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AUSSEN/605: Abschied vom INF-Vertrag (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 22. Oktober 2018
german-foreign-policy.com

Abschied vom INF-Vertrag


WASHINGTON/BERLIN - Deutsche Regierungspolitiker warnen vor einem Ausstieg der Vereinigten Staaten aus dem INF-Vertrag. US-Präsident Donald Trump hatte diesen Schritt am Wochenende angekündigt. Der INF-Vertrag, der am 8. Dezember 1987 abgeschlossen wurde, verpflichtete die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion zur Vernichtung sämtlicher landgestützter nuklearer Mittelstreckenraketen und untersagte ihnen die erneute Beschaffung des Waffentyps. Kündigt Washington das Abkommen, droht Europa ein weiterer nuklearer Rüstungswettlauf. Experten kritisieren, für Trumps Behauptung, Moskau habe den INF-Vertrag gebrochen, lägen keine Beweise vor; umgekehrt seien Russlands Vorwürfe, Washington verstoße mit seiner Raketenabwehr in Osteuropa seinerseits gegen das Abrüstungsabkommen, "schwer zu entkräften". Führende Berliner Militärpolitiker warnen, eine etwaige Debatte über die erneute Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Europa könne nicht nur "gewaltigen öffentlichen Protest" auslösen; sie verschiebe auch das militärische Kräfteverhältnis zu deutschen Ungunsten.

"Keine belastbaren Informationen"

Die Vereinigten Staaten hatten mit der Behauptung, Russland verletze den INF-Vertrag, bereits im Jahr 2014 Druck auf Moskau ausgeübt. Gegenstand sind Raketen mit der russischen Bezeichnung 9M729, die von der NATO unter dem Namen SSC-8 geführt werden. Washington erklärt, die Raketen hätten eine Reichweite von 2.600 Kilometern und seien für den Abschuss von Land vorgesehen. Erlaubt sind Mittelstreckenraketen laut dem INF-Vertrag jedoch nur dann, wenn sie von Flugzeugen, Schiffen oder U-Booten abgefeuert werden. Die US-Administration hat keinerlei sichere Beweise für ihre Behauptung vorgebracht. Schon im vergangenen Dezember bestätigte ein deutscher Luftwaffenoberst im Generalstabsdienst, der am Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik forscht, "belastbare und überzeugende Informationen" wie Fotos oder Videos, die die Vorwürfe belegen würden, seien nicht bekannt. Man könne daher nur vermuten, dass die USA sich auf "menschliche Quellen", also auf Geheimdienstangaben, stützten.[1] Damit hätte die Behauptung, Russland verstieße gegen den INF-Vertrag, dieselbe Qualität wie die frühere Behauptung, der Irak verfüge über Massenvernichtungswaffen. Noch am Wochenende hieß es selbst in der prinzipiell transatlantisch orientierten Frankfurter Allgemeinen Zeitung, bis heute seien "überprüfbare Informationen" über den Raketentyp 9M729 bzw. SSC-8 "Mangelware".[2]

"Schwer zu entkräften"

Umgekehrt gehen russische Stellen davon aus, dass die Vereinigten Staaten ihrerseits gegen den INF-Vertrag verstoßen. Gegenstand des Vorwurfs ist in diesem Fall die NATO-Raketenabwehr ("Aegis ashore"), die auf einem Stützpunkt im Rumänien bereits einsatzbereit ist und auf einem zweiten Stützpunkt in Polen aufgebaut wird. Das dort eingebaute Abschusssystem MK-41 werde von der US-Marine zum Abschuss - zulässiger - seegestützter Mittelstreckenraketen genutzt, konstatieren Experten; zwei Aegis-Schiffe hätten zum Beispiel am 7. April 2017 den syrischen Luftwaffenstützpunkt Al Schairat mit - freilich nicht nuklear bestückten - Mittelstreckenraketen zerstört. Mit Blick auf "Aegis ashore" urteilt sogar die vom Kanzleramt finanzierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Moskaus Vorwürfe, "es handele sich um die nicht vertragskonforme Dislozierung eines Systems zum Einsatz landgestützter Marschflugkörper", seien "aus technischer Sicht schwer zu entkräften".[3] Washington behauptet seinerseits, die "Aegis Ashore"-Systeme sollten nur Abwehrraketen abschießen, verstießen also keinesfalls gegen den INF-Vertrag. "Um die gegenseitigen Vorwürfe auszuräumen, wären wechselseitige Informationen und Inspektionen notwendig", stellte im März die Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) fest: "Dazu müsste das 2001 beendete INF-Inspektionsregime reaktiviert und modifiziert werden."[4] Das wäre nach Washingtons angekündigtem Austritt aus dem INF-Vertrag endgültig unmöglich.

