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ASYL/828: Lage von Flüchtlingen in Ungarn verschärft sich zunehmend (Pro Asyl)


Pro Asyl - Pressemitteilung vom 25. Oktober 2013

Ungarn: Lage von Flüchtlingen verschärft sich zunehmend
PRO ASYL und bordermonitoring.eu legen Bericht zur Situation von Flüchtlingen in Ungarn vor

Überstellungen von Flüchtlingen nach Ungarn müssen umgehend gestoppt werden



Ein heute erschienener Bericht von PRO ASYL und bordermonitoring.eu zur Situation von Flüchtlingen in Ungarn zeigt, dass die systemischen Mängel im ungarischen Asyl- und Aufnahmesystem fortbestehen bzw. sich sogar verschärft haben. Der Bericht, der vorliegende Rechercheergebnisse von 2012 aktualisiert, kritisiert insbesondere rechtsstaatlich äußerst fragwürdige Inhaftierungen und die Gefahr von Misshandlungen durch Wachpersonal. Zudem zeigen die neuen Recherchen folgende Mängel im ungarischen Asylsystem auf:

Obdachlosigkeit und mangelnde medizinische Versorgung: Hiervon sind selbst anerkannte Flüchtlinge betroffen. Das belegen Berichte von Flüchtlingen, die nach sechs Monaten aus dem sogenannten "Pre-Integration Camp" in Bicske in die Obdachlosigkeit entlassen werden sollten. Die finanzielle Unterstützung im Anschluss an die Unterbringung in Bicske reicht im Regelfall nicht aus, um davon eine Wohnung und den Lebensunterhalt zu finanzieren. Die Auszahlung der Unterstützungsleistungen ist an zumeist unerfüllbare Bedingungen geknüpft. Ohne festen Wohnsitz besteht kein Zugang zu ausreichender medizinischer Versorgung. Der Zugang zu Obdachlosenunterkünften ist für Flüchtlinge und insbesondere für Familien mit Kindern so gut wie ausgeschlossen. Obdachlose werden in Ungarn unter der Regierung Viktor Orbáns kriminalisiert: Das Nächtigen im Freien kann mit einer Geld- oder Freiheitsstrafe geahndet werden.

Rechtswidrige Inhaftierungen: Im Zuge einer vorgeblichen Anpassung der ungarischen Gesetze an die EU-Aufnahmerichtlinie traten am 1. Juli 2013 Gesetzesänderungen in Kraft, die weit gefasste Haftgründe vorsehen. Diese können auf nahezu jeden Asylsuchenden angewendet werden. So reicht etwa schon die "Behinderung des Asylverfahrens" als Haftgrund aus. Besonders bedroht von diesem Haftgrund werden voraussichtlich Dublin-Rückkehrer ohne Aufenthaltstitel sein, da ihnen vorgeworfen wird, ihr Asylverfahren durch ihre Weiterwanderung behindert zu haben.

Fehlende Rechtsmittel: Individuelle Rechtsmittel gegen die Inhaftierung sind nicht vorgesehen. Eine richterliche Überprüfung der Haft erfolgt ausschließlich in 60-Tage-Intervallen. In den Jahren 2011 und 2012 wurde bei drei von insgesamt 5.000 Entscheidungen die Haft durch die zuständigen Gerichte beendet, was jüngst auch die UN Working Group on Arbitrary Detention kritisierte.

Prekäre Unterbringung: Die Zahl der Asylanträge ist von rund 2.200 im Jahr 2012 auf fast 12.000 allein im ersten Halbjahr 2013 gestiegen. Schätzungsweise 7.000 Asylsuchende sind in jüngster Zeit aufgrund der untragbaren Bedingungen aus Ungarn in andere EU-Länder weitergewandert, was voraussichtlich zu einem massiven Anstieg der Dublin-Rücküberstellungsgesuche an Ungarn führen wird. Wenn diese Überstellungen tatsächlich durchgeführt werden sollten, dürfte dies aller Voraussicht nach das ohnehin schon prekäre System der Flüchtlingsaufnahme in Ungarn endgültig zum Kollabieren bringen. Schon jetzt sind die Kapazitäten der Unterbringungseinrichtungen ausgeschöpft, Flüchtlinge wurden nur notdürftig in Zelten und Turnhallen untergebracht.

Mangelnder Schutz vor rassistisch motivierter Gewalt: An mehreren Orten mobilisierte die neofaschistische Partei Jobbik gegen Asylsuchende. Unter anderem veranstaltete die Partei im Mai diesen Jahres in Debrecen einen Fackelmarsch, gefordert wurde die Schließung der dortigen Erstaufnahmeeinrichtung. Auch an anderen Orten gab es massive rassistische Proteste.

Aufgrund dieser Entwicklungen fordern PRO ASYL und bordermonitoring.eu, dass Dublin-Abschiebungen nach Ungarn umgehend ausgesetzt werden. Das Bundesministerium des Innern muss das zuständige Bundesamt anweisen, in diesen Fällen vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen, so dass die Betroffenen in Deutschland ein Asylverfahren erhalten.

PRO ASYL und bordermonitoring.eu fordern zudem die Europäische Kommission auf, die systemischen Mängel und die daraus resultierenden alltäglichen Menschenrechtsverletzungen gegenüber Asylsuchenden in Ungarn zur Kenntnis zu nehmen und diesbezüglich ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn einzuleiten. Die EU muss die ungarische Regierung unter Druck setzen, ihr Verhalten gegenüber Flüchtlingen grundlegend zu verändern.


Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit - Aktualisierung und Ergänzung des Berichts vom März 2012:
http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/q_PUBLIKATIONEN/2013/Ungarn_Update_Okober_2013.pdf

Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit - Bericht einer einjährigen Recherche bis Februar 2012:
http://www.proasyl.de/fileadmin/fm-dam/q_PUBLIKATIONEN/2012/Ungarnbericht_3_2012_Web.pdf

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Quelle:
Pro Asyl - Pressemitteilung vom 25. Oktober 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Oktober 2013