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DISKURS/091: "Eine neu zum Leben erweckte Sozialdemokratie" (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2010

"Eine neu zum Leben erweckte Sozialdemokratie"
Gespräch mit Tony Judt

Von Thomas Meyer


Am Rande der im Nachhinein als Washington Square-Konsens betitelten Konferenz in New York sprach Thomas Meyer mit Tony Judt, einem der führenden Historiker und Intellektuellen unserer Zeit. Ausgehend von einem Blick auf die historischen Entstehungsbedingungen des Wohlfahrtsstaates, diskutiert Judt die Chancen und Schwierigkeiten sozialer Demokratie in den USA und Europa - und plädiert für die Fähigkeit zur Erinnerung in der Politik.


NG/FH: Sie haben im Oktober 2009 einen weltweit beachteten Vortrag zum Thema "Was ist lebendig und was ist tot in der sozialen Demokratie" an der New York-Universität gehalten. In diesem Zusammenhang haben Sie auch den überraschenden Begriff "Social Democracy of fear" - soziale Demokratie aus Furcht - geprägt. Was genau ist die Botschaft dieses ungewöhnlichen Begriffs?

TONY JUDT: Ich wollte damit eine Analogie zu Judith Shklar's Gebrauch des Ausdrucks "Liberalismus aus Furcht" schaffen. Die Idee ist, dass wir die vergangenen 200 Jahre damit verbracht haben, unter fortschrittlicher Politik ausschließlich radikale Brüche mit der Vergangenheit und Sprünge in die Zukunft zu verstehen.

Das war nicht immer der Fall - die radikalen Meinungen der früh-modernen Protestierer (zum Beispiel in der Englischen Revolution oder tatsächlich viele der amerikanischen und französischen Revolutionäre) waren stark verbunden mit einem Glauben an bessere Vergangenheiten, die verraten oder vergessen wurden. Meiner Ansicht nach haben wir heute nicht nur ein Erbe erhaltungswürdiger sozial-demokratischer Gesetzgebung und Ideen, sondern auch gute Gründe zu befürchten, dass diese in der Zukunft noch mehr vergessen oder zerpflückt werden, ja dass wir ein 21. Jahrhundert voll mit Bedrohungen, Ängsten und Unsicherheiten betreten ohne eine Sprache oder Geschichte der Entgegnung. Ich glaube, dass die Sozialdemokratie, die ich mir wünsche, damit anfangen müsste zu erkennen, was wir schützen und erhalten müssen, anstatt sich ausschließlich auf die Suche nach neuen radikalen Ideen zu konzentrieren.

NG/FH: Es ist gerade das Verhältnis zur Idee und zur Praxis einer sozialen Demokratie, das Europa und die Vereinigten Staaten von Amerika unterscheidet. Gibt es in dieser Hinsicht eine Art Wettbewerb in der Differenz zwischen beiden? Wie entwickelt sich überhaupt das Verhältnis zwischen den USA und Europa in der gegenwärtigen Situation?

JUDT: Ich habe keine Zweifel daran, dass sich die USA von ihrer Fokussierung auf Europa weg bewegt. Warum nicht? Europa ist keine Bedrohung für Amerika, es steht kurzfristig betrachtet weniger in einem konkurrierenden Wettbewerb als etwa China (oder in jeweils unterschiedlicher Weise auch Kanada und Mexiko), und die USA kann sich darauf verlassen, dass Europa in den meisten Fragen im Einklang mit ihr steht. Auf der anderen Seite gibt die abstoßende Inkompetenz (besonders schlimm im Fall von Sarkozy, Merkel und Brown) der Elite der europäischen Außenpolitik und ihrer politischen Wählerschaft, Washington einen guten Grund anzunehmen, dass Europa nicht gemeinschaftlich handeln kann, sogar in seinem eigenen besten Interesse. Warum also Zeit damit verschwenden.

In diesem Sinne ähnelt das Verhältnis zwischen Obama und Europa sehr viel mehr dem Verhältnis von Bush zu Europa, als die Europäer glauben mögen. Deutschland hat noch Bedeutung, wenn auch nur wegen der Beziehungen zu Russland. Spanien verfügt noch über einen kleinen Nutzwert für den Umgang mit Südamerika. Großbritannien ist eine bemitleidenswerte Kopie von all jenem, was heutzutage in den USA falsch läuft. Demnach ist noch ein gewisses gemeinsames Interesse vorhanden (zum Beispiel im Bereich der finanziellen Regulierung). Aber das war es dann auch schon.

