in Filakio im August 2010. Sie legen den Betroffenen ein Schreiben in griechischer Sprache vor, dessen Inhalt sie nicht verstehen. Als Rechtsanwältin Tzeferakou und Rechtsanwältin Strachini am 25. August 2010 die beiden Flüchtlinge treffen, die sich entsprechend dem Rat der Polizisten verhalten haben, stellen sie fest, dass der Inhalt des in griechischer Sprache verfassten Dokumentes folgendes besagt: »Ich wünsche nicht, einen Asylantrag zu stellen und werde in meinem Heimatland nicht verfolgt, sondern bin aus wirtschaftlichen Gründen von dort ausgereist. « Ein Asylantrag wurde nie registriert, auf die Inhaftierung soll die Zurückschiebung in die Türkei folgen, ohne dass die Betroffenen darüber in irgendeiner Weise informiert würden.

Es ist ein Kampf David gegen Goliath in einer menschenrechtlichen Wüste. Keine Zivilgesellschaft, keine Initiativgruppen, keine Rechtsanwälte vor Ort. PRO ASYL unterstützt Anwälte aus Athen, die versuchen zu helfen. In einigen wenigen Einzelfällen gelingt es immer wieder, das Schlimmste zu verhindern - aber insgesamt ist die Situation für Flüchtlinge hoffnungslos. Ein Tropfen auf den heißen Stein - aber besser als nichts. Und nur über die konkrete Einzelfallarbeit treten die Missstände ans Tageslicht. Ein besonderer Schwerpunkt sind Flüchtlinge aus dem Iran, dem Irak und Afghanistan. Diese werden mit zum Teil drastischen Falschbehauptungen daran gehindert, Schutz zu beantragen.

Das beschriebene Beispiel hat System. Mehrere Fälle haben die Anwältinnen Tzeferakou und Strachini im August/September 2010 aufgedeckt. Auch bei unserer kurzen Recherche treffen wir an verschiedenen Orten auf Flüchtlinge, denen falsche Identitäten zugeordnet wurden und die als angeblich illegale Einwanderer inhaftiert wurden.

Viele sind menschenunwürdig eingepfercht, ohne zu wissen warum, und haben immer die bevorstehende Zurückschiebung in die Türkei vor Augen: Das sind die Missstände, denen die Flüchtlinge ausgesetzt sind und daran wirken deutsche Polizisten mit. Sie sind eingebunden in ein System, in dem Betroffene keine Chance haben, gegen die Staatsgewalt vorzugehen. Es ist ein organisierter Bruch der Menschenrechte und deutsche Polizisten werden gezwungen, dabei mitzumachen.


Fernsehteams und der Öffentlichkeit wird ein anderes Bild gezeichnet

Wir schützen die Grenzen vor Illegalen, das ist unser Auftrag, so beschreibt Frontex die Situation. Die Grenze wird aufgerüstet mit Blaulicht, mit Wärmebildkameras, deren Bilder 5 bis10 Kilometer in die Türkei hineinreichen. Scheinwerferfallen, Jagd auf Menschen mit Hightechmaterial - all dies ist Praxis in den Monaten November bis März. Stolz verkündet Frontex am 3.3.2011 das Ergebnis der Intervention: Die Zahl der »irregulären Migranten« habe sich um 76 % reduziert. 11.809 Personen seien beim Versuch, illegal die Grenze zu überqueren, entdeckt worden. Im Oktober hätten im Durchschnitt 245 versucht, die Grenze zu überwinden, nun seien es im Durchschnitt nur noch 58 pro Tag.

Doch dies ist den Verantwortlichen nicht genug. Das neue Vorhaben der griechischen Regierung: Der Bau eines Grenzzauns, der verhindern soll, dass Flüchtlinge über die Türkei nach Europa kommen.

Flüchtlinge sollen Europa überhaupt nicht mehr erreichen können, darauf zielt die Strategie von Frontex, darauf zielt die Strategie der Innenminister der EU-Staaten. Bereits weit vor unseren Grenzen wird aufgerüstet. Offiziell werden »Berater« entsendet. Sie sollen in Staaten außerhalb der Europäischen Union operieren, wie beispielsweise in der Türkei, aber auch in den nordafrikanischen Ländern. Jedes Mittel ist recht, keine Kosten werden gescheut, damit Zuflucht Suchende auf keinen Fall in Europa Schutz finden können. De Maizières vor dem Bundesverfassungsgericht formulierte Hilfe für Griechenland heißt in Wahrheit: Mauern gegen Flüchtlinge.


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Quelle:
Der Schlepper - Sommer 2011 Nr. 55/56, S. 10-11
Heft zum Tag des Flüchtlings 2011, PRO ASYL - Mai 2011
http://www.proasyl.de/fileadmin/proasyl/fm_redakteure/Broschueren_pdf/Heft_TdF_2011_Homepageversion.pdf
Herausgeber: PRO ASYL - Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge
Postfach 160624, 60069 Frankfurt/M.
Telefon: 069/23 06 88, Telefax: 069/23 06 50
E-Mail: proasyl@proasyl.de
Internet: www.proasyl.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2011