Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → FAKTEN

DISKURS/093: Soziale Sicherheit und Soziale Demokratie (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2010

Soziale Sicherheit und Soziale Demokratie

Von Christian Krell


Sicherheit ist nicht sexy, klingt irgendwie konservativ, nach Bedrohungen, nach unfreundlichen Ämtern, nach Verantwortung und Verpflichtungen - und vielleicht auch ein bisschen nach Wolfgang Schäuble. Doch: Ohne Sicherheit keine Soziale Demokratie.


Soziale Sicherheit ist entscheidend für Soziale Demokratie. Sie ist nicht irgendein Ziel in irgendeinem Politikfeld, sondern konstitutiv für die Soziale Demokratie. Die Idee Sozialer Demokratie ist ohne das Streben nach sozialer Sicherheit und einem tatsächlichen Mindestmaß an sozialer Sicherheit nicht denkbar.

Warum? Soziale Demokratie war und ist zunächst eine demokratische Bewegung. Sie will Demokratie verwirklichen. Wer aber Demokratie - also gleiche Rechte auf Freiheit und gesellschaftliche und politische Mitbestimmung - verwirklichen will, der muss auch gleiche Chancen der Teilhabe, gleiche Würde und gleiche Möglichkeiten der Selbstbestimmung gewährleisten. Gleichheit in Würde, Respekt und Selbstbestimmung sind aber nicht natur- oder gottgegeben. Im Gegenteil: Die "skandalöse Lotterie der Natur" (Rawls) begründet unterschiedliche Begabungen und Talente und gesellschaftliche Faktoren führen zu Ungleichheiten und Unsicherheiten.

An dieser Stelle setzt soziale Sicherheit ein. Denn nur, wer über ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit - etwa die Abwesenheit von Hunger und Not und die Absicherung vor elementaren Lebensrisiken - verfügt, wird sich auch gleichberechtigt in der Demokratie einbringen und ein selbstbestimmtes Leben führen können. Neben materiellen Gütern wie Nahrung oder Wohnung gibt es freilich weitere Voraussetzungen für Demokratie, beispielsweise Bildung und Information.

Diese Bedingungen und Voraussetzungen für Demokratie sind nicht für jeden und jede gegeben, sondern müssen immer wieder neu gesichert werden. Es wird deutlich: Echte Demokratie ist ohne soziale Sicherheit, unter anderem im Sozialstaat organisiert, nicht möglich.

Angesichts dieses fundamentalen Zusammenhangs zwischen Demokratie und sozialer Absicherung ist es nicht überraschend, dass die Geschichte der SPD bzw. der demokratischen Arbeitsbewegung maßgeblich vom Streben nach sozialer Sicherheit geprägt ist. Schon die Arbeiterverbrüderung Stephan Borns behandelte in ihren 1848 verabschiedeten Statuten neben Forderungen nach Demokratie vor allem Fragen der sozialen Absicherung, zum Teil organisiert in der "Selbsthilfe der Arbeiter", zum Teil als "Hilfe des Staates".

Noch deutlicher wird der enge Zusammenhang zwischen Demokratie und sozialer Absicherung auf dem "Vereinstag der Deutschen Arbeitervereine" 1868 formuliert: "Die politische Freiheit ist die unentbehrliche Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen. Die soziale Frage ist mithin untrennbar von der politischen (Frage, CK), ihre Lösung durch diese bedingt und nur möglich im demokratischen Staat."

Vor diesem Hintergrund ging die Bismarck'sche Sozialgesetzgebung den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zwar nicht weit genug. Mit der Praxis der Absicherung von Lebensrisiken durch staatliche Zwangsversicherungen konnte sich die Sozialdemokratie aber spätestens um 1900 aussöhnen. Mehr und mehr hat die Sozialdemokratie den Staat als das entscheidende Instrument begriffen, mit dem soziale Sicherheit gewährleistet werden kann.