NG/FH: In Ihrem kürzlich auf deutsch erschienenen Buch Das vergessene 20. Jahrhundert behandeln Sie u.a. auch die Entstehung der europäischen Sozialstaaten und deren besondere Blüte in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein wichtiges Kapitel enthält die Warnung, dass die Demokratie selbst und der gesellschaftliche Zusammenhalt gefährdet würden, wenn der Sozialstaat nicht mehr ernst genommen wird. Was waren die historischen Gründe für die Entstehung ausgebauter Wohlfahrtsstaaten überall in Europa?

JUDT: Offensichtlich sind die langfristigen Überlegungen von Bismarck in Deutschland, Disraeli in England und einiger anderer ebenso ein Teil der Geschichte wie die Gewohnheit der hohen Staatsausgaben, die sich im Ersten Weltkrieg herausgebildet hatte und dann weiter gepflegt wurde. Doch meiner Ansicht nach ist der ausschlaggebende Faktor die Verbindung von Wirtschaftskrise, Faschismus, (und in wesentlich geringerem Grad) Kommunismus, Krieg - und die Furcht davor, dass diese wiederkehrt. Der zeitliche Verlauf des großen Sprungs (nach 1945) bestätigt dies. Die Einbindung der Mittelklasse zur Unterstützung der Demokratie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg allgemein als notwendig empfunden. Andererseits glaube ich nicht, dass Ideologie an sich damit viel zu tun hatte - Christdemokraten und sogar Konservative haben eine wichtige Rolle beim Aufbau des Wohlfahrtsstaates gespielt.

NG/FH: Sind nach Ihrer Beobachtung diese Gründe für die Entstehung der europäischen Sozialstaaten Geschichte oder sind sie noch immer virulent, so dass das Vergessen ihrer grundlegenden Bedeutung für die europäischen Demokratien die politische Stabilität, die seit 65 Jahren andauert, wieder in Frage stellen würde?

JUDT: Beides. Natürlich, geschichtlich betrachtet sind sie Vergangenheit. Aber in politischer Hinsicht ist es wahrscheinlich, dass wir einigen davon in den kommenden Jahrzehnten wieder begegnen werden: Unter anderem weil die heutigen Risiken der Globalisierung einige der Pathologien reproduzieren, die 1914 hervortraten. Der große Unterschied besteht natürlich darin, dass wir heute jegliches Vertrauen verloren haben in den öffentlichen Sektor, in das Steuersystem, in Politiker oder politische Parteien, die im Sinne unseres Kollektivs handeln sollen, um solchen Herausforderungen entgegen zu treten. Die Linke 1945 und danach war diesbezüglich glücklicher mit ihrem Erbe. Das ist unser Problem.

NG/FH: Die europäischen Demokratien basieren also auf dem sozialstaatlichen Kompromiss. Warum hatten die USA für die Stabilität und Akzeptanz ihrer Demokratie einen solchen historischen Kompromiss nicht nötig? Oder trügt hier der Schein?

JUDT: In den 60er Jahren war der viel näher als es uns bewusst ist. In der Tat, die Kombination der Sozialgesetzgebung Franklin D. Roosevelts mit der kulturellen und sozialen Gesetzgebung Lyndon B. Johnsons ist beinahe eine Kopie vieler europäischer Errungenschaften. Doch was in den späten 60er Jahren nicht erreicht wurde, konnte auch später nicht erreicht werden. Dies, so scheint mir, sollte teilweise der sehr erfolgreichen Rückzugstaktik der Interessenten zugeschrieben werden, aber teilweise auch speziell einem amerikanischen Misstrauen gegenüber zentral gesteuerten Maßnahmen im sozialen Bereich. Zur Erinnerung: Die Sozial- und Krankenversicherung - heutzutage extrem populär - wurde anfangs als jüdisch-kommunistischer Angriff zur Untergrabung amerikanischer Selbstgenügsamkeit betrachtet. Also gibt es einen kulturellen - man möchte fast sagen geografischen - Exzeptionalismus, der gegen die Vereinheitlichung auf sozialpolitischer Ebene arbeitet. Es ging und geht nicht darum, ob die USA einen universellen Wohlfahrtsstaat brauchen. Sie brauchen ihn angesichts ihrer chronischen Ungleichheit und großen Unterschichten wirklich dringlicher als die meisten europäischen Länder. Die Frage ist, warum das politisch so schwierig ist.

