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AKTUELL/008: Wahlverweigerung als politische Botschaft (Leibniz)


Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft 2/2009

Wahlverweigerung als politische Botschaft
Die sinkende Beteiligung an Abstimmungen liegt nicht am Desinteresse an der Politik

Von Jörg Schönenborn


Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus - so steht es in Artikel 20 des Grundgesetzes. Die Bürger wählen, Politik handelt. Genauer betrachtet haben wir es eher mit einem Dreiecks-Verhältnis zu tun: Was die Politik diskutiert und entscheidet, wird von den Medien transportiert, lange bevor die Menschen die Folgen zu spüren bekommen. Die Medien berichten, vermitteln, bewerten. Die Bürger in ihrer Funktion als Leser, User, Hörer, Zuschauer rezipieren, bilden sich eine Meinung - und treffen dann am Wahltag ihre Entscheidung, mit der sie das künftige politische Handeln wiederum beeinflussen. Das ist eigentlich der Kreislauf der politischen Willensbildung.


Das Problem ist: Dieser Kreislauf ist gestört. Denn immer mehr Menschen spielen an einer entscheidenden Stelle nicht mit: Sie verweigern ihre Stimme. Noch nie sind in Deutschland so wenige Menschen wählen gegangen. Politiker und Wähler stecken in einer tiefen Beziehungskrise. Seit der Bundestagswahl 2005 gab es elf Landtagswahlen. Zehnmal war das Ergebnis ein Negativrekord bei der Beteiligung, das heißt zehnmal sind im jeweiligen Bundesland so wenige Menschen zur Wahl gegangen wie nie zuvor. Einzige Ausnahme war die Landtagswahl in Bayern im letzten Herbst, bei der die Beteiligung auf niedrigem Niveau leicht anstieg: von 57,1 auf 58,1 Prozent. Aber das hatte vor allem mit den Freien Wählern zu tun, die erstmals als landespolitische Kraft eine größere Wählerzahl binden und damit auch Nichtwähler an die Urne holen konnten.

Warum gehen immer weniger Menschen wählen? Nicht aus Desinteresse an der Politik. Für viele politisch interessierte und durchaus informierte Bürger ist die Wahlverweigerung eine politische Botschaft. Sie lautet: Ich finde keine Partei, der ich meine Stimme geben möchte. Es ist schwer, die Motive von Nichtwählern genau zu erforschen. Bei Telefonumfragen machen wir immer wieder die Erfahrung, dass viele, die am Ende nicht zur Wahl gehen, in der Befragung nicht dazu stehen. Es gibt immer noch so etwas wie gesellschaftlich erwünschtes Verhalten, von dem Antworten in Umfragen häufig geprägt sind. Und trotzdem filtern wir in unseren Vorwahlumfragen bei Landtagswahlen jedes Mal eine Gruppe von rund 200 bekennenden Nichtwählern heraus, die wir nach ihren Motiven befragen.

Vor der hessischen Landtagswahl im Januar sagten 72 Prozent von ihnen: "Früher konnte ich mich immer für eine Partei entscheiden, aber im Moment fällt mir das schwer." 65 Prozent waren der Meinung: "Die Politik verfolgt doch nur ihre eigenen Interessen, nach der Wahl sind ihr die Wähler egal." Aber nur 18 Prozent sagten: "Politik interessiert mich nicht." Selbst wenn man die methodischen Unschärfen berücksichtigt, ist die Botschaft deutlich: Wir haben es mit einer politischen Marktstörung zu tun. Die auf dem Parteienmarkt vorhandenen Politikangebote werden weniger nachgefragt als früher. Und die Ursachen liegen nicht in sinkender Nachfrage (also fehlendem Interesse), sondern im unzeitgemäßen Angebot.

Opfer nicht nur der sinkenden Wahlbeteiligung, sondern auch der schleichenden Veränderung unseres Parteiensystems sind in erster Linie die Volksparteien, die seit 30 Jahren kontinuierlich an Bindekraft verlieren. In den 70er Jahren haben bei den beiden Bundestagswahlen 91 Prozent SPD oder CDU/CSU gewählt. Wenn man die damals hohe Wahlbeteiligung einrechnet, waren es 83 Prozent der deutschen Erwachsenen, die der Union oder der SPD ihre Stimme gegeben haben. Im September 2005 kamen beide zusammen nicht mal mehr auf 70 Prozent der Stimmen - auf die Bevölkerung umgerechnet waren es noch 54 Prozent. Also von 83 auf 54 Prozent in etwas mehr als einer Generation. Und offensichtlich hat sich dieser Prozess seit der letzten Bundestagswahl noch beschleunigt.

Wir haben in den Achtzigern die Entwicklung von den Drei- zu den Vier-Parteien-Parlamenten erlebt, als sich die Grünen bundesweit etablierten. Mit der Wende kam die Linke als fünfte Partei hinzu. Und je weiter die Wahlbeteiligung sinkt, desto leichter wird es für diese oder weitere Parteien, in die Parlamente einzuziehen. Wir erleben die Destabilisierung des politischen Machtgefüges.

Wenn man in einem Rechenmodell herausfiltert, welches die wichtigsten Wählerströme seit der Bundestagswahl waren, kommt Folgendes heraus: Von der letzten Bundestagswahl zu den heutigen bundesweiten Umfragen verliert die SPD über drei Millionen Wähler ins Lager der Nichtwähler. Die Union verliert fast zwei Millionen. Erst an dritter Stelle kommt der Wählerstrom von der SPD zur Linken mit rund einer Million. In früheren Wahlkämpfen ist es vor allem der SPD gelungen, viele dieser "Standby-Wähler" zurückzuholen. Deshalb ist auch der Ausgang der nächsten Bundestagswahl noch völlig offen.


Jörg Schönenborn ist Fernsehchefredakteur beim Westdeutschen Rundfunk.


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Quelle:
Leibniz - Journal der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 2/2009, Seite 3
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2009