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AUSSEN/625: Machtkämpfe um Afghanistan (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 16. März 2020
german-foreign-policy.com

Machtkämpfe um Afghanistan

Deutschland setzt Abschiebungen nach Afghanistan trotz Krieg und Coronakrise fort. Mehr zivile Opfer bei westlichen Luftangriffen am Hindukusch denn je.


BERLIN/KABUL - Mitten in der Coronakrise setzt die Bundesrepublik ihre Sammelabschiebungen nach Afghanistan fort. In der vergangenen Woche wurden 39 Afghanen aus Deutschland zwangsweise nach Kabul geflogen, obwohl das Land weiterhin vom Krieg erschüttert wird und nun auch noch unter der Covid-19-Pandemie leidet; andere Staaten haben ihre Grenzen mittlerweile für die Einreise aus Deutschland geschlossen, da die Bundesrepublik eines der Länder mit den meisten Infektionen weltweit ist. Gleichzeitig hat der Bundestag den Bundeswehreinsatz am Hindukusch um ein weiteres Jahr bis Ende März 2021 verlängert; er ist inzwischen in das 19. Jahr gegangen, ohne dass auch nur irgendeine Aussicht auf einen militärischen Sieg gegeben wäre. Die Zahl ziviler Todesopfer bei Luftangriffen der afghanischen Streitkräfte und ihrer westlichen Verbündeten hat im vergangenen Jahr mit 700 einen neuen Höchstwert erreicht. Dabei bereiten die Vereinigten Staaten, da sie sich auch militärisch auf den Machtkampf gegen China konzentrieren wollen, inzwischen den Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan vor.

Truppenverschiebungen

Der Truppenabzug aus Afghanistan ist in dem Abkommen festgehalten, das die Vereinigten Staaten am 29. Februar in Qatars Hauptstadt Doha mit den Taliban geschlossen haben. Die Regierung in Kabul war an den Verhandlungen darüber lediglich indirekt beteiligt, und auch das nicht in allen Punkten. Die Vereinbarung sieht unter anderem vor, dass die USA die Zahl ihrer Soldaten am Hindukusch bis Juli von aktuell 12.000 bis 13.000 auf 8.600 reduzieren; zudem soll die Anzahl der US-Militärstützpunkte im Land von derzeit rund 20 um fünf reduziert werden. Im Gegenzug haben sich die Taliban verpflichtet, in Zukunft die Nutzung Afghanistans als Basis für die Planung von Terrorangriffen auf die Vereinigten Staaten und auf deren Verbündete zu verhindern. Halten sie das ein, dann werden die westlichen Staaten ihre Truppen bis Mitte kommenden Jahres komplett aus Afghanistan heimholen.[1] Washington arbeitet darauf schon seit Jahren hin, um sich in Zukunft auch militärisch stärker auf den Machtkampf gegen China konzentrieren zu können (german-foreign-policy.com berichtete [2]).

Regierung, Gegenregierung, Taliban

Freilich ist trotz des Doha-Abkommens ungewiss, ob und, wenn ja, unter welchen Umständen der Abzug bis zum geplanten Zeitpunkt auch wirklich durchgeführt werden kann. In der Vereinbarung ist nicht zuletzt vorgesehen, dass die Taliban noch in diesem Monat Verhandlungen mit der Regierung in Kabul über eine dauerhafte Friedenslösung für Afghanistan aufnehmen. Bereits der Beginn der Verhandlungen verzögert sich, da die Erfüllung einer Vorbedingung in Frage steht, die Washington den Taliban zugesagt hatte, ohne sie vorab mit der Regierung in Kabul abzusprechen: der Austausch von Gefangenen. Präsident Ashraf Ghani hatte sich zunächst geweigert, dem Schritt zuzustimmen, um ein wichtiges Druckmittel in der Hand zu behalten und zudem zu verhindern, dass freigelassene Taliban den Kampf wieder aufnehmen. Auf US-Druck musste er nachgeben. Allerdings zögert Kabul die Freilassung der ersten 100 von insgesamt rund 5.000 Taliban, die am Samstag stattfinden sollte, noch hinaus.[3] Hinzu kommen unverminderte Machtkämpfe in Kabul. Präsident Ghani hat die Präsidentenwahl am 28. September nur sehr knapp unter Einbeziehung Hunderttausender umstrittener Wahlzettel gewonnen. Vergangene Woche ließ sich nun sein Rivale Abdullah Abdullah zum Gegenpräsidenten erklären. Der Ausgang des Machtkampfs ist ebenso unklar wie seine Folgen für die Gespräche mit den Taliban, sollten sie zustandekommen.