Systematisch durchdacht und logisch begründet wurde der Zusammenhang von Demokratie und sozialer Sicherheit in der Weimarer Republik vor allem durch den Juristen und Staatsrechtler Hermann Heller. Er hat die Überführung des bürgerlichen oder liberalen Rechtsstaats in einen sozialen Rechtsstaat gefordert. Das aktuelle Verständnis Sozialer Demokratie als gleiche Freiheit im doppelten Sinne geht auch auf ihn zurück: Soziale Demokratie ist die gleichberechtigte Verwirklichung negativer, formal abwehrender Freiheitsrechte (wie des Rechts auf freie Meinungsäußerung) und positiver Freiheitsrechte (wie des Rechts auf ein Mindestmaß materieller Absicherung, des Rechts auf Arbeit oder Bildung).

Wichtig war dabei immer, dass soziale Sicherheit mit einem Rechtsanspruch verbunden ist. Heller hat in diesem Zusammenhang von der "Ausdehnung des materiellen Rechtsstaatsgedankens auf die Arbeits- und Güterordnung" gesprochen. Soziale Sicherheit kann - wenn es sein muss - von jedem nicht nur eingefordert, sondern sogar eingeklagt werden. Im Unterschied zu liberalen oder karitativen Vorstellungen von Armenfürsorge, die Hilfe oft an Bedingungen wie das Bekenntnis zum christlichen Glauben knüpfen oder zwischen "deserving and undeserving poor" unterscheiden, fordert die Soziale Demokratie vorbehaltlos soziale Sicherheit für jeden, unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Religion. Das ist für die demokratische Idee Sozialer Demokratie entscheidend, denn nur so werden bedingungslos - für jeden und jede - wesentliche Voraussetzungen von Demokratie garantiert.

Dabei ist klar, dass es eine perfekte soziale Sicherheit nicht geben kann und wohl auch nie gegeben hat. Wenn heute bestimmte historische Epochen als Zeiten glückseliger und allumfassender sozialer Sicherheit wahrgenommen werden, dann handelt es sich dabei um eine zwar romantische und ziemlich schöne, aber dennoch falsche Verklärung. Auch der Sozialstaat der 1970er Jahre war beispielsweise - etwa aus der Perspektive der Geschlechtergerechtigkeit - alles andere als ideal.


Diskriminierung der sozialen Sicherheit

Wie wichtig Vorstellungen sozialer Sicherheit für das Selbstverständnis der SPD sind, zeigt sich immer dann besonders deutlich, wenn sie umstritten sind. Ab der zweiten Hälfte der 1990er Jahre schien es nicht mehr populär zu sein, über soziale Sicherheit nachzudenken. Der neoliberale Diskurs betonte die Eigenverantwortung - "Jeder ist seines Glückes Schmied" - und mit den Dynamiken der New Economy schien ein goldenes Zeitalter anzubrechen. Soziale Verantwortung wurde - so ein Großteil der veröffentlichten Meinung in diesen Tagen - nur noch von kleinkarierten Krämerseelen und "Modernisierungsverlierern" angemahnt. Herfried Münkler hat in kritischer Auseinandersetzung mit diesem Zeitgeist treffend von der Wahrnehmung "wohlfahrtsstaatlich organisierter Solidaritätszumutungen" gesprochen.

Unter dem Eindruck dieses Diskurses und im Angesicht tatsächlicher Herausforderungen - Strukturwandel in Wirtschaft und Arbeit, demografischer und sozialer Wandel, Globalisierung etc. - versuchte die SPD eine Neubestimmung ihres Verständnisses von sozialer Sicherheit. Auf Parteitagen wurden Leitanträge zum Thema "Sicherheit im Wandel" verabschiedet. Gerhard Schröder stellte im Bundestag ein von der Ministerialbürokratie zusammengestelltes Maßnahmenbündel als "Agenda 2010" vor. Die SPD war in ihrem Innersten erschüttert. Und sie ist es immer noch. Auch heute - im Jahr 2010, sieben Jahre nach dem Entwurf der Agenda 2010 - hat diese die SPD nicht losgelassen. Wenn in Ortsvereinen oder Unterbezirken der aktuelle Zustand der SPD diskutiert wird, dauert es nicht lange, bis die Agenda 2010 ins Gespräch kommt. Man mag darin übertriebene Vergangenheitsbewältigung oder Rückwärtsgewandtheit erkennen. Aber nachvollziehbar ist die anhaltende Bedeutung der Agenda-Debatten durchaus: Schließlich war die in Wahlen dokumentierte Zustimmung zur SPD nach der Agenda nie wieder so hoch wie vor ihrer Verkündung.