NG/FH: Die Parteien der Linken, die in Europa in erster Linie Anwälte des Erhalts und der Weiterentwicklung der sozialen Demokratie sind, befinden sich auf breiter Front in der Defensive. Welche Gründe spielen dabei vor allem eine Rolle? Ich vermute, dass auch der Zynismus der Massenmedien eine wichtige Rolle spielt, vor allem der neubürgerlichen Journalisten, die vielen "linken" Themen und Projekten keine Chance geben.

JUDT: Auch wenn das nicht für den Großteil gilt: Ironischerweise, weil sie verknöchert sind und in der Sprache und Vorstellung einer früheren Ära (siehe Griechenland, Frankreich) feststecken; weil sie zu schnell und zu enthusiastisch auf den Zug der post-sozialistischen, marktorientierten Sprache aufgesprungen sind. Der Raum zwischen den beiden wird nicht gefüllt. Aber ich denke diese Schwächen sind kein Geheimnis: Ihre Erklärung, warum originelle und einfühlsame Politiker Wahlen nicht gewinnen, scheint mir die beste zu sein. Ich würde nur noch hinzufügen, dass es eine Art Vertrauensmangel unter den Linken gibt, der die Leute davon abhält, sie zu unterstützen (ich schließe die aus, die immer noch an die Revolution glauben...). Abschließend würde ich sagen, dass die Neigung, Probleme mit Reden und "Wörtern" zu lösen, auch ein Teil der Erklärung ist. "Respekt" zu ihrem Programm hinzuzufügen oder "Innovation und Gerechtigkeit" zu ihrer Agenda, scheint mir einer Einladung zur ironischen Verachtung gleichzukommen.

NG/FH: Besonders auffällig erscheint gegenwärtig der Widerspruch zwischen der Notwendigkeit, die soziale Demokratie in Europa zu schützen, zu modernisieren und weiter zu entwickeln und - auf der anderen Seite - der Schwäche der Parteien von Mitte-Links, die dies in erster Linie zu leisten haben. Was sollten, was könnten diese nach Ihrer Meinung tun, um wieder in die Offensive zu gelangen und einen breiteren gesellschaftlichen Rückhalt für ihre politischen Projekte zu gewinnen?

JUDT: Ich besitze keine Wundermittel. Ich glaube, wir brauchen eine doppelte Strategie: das ernsthaft-intellektuelle Gespräch, insbesondere mit einer jüngeren Generation über die Arten von Politik und Sprache - und theoretische Rechtfertigungen, die eine neu zum Leben erweckte Sozialdemokratie verkörpern sollten. Das ist das Geschäft von Leuten wie uns. Und dann muss es politische Handlung geben - vielleicht sogar auf der Ebene neuer politischer Parteien -, so dass wir Vehikel haben, durch die wir diese Ideen mit Enthusiasmus und Glaubwürdigkeit vermitteln. Bevor Letzteres erreicht ist, ist die Linke in Frankreich, England, vielleicht Deutschland, sicher in Griechenland und Italien einem kontinuierlichen Verfall ausgesetzt, auch wenn sie gelegentlich die ein oder andere Wahl gewinnt.

NG/FH: Sie beklagen in Ihrem aktuellen Buch, dass der sozialen Demokratie in der Gegenwart vor allem eine überzeugende Sprache fehlt, um ihre Projekte angemessen und wirkungsvoll zu benennen und politisch zu vermitteln, als wichtigen Teil der Mobilisierungsschwäche dieser Parteien. Was sind die Begriffe, die nach Ihrer Meinung für eine klarere und offensivere Sprache des Projektes der sozialen Demokratie heute in Betracht kommen?

JUDT: Ich habe keinen großen Glauben an Begriffe um ihrer selbst Willen - erinnern Sie sich an meine Warnungen vor "Wörtern". Aber offenkundig brauchen wir den Mut zu sagen, was wir über Gleichheit (oder genauer Ungleichheit), Ungerechtigkeit und Freiheiten denken. Mit Freiheiten meine ich ganz bestimmte, die bedeutsam sind wie Sprache, Mobilität, Schreiben etc., die momentan - etwa in Großbritannien - gefährdet sind. Es muss also auch etwas weniger peinlich sein, über Ethik zu sprechen (anstatt Moral den Priestern und rechtsgerichteten Wichtigtuern zu überlassen): Eine ethische Sicht auf das, was eine gute Gesellschaft ausmacht, und was ein legitimer Weg ist, dies zu verfolgen und was nicht, waren zentral für fortschrittliche Politik. Wir müssen es wieder entdecken.

(A. d. Englischen von Jana Kittelmann.)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2010, S. 57-60
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Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Juli 2010