Als Mittler Einfluss gewinnen

Berlin ist bemüht, sich in den erhofften Verhandlungen zwischen Kabul und den Taliban als Mittler zu positionieren und sich damit einen gewissen Einfluss auf die weitere Entwicklung zu sichern. Berichten zufolge hatten sich deutsche Diplomaten und Geheimdienstler bereits bei der Anbahnung der Gespräche zwischen den Taliban und Washington nützlich gemacht.[4] Anfang vergangenen Jahres bemühte sich die Bundesregierung, die Verhandlungen nach Deutschland zu holen -in Form einer, wie es unter Bezug auf die gleichnamige Zusammenkunft von Ende 2001 hieß, "weiteren Petersberger Konferenz unter Einschluss der Taliban".[5] In den darauf folgenden Monaten traf der Sonderbeauftragte der Bundesregierung für Afghanistan und Pakistan, Markus Potzel, mehrmals Vertreter der Taliban, um deren Verhandlungen mit den USA und der Regierung in Kabul zu fördern, aber auch, um - wie berichtet wurde - zu verhindern, dass Washington die Gespräche ganz im Alleingang führe.[6] Potzel war nicht zuletzt daran beteiligt, ein Treffen von Vertretern der afghanischen Regierung und der Taliban im Juli 2019 in Doha zu organisieren, das als bedeutender Meilenstein auf dem schwierigen Verhandlungsweg galt.[7] Zuletzt hat Außenminister Heiko Maas Anfang März im Bundestag erklärt, Berlin sei "bereit, Initiativen zur Vertrauensbildung und zur Vorbereitung der innerafghanischen Verhandlungen ... mit zu organisieren".[8]

19 Jahre Krieg

Parallel verlängert Berlin den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Einen entsprechenden Beschluss hat der Bundestag am Freitag gefällt - aufgrund der Covid-19-Pandemie etwas früher als ursprünglich geplant. Die Bundeswehr darf nun mit bis zu 1.300 Soldaten bis zum 31. März 2021 am Hindukusch bleiben. Aktuell sind rund 1.200 deutsche Militärs in Afghanistan stationiert. Der Einsatz ist mittlerweile in sein 19. Jahr gegangen, ohne dass auch nur die geringste Aussicht auf einen Sieg besteht; tatsächlich kontrolliert die Regierung in Kabul kaum mehr als die Hälfte der Distrikte des Landes.[9] Die Zahl der zivilen Todesopfer ist weiterhin hoch; laut Angaben der UNO kamen bei Kampfhandlungen und bei Anschlägen im vergangenen Jahr 3.403 Zivilisten zu Tode, womit sich die offizielle Zahl ziviler Todesopfer, seit die UNO im Jahr 2009 begonnen hat, darüber systematisch Statistiken zu führen, auf mehr als 35.000 erhöht hat. Im vergangenen Jahr stieg dabei die Zahl der Zivilisten, die Luftangriffen der afghanischen Streitkräfte und ihrer westlichen Verbündeten zum Opfer fielen, auf 700; die Gesamtzahl der Opfer - Tote und Verwundete - lag mit 1.045 höher denn je zuvor. Laut UNO gingen 72 Prozent von ihnen auf das Konto der westlichen Mächte.[10]

Sammelabschiebung Nr. 33

Ungeachtet der katastrophalen Lage im Land haben die deutschen Behörden in der vergangenen Woche erneut eine Sammelabschiebung nach Afghanistan durchgeführt -dies übrigens auch, obwohl die Regierung in Kabul wegen der Covid-19-Pandemie soeben die Schließung sämtlicher Bildungseinrichtungen im Land verfügt hat und Deutschland eines der Länder mit den höchsten Infektionsraten weltweit ist, weshalb zahlreiche Staaten inzwischen ihre Grenzen für die Einreise von Menschen aus Deutschland gesperrt haben. Das gilt freilich nicht bei Abschiebungen nach Afghanistan. Auf dem Flughafen in Kabul trafen am Donnerstag 39 Afghanen ein, die laut offiziellen Angaben von 94 Beamten deutscher Repressionsbehörden begleitet wurden. Damit ist die Zahl der Sammelabschiebungen aus Deutschland in das vom Krieg erschütterte Land seit Dezember 2016 auf 33 gestiegen; die Zahl der Abgeschobenen liegt nun bei 907.[11]


Anmerkungen:

[1] Lindsay Maizland: U.S.-Taliban Peace Deal: What to Know. cfr.org 02.03.2020.

[2] S. dazu Der transpazifische Kalte Krieg
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8012/

[3] Verzögerung bei Gefangenenaustausch mit Taliban. derstandard.de 14.03.2020.

[4] Hans Monath: Wie die Bundesregierung die Verhandlungen in Afghanistan begleiten will. tagesspiegel.de 08.03.2020.

[5] Hans Monath: Deutschland will Taliban zu Friedenskonferenz einladen. tagesspiegel.de 12.02.2019.

[6] Rupam Jain, Sabine Siebold: Germany in push to resurrect Afghan talks with Taliban. reuters.com 26.05.2019.

[7] Die USA verhandeln mit der Taliban - steht Afghanistan kurz vor dem Frieden? stern.de 01.08.2019.

[8] Rede von Außenminister Heiko Maas vor dem Deutschen Bundestag zum Antrag der Bundesregierung: "Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der NATO-Mission RESOLUTE SUPPORT in Afghanistan". 04.03.2020.

[9] S. dazu Deutschlands Interventionsbilanz (III)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8128/

[10] United Nations Mission in Afghanistan, United Nations Human Rights Office of the High Commissioner: Afghanistan. Protection of Civilians in Armed Conflict. 2019. Kabul, February 2020.

[11] Erneut Abschiebeflug aus Deutschland in Afghanistan eingetroffen. idowa.de 12.03.2020.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. März 2020

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