"Plausible Einschätzung"

Die Bundesregierung hat sich bislang in der NATO den US-Vorwürfen angeschlossen. Am 15. Dezember 2017 bescheinigte das Kriegsbündnis in einer Erklärung den Vereinigten Staaten, ihre INF-Verpflichtungen zu erfüllen, forderte Russland hingegen auf, "aktiv" in einen "technischen Dialog" mit den USA über die 9M729- bzw. SSC-8-Raketen zu treten.[5] In ihrer Gipfelerklärung vom 11. Juli 2018 bekräftigten die NATO-Staaten diese Forderung - und fügten hinzu, weil sie bislang keine "glaubwürdige Antwort" auf ihre Vorwürfe erhalten hätten, hielten sie es für die "plausibelste Einschätzung", "dass Russland den [INF-]Vertrag verletzt".[6] Implizit hat das Bündnis damit eingeräumt, dass es keine Beweise für die US-Behauptungen gibt, die Washington nun vorschützt, um den INF-Vertrag zu verlassen. Die Vereinigten Staaten wiederum haben erst kürzlich sogar mit einem Angriff auf die angeblichen russischen Mittelstreckensysteme gedroht. Zwar ziehe man eine diplomatische Beilegung des Streits vor, erklärte Kay Bailey Hutchison, die US-Botschafterin bei der NATO; komme es nicht dazu, dann sei man allerdings auch zu einem Militärschlag bereit.[7] Erst nach umfassenden internationalen Protesten hat Hutchison ihre Äußerung relativiert.

Alarmstimmung in Berlin

Berlin hat bislang zwar selbst die militärischen Spannungen gegenüber Russland kräftig angeheizt (german-foreign-policy.com berichtete [8]), gibt sich nach Trumps Ankündigung, den INF-Vertrag zu verlassen, allerdings alarmiert. Der Vertrag sei "eine wichtige Säule der europäischen Sicherheitsarchitektur", erklärt Außenminister Heiko Maas. "Der Vertrag muss unbedingt erhalten bleiben, um einen nuklearen Wettlauf in Europa zu verhindern", fordert Roderich Kiesewetter, CDU/CSU-Obmann im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags.[9] Niels Annen, Staatsminister im Auswärtigen Amt, stuft die Ankündigung des US-Präsidenten als eine "verheerende Entscheidung" ein: "Europa muss jetzt eine neue Aufrüstung mit Mittelstreckenraketen verhindern."[10]

Außer Kontrolle

Tatsächlich hatten der Präsident und der Vizepräsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) bereits im vergangenen Jahr vor einem US-Ausstieg aus dem INF-Vertrag gewarnt. Die "einfache Argumentation", bei Bedarf erneut US-Mittelstreckenraketen auf dem europäischen Kontinent zu stationieren, rufe "in Europa Erinnerung an schwierige innenpolitische Debatten in den 1980er Jahren hervor", schrieben Karl-Heinz Kamp und Wolfgang Rudischhauser in einem Arbeitspapier der BAKS. Der Vorschlag verkenne "den gewaltigen öffentlichen Protest, mit dem zu rechnen wäre".[11] Hinzu komme aber vor allem, dass man in den 1980er Jahren wenigstens habe hoffen können, "die taktischen Kernwaffen in Europa an die interkontinentalen Potentiale der USA 'anzukoppeln'". "Eine solche Logik" sei heute - nicht zuletzt mit Blick auf die Politik der Trump- Administration - "nicht mehr gegeben". In der Tat könnte Washington Mittelstreckenraketen in Zukunft sogar in osteuropäischen Staaten stationieren; damit verlöre Berlin jegliche Chance, bestimmenden Einfluss auf einen etwaigen nuklearen Rüstungswettlauf in Europa zu erhalten. Die von den USA unabhängige Weltpolitik, die Deutschland anstrebt, stünde in Frage - zu einer Zeit, zu der Berlin sogar über die Beschaffung eigener Nuklearwaffen, einer "deutschen Bombe", diskutiert (german-foreign-policy.com berichtete [12]).

Gegen China

Experten halten es allerdings für möglich, dass die Ankündigung des US-Präsidenten, den INF-Vertrag zu kündigen, nicht nur gegen Russland, sondern vor allem gegen die Volksrepublik China gerichtet ist. german-foreign-policy.com berichtet in Kürze.


Anmerkungen:

[1] Marco Seliger: Die nächste Nachrüstungsdebatte? Frankfurter Allgemeine Zeitung 06.12.2017.

[2] Trumps Sicherheitsberater will Abrüstungsvertrag mit Russland kündigen. faz.net 20.10.2018.

[3] Oliver Meier: Zuspitzung im Streit um den INF-Vertrag. SWP-Aktuell 32. Berlin, Mai 2017.

[4] Wolfgang Richter: Erneuerung der nuklearen Abschreckung. SWP-Aktuell 15. Berlin, März 2018.

[5] Statement by the North Atlantic Council on the Intermediate-Range Nuclear Forces (INF) Treaty. nato.int 15.12.2017.

[6] Brussels Summit Declaration. nato.int 11.07.2018.

[7] Amerikanische Diplomatin droht Russland mit Militärschlag. faz.net 02.10.2018.

[8] S. dazu Immer aggressiver
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7566/
und Die Zeit der Großmanöver
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7732/

[9] Konrad Schuller: Berlin warnt vor nuklearem Wettrüsten. faz.net 21.10.2018.

[10] Trump will atomares Abrüstungsabkommen kündigen. tagesspiegel.de 21.10.2018.

[11] Karl-Heinz Kamp, Wolfgang Rudischhauser: Der INF-Vertrag als Kernelement der nuklearen Rüstungskontrolle: Zum Untergang verdammt? BAKS-Arbeitspapier Sicherheitspolitik Nr. 30/2017.

[12] S. dazu Die deutsche Bombe
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7755/

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2018

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