Wie auch immer diese Debatten zu bewerten sind, eine fortschrittliche politische Strömung wie die SPD muss immer die Zukunft in den Blick nehmen. Entsprechend müssen Konzepte sozialer Sicherheit immer wieder neu gefunden und neu gedacht werden. Das oben beschriebene Ziel - die Voraussetzungen zu Freiheit und Demokratie durch soziale Sicherheit zu schaffen - ist zweifellos bleibend. Aber genau so wenig wie Gesellschaften still stehen, können Instrumente sozialer Absicherung still stehen. Gerade in modernen und hoch dynamischen Gesellschaften entstehen immer wieder neue Ungerechtigkeiten, neue Risiken und neue Herausforderungen.

Exemplarisch sollen hier drei besonders wichtige Fragen genannt werden, die die konzeptionellen Grundlagen, die Legitimität und die praktische Realisierung sozialer Sicherheit betreffen:

Erstens: Vorstellungen von Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit sind aufs Engste verknüpft. Dabei finden sich im Sozialstaat höchst unterschiedliche Gerechtigkeitsvorstellungen wieder: Der Gedanke der Bedarfsgerechtigkeit prägt beispielsweise überwiegend das Gesundheitssystem, im Rentensystem gilt überwiegend die Leistungsgerechtigkeit. Auch zwischen Parteien sind Gerechtigkeitsvorstellungen umstritten: Die FDP betont eher die Vorstellung von Leistungsgerechtigkeit, progressive Strömungen diskutieren wieder verstärkt Vorstellungen von Gleichheit. Entsprechend stellt sich die Frage: Welche Vorstellung von Gerechtigkeit sollen der Idee sozialer Sicherheit in welchem Bereich zu Grunde liegen?

Zweitens: Von sozialer Unsicherheit sind nicht nur diejenigen betroffen, die sie materiell erfahren (reale Deprivation). Auch die gefühlte Deprivation, also die Wahrnehmung von sozialer Unsicherheit, ohne dass es bisher real zu weniger Sicherheit gekommen ist, ist als Phänomen ernst zu nehmen, denn sie kann die Legitimität des Sozialstaates erheblich gefährden. Wenn ich mich nicht mehr sicher fühle, will ich auch kein System unterstützen, das Sicherheit (für wen auch immer) organisiert. Entsprechend stellt sich die Frage: Wie kann in modernen und hochdynamischen Gesellschaften reale und gefühlte Sicherheit glaubwürdig vermittelt werden?

Drittens: Der Sozialstaat ist im nationalen Rahmen entstanden und wirkt in ihm. Mit welchen Instrumenten und auf welcher Ebene kann soziale Sicherheit gewährleistet werden, wenn die nationalstaatlichen Handlungsoptionen in der Globalisierung unter Druck geraten?

Heute kommt es gerade für die Sozialdemokratie darauf an, diese Fragen in den Blick zu nehmen und ihren Anspruch auf soziale Sicherheit als Voraussetzung für Demokratie und Selbstverwirklichung immer wieder neu zu durchdenken und neue Antworten und neue Ideen zu entwickeln.

Denn: Soziale Sicherheit hat eine Ketten sprengende Kraft. Sie löst aus Unmündigkeit und Abhängigkeit, sie schafft Voraussetzungen für demokratische Teilhabe, für ökonomische Dynamik, für gesellschaftlichen Wandel und für ein gutes, selbstbestimmtes Leben. Und so verstanden ist Sicherheit verdammt attraktiv.


Christian Krell (* 1977) ist Leiter der Akademie für Soziale Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung und Lehrbeauftragter der Universität Siegen.
Christian.Krell@fes.de


*


Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2010, S. 41-43
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53
Telefax: 030/26 935-92 38
ng-fh@fes.de
www.ng-fh.de

Die NG/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2
und 7+8 im Januar bzw. Juli als Doppelheft erscheinen.
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2011